Von einer tatsächlich
erlebten Begebenheit, die so drollig und in einigen Teilen sogar wahr ist, daß ich
sie mir nicht auszudenken kaum getraut hätte
Ehrlich
gesagt: Wir flachsen immer ein bißchen herum, wenn mich Leander mit dem Auto
abholt. Weibergeschichten, große Weltpolitik (oder was wir davon halten), Witze
und Schwänke aus der sogenannten guten alten Zeit. Zumindest ich kann da von
allem reichlich berichten. Wird behauptet.
Wenn alles gutgeht,
geschieht das einmal in der Woche. Dann fahren wir gemeinsam zum Hallenfußball
in die Nachbarstadt. Manchmal fährt er,
manchmal fahre ich; und wenn genügend
Leute zusammenkommen, sitzt auch noch ein dritter, selten vierter Sportler mit
im Auto. Was mich nun betrifft: Ich habe mit Fußball spielen schon angefangen,
bevor ich laufen konnte. Wahlweise auch ohne Ball und Gegner, wird gemunkelt. Und
bin jetzt, nach fast einem Vierteljahrhundert Dabeisein in dieser Gruppe, deren
dienstältester Balltreter – und der einzig verbliebene Tintenakrobat aus der
vormaligen Journalisten-Gruppe. Vielleicht gut so. Einer muß die Geschichten ja
aufschreiben und hin und wieder mal ein Bild knipsen. (Damit wir uns nach
Ablauf weiterer 20 Jahre erneut an der guten alten Zeit ergötzen können.) Zum
Beispiel der Szene, als ein Mitspieler mir noch im Liegen die Telefonnummer einer
Frau zuflüstern wollte. Er kam aber leider nur bis etwa zur vorletzten Stelle,
dann ging ihm der Atem endgültig aus, die Augen hatte er vorher bereits
geschlossen. Das war, weil ihm der Notarzt gerade eine stramme
Betäubungsinjektion gegeben hatte und die Rettungssanitäter ihn dann flugs abtransportierten.
Und das wiederum war, nachdem er in der letzten Minute nochmal kräftig
ausholend gegen den Ball hatte treten wollen, aber in einer schwungvollen
Drehbewegung an der Schuhspitze eines Gegners hängenblieb und im gleichen Moment
mit einem erstickten Überschrei zu Boden sackte. Und mit exakt nach hinten
gedrehtem Fuß.
Die
Telefonnummer sollte übrigens nur dazu dienen, daß wir jener umgehend Bescheid
geben konnten. Nicht, was Sie vielleicht denken.
Leander ist
umgekehrt der jüngste Neuzugang: ein Ballkumpel hat ihn vor einigen Jahren mitgebracht,
als dringend Mitspieler gesucht wurden. Das war nun fast unentwegt so. Unser
„Stammkader“ betrug bestenfalls und optimistisch besehen 8 Leute. Mit mehr
hätten wir in der kleinen Halle nicht spielen können, mit weniger als 6 aber
auch kaum! Allenfalls noch zu fünft, wenn sich Zweie besonders austoben
wollten. (Der einzige indes, der das regelmäßig wollte, war ich.) Sobald also
einer schwächelte und vielleicht noch einer fremdterminlich ausfiel, drohte Sportausfall.
Es gab Halbjahre, da zahlten wir überwiegend für eine leere Hallenzeit statt
anständigem Kickern. Mithin gab es eine enorme Fluktuation, gerade bei den dauernd
gesuchten Ersatzspielern. Wer hat schon Lust, dauerhaft Lückenbüßer zu sein und
nur bedarfsweise einzuspringen? Wie im richtigen Leben also, ebenso bei
Liebeleien.
Da ich mich
umgekehrt auch schon bei vielen solch gepflegter Bolztreffs in ganz Deutschland
rumgetrieben habe und mal hier und mal dort als Reservespieler auflief, kann
ich sagen: Das Problem besteht bei allen Ballermännern, weltweit. Mindestens.
Ich
schweife unzulässig ab. Leander also ist Ingenieur und arbeitet derzeit in der
EDV für ein Subunternehmen bei der Bahn. (So einer ist auch mindestens bei
jeder anständigen Fußballtruppe, doch das nur am Rande.) Ganz sicher bin ich
mir bei der genauen Tätigkeit nicht; er hat es mir anfangs mal erzählt – und gewiß
habe ich aufmerksam zugehört. Bestimmt so aufmerksam, wie es der Höflichkeit
gebührt und sich für einen dieser temporären Schattenstürmer lohnte …
Mittlerweile
kennen wir uns gut und mögen uns. Allerdings geht die Freundschaft kaum über die
Pöhlerei hinaus; wenn der Sport stattfindet, sehen wir uns, reden miteinander, plauschen
gern beim Bier (so wie mit allen anderen untereinander); doch unabhängig von
unserem Hallentermin sehen wir uns üblicherweise nicht und kommunizieren auch nicht
weiter. Man muß es ja auch nicht übertreiben.
