19. Mai 2025

[REPORTAGE] Mit Grubenrad und Wathose durch den weltlängsten Tunnel


 
 
Es gibt um den Globus nur eine Handvoll ähnlich lange Untertagewege: Unter den Alpen hindurch für Autos, in Peking für die U-Bahn, in Finnland für die Trinkwasserversorgung. Die meisten zwischen 50 und 60 Kilometer lang (etwa die Luftlinie München-Augsburg, Dresden-Bautzen, Düsseldorf-Köln), alle aus den letzten Jahrzehnten. Der „Rothschönberger Stolln“ bei Freiberg in Sachsen dagegen mit seinen insgesamt 50 Kilometern Länge wurde schon vor 1878 aufgewältigt - in rund 300 Metern Tiefe! Damit ist er, Tiefe und Länge zusammen betrachtet, nach wie vor der längste Wasserlösestollen der Welt. Notwendigerweise durchgehend mit Minimalneigung: eine technische Großmeisterleistung in Vermessung und Bau. Das unvorstellbar niedrige Gefälle: Durchschnittlich eine Handspanne auf 100 Meter, fast nichts! Zur ungefähren Anschauung: Stellen Sie sich eine vor Ihnen auf dem Tisch liegende große Torte vor; nun fädeln sie von links und rechts gleichzeitig zwei Stricknadeln nach innen gerichtet so ein, daß die Spitzen in der Kuchenmitte möglichst direkt aufeinandertreffen. Und das mit geschlossenen Augen! Denn die Erbauer, die von mehreren Lichtschächten erst senkrecht in die Tiefe bohrten und von dort aus aufeinander zugruben, im Schein von Rüböl- oder auch schon Benzinlampen, sahen ja das Ganze nicht im Überblick. Sie hatten unter Tage nur Hängekompaß und Gradbogen als Neigungsmesser, neben den Vermessungskarten vom oberirdischen Gelände und teilweise bereits vorliegenden Grubenrissen der Markscheider. Noch geringer geneigt als geplant, nämlich die bereits angesprochenen 2-3 mm durchschnittlich pro Meter, darf der Stollen nicht sein, sonst fließt nichts mehr; vorsichtshalber etwas abschüssiger bauen geht aber auch nicht, sonst kommt man am weit entfernten Ziel über der Höhe des Tals heraus, in dem der entwässernde Fluß fließt. Es hat geklappt: Nach Unterquerung von zwei anderen Tälern, unter anderem auch der Freiberger Mulde, ergießt sich das Grubenwasser aus den viel weiter südlich gelegenen Bergbaurevieren punktgenau in die Triebisch. Wen wundert´s eigentlich, wenn einer der ersten Planer des Stollens ein Sohn unseres großen Gottfried Herders war?

 

Wathose an, Helm mit eingeschaltetem Geleucht aufgesetzt, in den Fahrkorb rein und Gittertür zu. Dann rund 10 Minuten in die „Teufe“ rumpelnd, fast 300 Meter. Nicht nur senkrecht, sondern teilweise deutlich schräg: Die Schwerkraft drückt einen minutenlang heftig an eine der beiden Wandungen. Dann Stahlschieber wieder auf, und da steht im engen Gang schon eine Art Grubenfahrrad für 2 Personen, auf Schienen. Mit Spurkranzrädern aus Kunststoff. Olsenbandengefühl! Der hintere Mann, etwas höher positioniert, tritt stramm in die Pedale und zieht den Kopf vorsichtshalber etwas ein, wenn er von großer Statur ist; der Vordere braucht nur geradeaus schauen und sich am „Lenker“ festhalten. Nein, es ist natürlich kein Lenker, sondern nur eine feststehende Stahlstange – die Spur zu halten besorgen ja die Schienen, wie in der Geisterbahn brettert das Gefährt fast gespenstisch im Schein der Stirnlampen voran: rechts, links, geradeaus, dadummdadumm rattattatt. Tempo etwa 15 km pro Stunde, gefühlt eher doppelt soviel. Die Stollenwände leuchten beidseits rötlich auf, das sind die rostigen Spuren des Eisenerzes. Nach wiederum rund 10 Minuten Fahrt hören die Schienen plötzlich auf, ebenso die darunter liegenden, steingrauen Gitterplatten aus glasfaserverstärktem Kunststoff, und der Gang ist mit einem mal noch einen Meter tiefer, unten läuft das klare Grubenwasser. Eine Handvoll quer eingezogene Stahlprofile 
müssen noch mühsam überstiegen werden, dann wird mit den Wathosen im Wasser zu Fuß laufend weitergepatscht.

Etwa bis zur Endstelle der neu eingezogenen Platten mit den Schienen sind Firste und Wandung schon teilweise mit grauem Beton ausgespritzt. Das ist der Hauptsinn der Sanierung, die hier seit 2020 wörtlich „im Gange“ ist: Jene Schäden, die während des Jahrhunderthochwassers 2002 im südlichen Sachsen vielerorts entstanden, dauerhaft zu tilgen. Den Gang zu stabilisieren. In jenem Jahr nämlich stand der Stollen mit Wasser voll, teilweise war er vollkommen verstopft! Weder das aus den drei Freiberger Bergbau-Revieren noch eindringendes Oberflächenwasser konnte abließen, an manchen Stellen wurden Teile der Firste des 124 Jahre alten Gangs zur Triebisch mitgerissen. Die Flutkatastrophe im Bergland hatte nicht nur überirdisch gewütet und Häuser mit ins Tal gespült, sondern auch unter Tage schwere Schäden angerichtet – dort allerdings unsichtbar. Bergbau-Spezialfirmen aus Thüringen kleiden den Gang nun neu aus, wo es notwendig ist. Derzeit wird an drei Abschnitten geschuftet, in 10-Stunden-Schichten, teilweise mithilfe polnischer Kumpel. Täglich von 7 bis 17 Uhr, mit einer Stunde Mittagspause oben. Mann und Material fahren mit dem neu eingebauten Fahrkorb ein, dann teilweise mit dem Grubenrad oder elektrischer Minigrubenbahn. 