Heute nun habe
ich ihm gerade erzählt, daß ich just von meiner Waldhütte im Südharz käme, dort
ein paar Tage mit Baumfällen und Baumhaus-Saunabau zugebracht hätte. (In
anderen Kreisen das, was man nebenher von seiner Finka auf Funafuti und dem dort
nur mühselig zu beschaffenden Bootslack für die Jacht zum Besten gibt.) Bei der
Gelegenheit moserte ich über die dürftige Bahnverbindung zwischen Erfurt und
Nordhausen. Die Hütte liegt unweit des kleinen Ortes Herrmannsacker, etwa 15
Kilometer von Nordhausen entfernt; Erfurt wiederum – für Ortsunkundige und
Thüringendilettanten – heißt der Flughafen von Weimar. Und hatte dabei wohl ein
bißchen polemisch zugespitzt (wie es in der mündlichen Rede durchaus statthaft
ist, zumal unter männlichen Hallenplatzfegern): die Bemerkung, daß man dort mittlerweile
fast mit seinem Drahtesel schneller hinkäme,
erregte des pingligen Zuhörers anstoß. (Oarh nee!) Hier also gab mir Leander
ein kleinkariertes Kontra. Vielleicht aus aus purer Gesprächs- oder Widerredelust,
vielleicht aus verletztem Firmen-Zugehörigkeitsstolz, vielleicht nur in Vorfreude
auf eine gewisse Kampflaune beim Sport: Üblicherweise zeigen wir einander stramm
kameradschaftlich, wo der Barthel seinen Most holt und wie der Igel die Turnschühe
schnürt. Er ist zwar ein freundlicher und solider Bursche, und ich mag ihn
durchaus. Und will annehmen, es ginge ihm umgekehrt mit mir ebenso; doch im
Spiel schenken wir uns also nichts; jedenfalls dann nicht, wenn wir gegeneinander spielen, was ab und an
vorkommt. Wir verhalten uns ganz gemäß der Regel, daß erst im Spiel der Mensch
zum Menschen werde – laut Schiller – und wir also nichts ernster nehmen als das
Spiel, wie alle Männer. Dagegen ist alles andere Ponystreicheln für Puppenprinzessinen.
In der sogenannten Lebenswirklichkeit kenne ich das Wort Ehrgaiz nur vom
Hörensagen und bin so leidenschaftslos wie eine Zugschlußlaterne beim Eisbaden.
Oder ein Anwalt im Bett. Frauen natürlich ausgenommen. (Leander ist dagegen
seit langem vereiratet.)
Er gab also
mit einem knappen Seitenblick zurück:
„Naja, jetzt übertreibst du aber! Per Fahrrad wirst du
wohl kaum so schnell sein, das sind mindestens 80 Kilometer Strecke.“
„72 Komma 5, ziemlich genau“, gab ich
den Ortkenner, „zumindest laut Gugel“.
Aus schierem Übermut heraus behauptete ich noch dreist „Aber doch, klar!“, worauf er die Augenbrauen hochzog und keß widerborstete:
„Die Bahn fährt ja wohl kaum länger als anderthalb
Stunden, so oder so. In der Zeit schaffst das auf keinen Fall!“
Ich schwieg
eine gerüttelt´ Kunstpause lang und antworte dann geflissentlich:
„Na gut, dann laß uns eine Wette machen! Ich behaupte,
in jedem Fall schneller als die Bahn zu sein. Und zwar mit dem Fahrrad.“
Wir
besprachen einige Minuten lang mehr oder weniger lose und mit Schalk im
Schabernacken die Rahmenbedingungen, sozusagen wörtlich, dann schlug er ein.
Ich hatte ihm versichert, ehrlich zu sein und zu einer Zeit meiner Wahl in dieser
sogenannten Landeshauptstadt zu starten mit dem Velo, und dann die Strecke
während der Fahrt mit dem Navi aufzuzeichnen – quasi in Echtzeit, um damit beim
nächsten Mal den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu dokumentieren. (Wiewohl an
sich die ehrbare Untadeligkeit meines redlichen Rechtschaffens je unstrittig
sein sollte, da mir die integre Aufrichtigkeit zuverlässiger Seriösität allemal
zur zweiten Natur geworden ist und die gewissenhafte Loyalität zur Wahrheit
selbstredend außerhalb jeder Frage steht. Einmal Ehrenfuchs, immer Ehrenfuchs!)
Leander
hatte unterdessen bereits nebenher (auf dem Mittelmonitor seines
hochtechnisierten Wagens, der natürlich Internetverbindung aufwies und auf
Sprachbefehle reagierte) souverän nach verschiedenen Abfahrts- und
Ankunftszeiten des Zugs geschaut. Ich hielt das zwar nur für eine selbstbewußte
Mäusekino-Show mit mittlerer Angeberattitüde, um mir zu zeigen, wer das letzte
Wort oder den längsten habe. Er aber beharrte auf der pingeligen Feststellung, daß
selbst im Falle der langsamsten Verbindung eine Stunde und 47 Minuten auf der
Strecke nicht überschritten würde. Diese Zeit traute er mir offenbar nicht
ansatzweise mit dem Fahrrad zu. Pah!
Wir hatten
die Optionen gerade exakt besprochen, da parkte er mit seinem Auto just vor der
Sporthalle ein. Wir gingen in unsere Kabine und begrüßten die anderen fröhlich
mit dem (bei uns im Osten ja stets allgemein üblichen) „Sieg heil“ und plauderten einige Sätze über die Abmachung und die
Wette. Das gab allerlei Hallodri und begeisterte Zustimmung, etliche Zweifel und
ein paar dreiste und vorwitzige Anwürfe gegen mich ob vermuteter Prahlerei. Gewiß
nur versteckte Hochachtung vor der enormen sportlichen Leistung, machte ich mir
selbst überlegen klar. Immerhin war ich beim Fußball geradezu gefürchtet für
meine ungeheuer schnellen Blitzattacken in Richtung Tor, bei Freund wie Feind. Daß
ich mich indes oft im Gelände herumtrieb, viel unterwegs mit dem Auto war und unsere
Heimatregion kannte wie die Schlüpfer aller meiner Freundinnen, wußten die
meisten wahrscheinlich auch. Und so hielt es vielleicht der eine oder andere
für möglich, daß ich gewiefte Streckenkenntnis haben würde und irgendwelche
geheimen Abkürzungen oder besondere Zweirad-Schnellstrecken kennte …

Bereits zwei
Wochen später konnte ich meinem Sportkameraden den Vollzug melden. Gleich beim Eintreffen
mit dem Abholwagen überraschte ich ihn mit der Nachricht, die Wette („selbstverständlich!“) gewonnen zu
haben. Er wollte es, Potzblitz!, nicht glauben. Ich erzählte ihm, zwei Tage
vorher in Erfurt kurz nach 6 gestartet zu sein, und etwas vor 07:30 Uhr bereits
in Herrmannsacker angekommen zu sein:
„Genau
eine Stunde und dreiundzwanzig Minuten!“
„Das kann nicht sein!“, höhnte Leander,
„nie und nimmer, das glaube ich nicht.
Wie willst du denn da gefahren sein? Das mußt du mir beweisen!“
„Kein Ding“, parierte ich artig, nahm mein
Telefon heraus, öffnete die entsprechende App und zeigte ihm die aufgezeichnete
Route mit den Echtzeitdaten. Skeptisch schaute er auf das Display, stutzte,
sah, daß die Zeiten alle stimmten, fuhr in Gedanken mit dem Blick die Strecke
ab und begann zweifelnde Fragen zu stellen.
„Bist du etwa Autobahn gefahren?“
Bevor ich
antworten konnte, fiel sein Blick auf die ebenfalls dargestellte
Durchschnittsgeschwindigkeit. Hier stand 58,3 Kilometer pro Stunde.
„Hey, du bist mit dem Auto gefahren, du Schwindler!“, erkannte
er.
„Si claro“, gab ich zu. „Aber ich hatte das Fahrrad dabei. Ich bin m i t d e m Fahrrad
gefahren. Ich hätte ja auch o h n e Fahrrad fahren können und trotzdem im Auto
sitzen … “ Ich grinste ihn oberschlau an. Sowas kann ich wirklich gut.
„Oh nee, du altes Schlitzohr, das hätte ich mir ja
denken können! So haben wir nicht gewettet!“
Eine Weile
gingen unsere Entgegnungen fidel hin und her, und es dauerte nicht lange, bis
ich ihn überzeugt hatte, die Wette im Wortsinn eindeutig gewonnen zu haben. Ganz
der Ehrensportsmann von Welt und getreue Eckehardt, sicherte er mir anständig das
versprochene Bier zu. Da legte ich listig nach.
„Aber jetzt ganz im Ernst. Ich würde mit dir auch
wetten, daß ich wirklich auf dem Fahrrad und mit dem Fahrrad – also
selbstfahrend – schneller als der Zug bin!“
Leander
schaute mich wieder prüfend und etwas argwöhnisch von der Seite an, während er
fuhr.
„Also genauso wie du eigentlich dachtest!“
„Ha, wie soll das gehen? Du kannst auf keinen Fall
schneller sein als eine Stunde und 45 Minuten, nur mit dem Beik
und Muskelkraft. Daß der Zug nicht länger als eine und eine dreiviertel Stunde
braucht, wissen wir ja. Oder kennst du irgendwelche geheimen Abkürzungen durch
die Matrix?“ Er lächelte spitz. Zu
spitz.
„Nein“, antwortete ich gemächlich, „ich fahre ganz normal mit dem Fahrrad auf
regulären Straßen. Und natürlich fahre ich eine gute und kurze und vor allem
gut geeignete Strecke fürs Fahrrad. Aber wenn es schon ein Wettrennen sein soll
oder ein Wettkampf gegeneinander, also gegen die Bahn, dann sollte das auch
zeitgleich stattfinden. “
„Wie meinst du das?“.
„Na jaaaa“, sagte ich gedehnt, „ich meine, ich starte wirklich zeitgleich
mit dem Zug. Wenn wir beide ein Wettrennen gegeneinander machen würden, dann
würden wir ja auch gleichzeitig starten und ich nicht einfach nur alleine
laufen, damit du deine angeblich üblichen Zeiten dagegen stellst. Das heißt,
ich suche mir eine für mich ideale Startzeit aus, um in guter Form zu sein, und
fahre dann am Bahnhof mit dem Fahrrad los, in derselben Minute, in welcher auch
der Zug startet.“
„Aha. Und dann willst du also schneller am Ziel sein
als die Bahn?“
„Exaktamente!“
Erneut
schaute er mich halb süffisant, halb skeptisch, halb mit einer Spur von
Bewunderung (wahrscheinlich vor meiner Chuzpe) von der Seite an.
„Aber diesmal“ sprach ich weiter, „mache ich das nicht nur für e i n Bier. Da mußt du schon etwas mehr drauflegen,
für diese Leistung.“ Das Gespräch wogte eine ganze Weile energiereich hin
und her, mit Spott, mit Lachen, mit kameradschaftlicher Verachtung und einigen Aufschneidereien,
und die Fahrt war nun wieder bereits recht kurzweilig zu Ende, als wir uns mehr
oder weniger geeinigt hatten.
„Eine Kiste Bier kriege ich von Leander künftig jedes
Mal, und noch eine Flasche extra bei Bedarf – nach´m Sport!“ gab ich gleich
fröhlich in die Runde der anderen Turnschuhhelden beim Eintritt in die Kabine.
Allgemeines Staunen, Aufmerksamkeitsgerede, und schon war unsere alte und neue Wette
wieder das Gesprächsthema. Wir gaben die Details noch einmal zum Besten. Vorher
mußte ich natürlich noch die gewonnene Wette aufklären – zum allgemeinen
Gelächter. Dann wurde ernsthaft diskutiert, ob es wirklich zu schaffen sei? Für
70 Kilometer, plusminus, dafür würde man doch im Allgemeinen zweieinhalb bis drei
Stunden brauchen, auf jeden Fall ein sehr schnelles Rad haben müssen und wahrlich
gut trainiert sein?! Die Höhenmeter wollte auch noch jemand berücksichtigt
wissen, das sei wohl nicht ganz unerheblich. Da ginge es ja doch bergauf? Ob
ich vorher koksen wolle, fragte jemand zum allgemeinen Jubel.
„Na ja, das sind doch nur 35 Kilometer pro Stunde, die
man fahren muß“, dachte jemand laut nach. Und solches würde man ja grundsätzlich
hinkriegen, aber auf keinen Fall im Durchschnitt über zwei Stunden, mehr oder
weniger über Berg und Tal, mitten durchs Gelände …“
„Da müßte es schon einen durchgehenden, asphaltierten,
völlig geraden Weg geben, auf dem man richtig durchrasen könnte!“ schlaumichelte
ein anderer. Kurzum, es wurde gefachsimpelt, abgewogen, gezweifelt, manche
Anekdote zum Besten gegeben, manche sportlichen Höchstleistungen von dem einen
oder dem anderen auf dem Rad, oder was man hier und da gehört und gelesen habe
über großartige Leistungen von Spitzenradlern. Da sei etwa mal ein Sattelstürmer
zwischen den Alpen und der Ostsee nur 21 Stunden am Stück unterwegs gewesen,
hatte demnach eine Zeitungsmeldung behauptet, und das wären ja immerhin etwa 850
Kilometer. Und so weiter, und so weiter …
Schließlich
hatten sich alle umgezogen und wir begannen unser Schuhsohlenballett etwas
verspätet. Anderthalb Stunden später wurde das Thema noch einmal kurz
aufgegriffen, aber diesmal ohne Leidenschaft und nur mit ein paar flunkernden
Worten. Auf der Heimfahrt besprach ich mit meinem Wettgegner noch das
endgültige Szenario. Wir einigten uns darauf, daß ich mir also eine Zeit meiner
Wahl aussuchen könne, und dann zeitgleich mit dem Zug in Erfurt starten würde. Er
würde dabei sein und den Start beobachten und dokumentieren. Ich wiederum die
Fahrt und den Streckenverlauf mit dem Telefon-Navi aufzeichnen, und unmittelbar
nach Ankunft ein eindeutiges Foto am Ziel machen und ihm per Telegram schicken.
„Und zwar mit auslesbaren Daten, beziehungsweise
Zeitstempel!“
„Du scheinst mir ja nicht gerade zu vertrauen“, frotzelte
ich.
„Na, nach der Nummer neulich …!“
Aber das
war von Leander offensichtlich nicht ganz ernst gemeint, denn er hielt mir
freundschaftlich die Hand hin, um noch einmal einzuschlagen und sich
gleichzeitig zu verabschieden bis nächster Woche, denn wir standen bereits vor
meiner Haustür.
Am Samstag
darauf, nur 3 Tage später, rief ich ihn an, um ihm mitzuteilen, daß ich am
gleichen Abend noch fahren würde. „Kannst
du zum Bahnhof kommen?“
Als er hörte,
daß ich erst mitten in der Nacht fahren wollte, weil ich da am leistungsfähigsten
sei und obendrein eine völlig freie Strecke hätte, winkte er ab.
„Samstag halb Elf? Das ist mir echt zu spät, ich hab
am Sonntag noch was vor mit meiner Familie. Da will ich nicht so spät
aufstehen, außerdem wäre meine Liebste sauer.“
„Na gut. Aber ich starte trotzdem 22:30 Uhr am
Bahnhof, das paßt für mich zeitlich wirklich gut, und nachts bin ich in
Bestform, du weißt ja.“
Leander ulkte
zu der Bemerkung noch irgendwas und war dann einverstanden.
Mitten in
der dunkelsten Nacht dann schrieb ich ihm eine kurze Nachricht, daß ich die
Wette abermals gewonnen hätte. Ich gab die Erklärung gleich dazu: Ich sei zwar
erst gegen 04:00 Uhr früh angekommen am Ziel, doch der erste Zug erst 06:20
Uhr. Denn in der Nacht um 22:30 Uhr sei in Erfurt gar kein Zug mehr Richtung
Nordhausen abgefahren …
Es dauerte
bis zum Abend, bis ich eine Antwort bekam.
„Das diskutieren wir auf der Fahrt!“
Ich war mir
nicht ganz sicher, mit welcher Stimmung er mich abholen würde, und wie meine
Karten stünden? Als ich dann am kommenden Donnerstag Leander abholte – diesmal
fuhren wir mit meinem Auto – und ihn
gleich noch einmal an meine gewonnene Wette vom vergangenen Sonntag hinwies und
meine ziemlich stringente Begründung dazu vortrug, echauffierte er sich einigermaßen
über meine Bauernfängerei, meine „Fickfackereien“ und meine
angeblich naseweise Spitzfindigkeit. Als wir nach erregtem Austausch auf der
Strecke wiederum am Ziel ankamen, hatte ich ihn allerdings überzeugt, die Wette
im Wortsinn völlig korrekt gewonnen zu haben: schließlich hätten wir ja
ausgemacht, daß ich mir die Startzeit frei aussuchen könne. Etwa nicht? Und es
ging um nichts Anderes, als daß ich eben schneller am Ziel sei mit dem Fahrrad
als mit der Bahn. Und genau das sei schließlich eingetroffen.
„Das ist ein Betrüger, dieser … [hier nannte er meinen
Nachnamen],
unglaublich!!“
wetterte
diesmal der Bursche gleich beim Eintreffen im Umkleideraum, wo erst zwei
Fußballkameraden saßen und gemächlich ihren Tüdel auspackten: offensichtlich
waren wir diesmal relativ früh dran. Ich schaute auf die Uhr und erkannte, daß ich
einen ziemlich heißen Reifen gefahren war, zumal im anfänglichen Wortgefecht. Die
Sportfreunde, auch die nach und nach hinzukommenden, diskutierten dann meine achtbare
Leistung. Immerhin war ich tatsächlich 72 Kilometer mitten in der Nacht
gefahren in 4 Stunden, was einen passablen Fahrtdurchschnitt von rund 18
Stundenkilometern ergab; damit hatte ich einige Anerkennung, ebenso wie einige
spöttische Worte und Witze über meine bekannte Nachtfuchsigkeit und das Eulendasein.
Es herrschte jedoch allgemeine Einigkeit darin, daß ich die Wette ziemlich
eindeutig gewonnen habe. Wenngleich der eine oder andere sich kaum Mühe gab,
ein maliziöses Grinsen zu unterdrücken.
„Na gut, aber ich muß die Kiste nicht gleich auf einen
Schlag mitbringen, OK? Wir stottern das nach und nach ab, jedes Mal ein oder
zwei Flaschen, gut?“
Als mein
Wettpartner mit diesen Worten klein beigab, ergänzte ich gönnerhaft:
„Klar,
gerne, null problemo!“
Nicht nur, weil
ich diesen Abend etliche Tore geschossen hatte und ungeheuer euphorisch drauf
war, sondern auch wegen der schlawinernd gewonnenen Wette, schlug ich beiden Mitfahrern auf
der Heimfahrt Folgendes vor:
„Also gut, Leni, ich mach dir jetzt ein faires
Angebot. Du kannst dir die Kiste wieder zurückgewinnen, obendrein leg ich noch
50 Euro drauf. Oder nein, nicht 50 Euro, sondern das Angebot, dich jedes Mal
zum Sport zu fahren. Das heißt also, wenn du die Wette gewinnst, die ich dir
jetzt vorschlage. Dann fahren wir nur noch mit meinem Auto, selbstverständlich
ohne Spritkostenbeteiligung für dich!“
„Na, jetze bin ich aber gespannt. Was kommt denn
jetzt?“
„Na komm, paß auf: Es geht nochmal um die gleiche
Strecke von Erfurt nach Herrmannsacker. Ich behaupte weiterhin, mit dem Fahrrad
schneller zu sein als die Bahn, und zwar eindeutig! Ich fahre selbst, ich sitze
auf dem Fahrrad, nutze nur meine eigene Muskelkraft, und messe mich direkt am
schnellsten Zug, den es gibt, genau auf dieser Stecke also, und das in Echtzeit
und wirklich gleicher Startzeit. Das heißt, ich suche mir irgendwann am Nachmittag
– oder wenn es eben paßt – eine gute Verbindung heraus, und starte dann
wirklich zeitgleich mit dem Zug am Bahnhof. Du kannst gerne dabei sein; oder
wenn du willst, auch die ganze Strecke mitfahren mit dem Auto, oder meinetwegen
auch mit dem Fahrrad. Oder ich organisiere jemanden am Ziel, beispielsweise meine
Freundin, die als Zeuge bestätigt, wann ich ankomme. Wetteinsatz sind also 2
Kisten Bier und dauerhafte Fahrt mit dem Auto zum Sport!“
Leander gluckste,
machte ein paar undefinierte Bemerkungen und Geräusche, und schwieg dann eine
Weile. Einerseits war er wohl vom kurzeitigen Konzentrieren an etwas
schwierigen Einbiegungen an der Stadtausfahrt in Beschlag genommen,
andererseits überlegte er erkennbar angestrengt, was ich diesmal wohl für eine
Schurkerei im Sinn hätte, oder ob das Angebot etwa ernst gemeint sei?
„Also diesmal fährst du wirklich selbst mit dem
Fahrrad? Du sitzt auf deinem Fahrrad und strampelst selbst, komplett? Und zwar
genau auf der Strecke – ohne ein Auto zu nehmen oder zwischendurch irgendwie
umzusteigen in ein anderes motorbetriebenes Vehikel, ohne zwischendurch die
Bahn zu nutzen, bei jemanden mit dem Auto mitzufahren oder irgendwelche Tricks?
Und wir vergleichen nur genau die Ankunftszeit des Zugs, mit dem du
gleichzeitig gestartet bist, ja?“ Der ganz rationale Ingenieur
blitzte in ihm hervor.
„Ja, genau so!“, bestätigte ich ihm. „Gaaanz genau so!“
Er ließ
sich den Vorschlag noch eine Weile durch den Kopf gehen, wir beklüngelten noch
eine Weile den Wetteinsatz. Die zwei Kisten Bier mit Sorten nach eigener Wahl
standen nicht zur Disposition; nur das Angebot mit dem lebenslangen Mitfahren
im Auto mußte noch exakt ausgehandelt werden, doch auch darauf konnten wir uns
einigen. Würde er die Wette gewinnen, ganz einfach, hätte ich also künftig
immer mit meinem Auto zu unserer Halle in der Nachbarstadt zu fahren, und ihn
dabei kostenfrei mitzunehmen – außer natürlich in Sonder- oder Notfällen wie Autoreparatur
oder Ähnlichem. Und umgekehrt würde das Gleiche gelten für ihn. Simple Sache.
„Also gut!“
Leander
streckte mir die Hand hin. „So machen wir
das: Ich wette, daß du mit deinem Fahrrad länger brauchst als die Bahn, das war
ja deine ursprüngliche Aussage. Und ich werde die Wette gewinnen. Das steht ja
wohl fest!“
Siegessicher
griente er mich an. Ich schlug in seine ausgestreckte Hand ein.
Diesmal
waren wir spät dran. Die anderen standen schon auf dem Spielfeld, und wir
hatten uns nur zügig umzuziehen und aufs Parkett zu eilen. Deswegen gab es gar
kein weiteres Gespräch zum Thema, und auch im Anschluß hatte irgend jemand
anders ein spannendes aktuelles Erlebnis zu erzählen, abgesehen davon, daß wie
immer die Spielstände, Torjagden und einzelne Sonderaktionen ausgiebig kommentiert
wurden bei der obligatorischen Hopfenbrause. Mithin kamen wir gar nicht dazu,
über die neuerliche Zockerrunde zu sprechen. Erst bei den nächsten Treffen
machte unser abenteuerliches Radprojekt die Runde, denn es vergingen einige
Monate bis zum nächsten Frühjahr, bis ich den Rekordritt überhaupt, Achtung
Wortspiel!, antreten konnte.
Diesmal war
es um Zwei nachmittags, als Leander und ich uns tatsächlich am Erfurter Bahnhof
trafen. Er schaute skeptisch auf mein relativ üppiges Gepäck, die eher gewöhnliche
Kluft, und darüber, daß ich lediglich mit meinem schlichten Tourenrad zu der
sportlichen Bestleistung antreten wollte – anstelle einer hochgezüchteten
Carbon-Spitzenmaschine und neonfarbenen, hautengen Radlerklamotte samt aerodynamisch
geformtem Sturzhelm … So, wie er sich das offensichtlich vorgestellt hatte. Ich
lächelte überlegen.
„Mach dir keine Sorge, ich werde auch mit dieser
Ausrüstung gewinnen.“
„Nie und nimmer!“
entgegnete
er triumphierend und mit einem breitspurigen Grinsen. Ich begnügte mich mit
einen einem mehrdeutigen „Mmmm …“ als
Antwort.
14:22 Uhr
startete ich mit straffem Antritt quasi minutengleich mit dem Zug in Richtung
Nordhausen, nachdem mein lieber Wettkumpel sich noch vergewissert hatte, daß es
die richtige Verbindung sei. Immerhin sauste ich prompt rasant los. Er winkte
mir noch hinterher, als ich mich kurz umblickte – ich winkte zurück. Wir feixten
beide. 15:55 Uhr erhielt ich, mitten auf der Strecke, von ihm eine kecke Kurznachricht:
„Na, schon angekommen? Der Zug müßte bereits da sein!
So behauptet es zumindest die Bahnseite …“ Dahinter ein Grien-Smiley mit
offenen Zähnen. Da ich noch tüchtig strampelte auf freier Strecke, nahm ich das
nur amüsiert zur Kenntnis und antwortete erst, als ich endgültig am Ziel war.
Ich machte ein Video-Selfie vom winzigen Marktplatz in Herrmannsacker mit einem
Rundumschwenk, um es ihm zu senden, und kommentierte dazu:
„Also paß auf, es ist jetzt dreiviertel Acht, ich bin sozusagen
am Ziel. Aber hier ist weit und breit kein Zug aus Erfurt zu sehen!“
Ich ließ die
Kamera noch einmal bedächtig über eine Kapelle, drei verträumte Gärtchen und zwei
Handvoll alte, verschlafene Handwerkerhäuser schwenken.
„Wenn ich ganz ehrlich bin, sehe ich noch nicht mal
einen Bahnhof irgendwo. Da dürfte es ein Zug auch schwer haben.“ Bevor mir
das Lachen aus der Kehle übergluckste, schaltete ich ab und sendete die
Botschaft.
Ich bekam
keine Antwort an dem Tag. Auch an den folgenden nicht. Am darauffolgenden Donnerstag
fiel unser Sporttermin mangels genügender Teilnehmer leider aus, ebenso die
Woche danach. Erst 3 Wochen später kam ich mit Leander wieder in Kontakt, und
zwar anderthalb Stunden vor unserem Hallentermin. Er schrieb mir aufs Telefon:
„Wann kommst du vorbei und holst mich ab?!“
Ich schrieb
zurück:
„Du mußt m i c h
abholen! Ich habe die Wette gewonnen. 10
nach 7 bei mir vorm Haus!“
Tatsächlich
war er kurz nach Sieben bei mir, öffnete die Tür und platzte mir gleich
entgegen:
„Das kannst du voll vergessen, daß ich dir zwei Kisten
Bier zahle! Das ist absoluter Betrug!“
Diesmal
konnte ich während unserer 30minütigen Fahrt trotz wortreicher Vorträge und Erklärungen
und erläuternder Hilfskonstruktionen keinen Durchbruch erreichen oder
Fortschritte in seiner kleinlichen Einsicht erzielen. Leander schwieg
hartnäckig, und wiederholte nur immer wieder, recht einsilbig, das sei „absoluter Betrug!“, während er sich
stur auf die Straße konzentrierte und wirklich grenzwertig raste. Beim
schwungvollen Einbiegen in die letzte freie Nische auf dem Parkplatz vor dem
Schwitzpalast fehlte nicht viel, und wir hätten mit dem rechten Kotflügel vorn
den Stoßfänger des Nachbarautos eingedrückt. Wahrscheinlich war es links hinten
ebenso knapp gewesen. Nach einem heftigen Bremsruck – es drückte mich stramm in
den Gurt, doch ich ließ mir nichts weiter anmerken, lässig wie ich bin – stand
sein großräumiger und für meinen Geschmack etwas zu protziger Geländewagen
still.
Erst, als
wir wieder unter den Sportkameraden saßen und ich die Episode zum Besten gab,
ließ sich mein Kontrahent wieder auf den Austausch einiger halbgewalkter Argumente
ein. Das Gelächter und die Possen der Kicker lockten ihn aus der Reserve. Ich
verteidigte meine Position, gewohnt sachlich:
„Es ging von Anfang an immer nur um unser Blockhaus
bei Hermannsacker, und ich habe immer nur gesagt, daß ich dort mit meinem
Fahrrad schneller hinkomme als mit der Bahn. Und das stimmt auf jeden Fall. Schon
allein deshalb, weil man mit der Bahn letztlich überhaupt nicht hinkommt!“
Johlen,
Gelächter, höhnisches Lachen, liebevolle Zurufe wie „hinterfotziger Schlawiner“ und „du
solltest in die Politik gehen, Freundchen!“ reihum, wobei ich die härteren
Kraftausdrücke zu meinen Lasten hier anstandshalber verschweigen will. Letztlich
wurde die Wette aber nach lebhaftem Disput untereinander und schließlich sozusagen
demokratischer Abstimmung durch die 7 Teilnehmer entschieden. 4 zu 3 zu meinen
Gunsten! „Tatsächlich wie in der Politik“, gestand
ich mir heimlich ein.) Zähneknirschend akzeptierte mein immer noch ernsthaft ergrimmter
Fahrkumpel-Fußballer das Ergebnis mit den Worten:
„Mit dem alten Betrüger mach ich nie wieder eine
Wette!!!“, konnte sich dann aber doch noch zu einem verkrampften
Schmunzeln durchringen – oder es sich schlichtweg nicht verkneifen. Es war geradezu
folgerichtig, daß ich diesmal nicht
mit Leander zusammen in einer Mannschaft spielte, sondern er – wie gewohnt vor
allem im Tor überragend brillant – alles von unserer Seite sozusagen mit Zähnen
und Klauen und eisernem Willen abwetterte, jeden Ball und jeden Schuß, allem
voran bei meinen Angriffen.
Natürlich. Tatsächlich gelang es mir nicht, auch nur ein einziges Mal an diesem
Abend seine offensichtlich aus Beton und Stein und Stahl bestehende Mauer im
Tor zu überwinden, bei immerhin insgesamt 22 Toren und letztlichem Spielstand
von 14 zu 8 für die Gegner. Obwohl wir gerannt waren wie die Teufel und keinen
Hackentrick, keine Finte und keine Chance ausgelassen hatten.
Erschöpft
reichte er mir dann mit einem nun doch freundlicher gesinnten Lächeln die erste
Flasche Bier aus dem Kasten nach dem Spiel, genauso erschöpft wie ich nach den ungezählten,
indes erfolglosen Angriffen. Ein Grinsen machte die Runde unter den
Sockerkollegen,
und es wurde noch manche spitzfindiges Histörchen zum Besten gegeben …
Epilog
Um der
Wahrheit und dem Wettverlierer die Ehre zu geben, will ich anfügen, daß er
schon beim nächsten Fußballtreff tatsächlich zwei gut gemischte Kisten bester Malztrünke
mitbrachte und mir mit gnädig-herablassendem Lächeln vor die Füße stellte. Am Ende
des Spiels dann wollte ich kein knickriger Gewinner sein und gab natürlich großmütig
mehrere Runden aus, sodaß der Inhalt der Flaschen aus knapp 2 Kästen in die
durstigen Kehlen gluckste – was angesichts der Tatsache, daß quasi alle
zumindest noch eine gewisse Strecke, und sei es per Pedal, heimzufahren hatten,
doch übermutreichlich schien. Andererseits waren wir diesmal erfreulicherweise
in Maximalbesetzung mit vollen 10 Sportlern aufgelaufen, was die Sache
relativierte.
Die übrigbleibenden Flaschen versteckten wir leichtsinnigerweise und wohl suffselig
im Spind in der naiven Hoffnung, sie in kommenden Woche daselbst
wiederzufinden. (Sie waren natürlich nicht mehr da.) Dafür kursierte in unserer
Runde seither bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die Redewendung „dreimal gewonnen, ganz klar!“ – stets
von allgemeinem Gelächter begleitet und allemal mit einem neckischen
Seitenblick in meine Richtung.