 

Die Lichtschächte, also die in Abschnitten von einigen Kilometern von übertage in die Tiefe greifenden Schlünde mit ihrem „Huthaus“ obenauf mußten dafür erst „ertüchtigt“ werden. Drei von ehemals 8 sind noch vorhanden. Am hiesigen wurde dafür extra neue Fördertechnik eingebaut: Stahlschienen rechts und links im Schacht über die ganze Länge, neue Förderkörbe, die an diesen längs mit kleinen Rollen fahren; darüber das Stahlseil und eine Doppel-Umlenkrolle an mächtigem Stahlgerüst, für das wiederum eine neue Betonplatte als Standfundament eingegossen wurde. In der Nebenbaracke eine elektrische Haspel mit Stahlseil*, dort sitzt der Maschinenmeister und bedient den quasi halbmobilen Lift mit Hebeln und Knöpfen, dabei den manuellen Seillängen- oder Tiefenmesser sowie einen kleinen Monitor im Blick. Der zeigt aber nur den oberen Einstiegsbereich. Für die Verständigung mit den jeweils herab- oder herauffahrenden Kumpeln nutzt er ein Funkgerät, wahlweise ein kabelgebundenes Grubentelefon. Denn die Funkstrecke reicht gerade noch bis zum unteren Ende des Schachts – sobald man dort nur wenige Meter seitwärts in den Stollen einfährt (der Bergmann sagt stets ja fahren, auch wenn´s per Pedes geht), ist natürlich Dauerfunkloch! Kein Wunder, zumal bei Eisenerzumgebung. Deswegen gibt es unter Tage sogar noch ein drittes, nunmehr neu eingebautes Streckentelefon für einfahrende Bauleiter, Vermessungsingenieure und Arbeiter. 


Hier, am „Dreibrüderschacht“ südlich Freibergs, gab es obendrein, nein, eher untendrein!, das erste Kavernen-Wasserkraftwerk der Welt, seit 1912. Die Kraftwerksturbinen befinden sich in sagenhaften 270 Metern Tiefe, wurden mit im Bergwerk selbst aufgestautem Wasser betrieben. Ein weiteres „Felsenkraftwerk“ folgte kurz danach im Oberharz; ein paar Jahre vorher schon gab es einen ähnlichen Untertagebau zur Stromerzeugung in den USA, allerdings oberflächennah in einer Höhle an einem Wasserfall; gebaut vom ausgewanderten Deutschen Carl Crämer. Das elektrodynamische Prinzip war just um 1880 entdeckt worden von Wernher von Siemens, der erste Generator von ihm gebaut. Ebenso wie die erste Straßenbahn der Welt, der erste Oberleitungsbus, der erste elektrische Aufzug. Strom wurde also zunehmend gebraucht und populär, die bequemeren elektrischen Motoren lösten bald die gewaltigen Dampfmaschinen-Ungetüme ab. Die hiesigen Pelton-Turbinen, tosend angetrieben von rauschender Strömung aus 140 Metern (!) unterirdischer Wassersäule brachten 4 Megaatt pro Jahr: heute genug, mehrere Tausend Haushalte mit Strom zu versorgen. Ähnliche Leistung bringen große, moderne Windräder; doch nur bei Wind und arg störend in der Landschaft. Das gestaute Wasser dagegen unsichtbarer Kraftquell rund um die Uhr.

Anfang der 70er Jahre wurde das Kraftwerk dann stillgelegt vor dem Hintergrund gewaltiger Braunkohleverstromung: Auch, weil die Wartung in so großer Tiefe aufwändig und schwierig ist. Immerhin wurden die Anlagen vorausschauend gut konserviert, und so überstand die 2002 ebenfalls komplett überflutete Maschinenhalle in düsterer Tiefe das füchterliche Hochwasser gut – sie wäre grundsätzlich noch oder wieder nutzbar. Einzelne Zahnradgestänge für Schieber beispielsweise sind so gut gefettet, daß sie sich mühelos mit der Hand bewegen lassen; die nach oben führenden Leitungen sind allerdings gekappt. Der geheimnisvolle „lost place“ schläft derzeit schlicht als nicht betretbares „Technisches Denkmal“ in der Tiefe. Auch wenn ein ortsansässiger Verein die Anlage pflegt und mit einer Wiederinbetriebnahme liebäugelt, wird kaum ein Schatzsucher verlorener Orte ihn je zu Gesicht bekommen. Nicht absichtsvoll, schon gar nicht zufällig. Denn die ganze Anlage samt Entwässerungsstollen ist nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, schließlich hat sie weiterhin allein dem Wasser zu dienen. Und das auch die nächsten Jahrhunderte – es ist ein echtes Ewigkeitsbauwerk.

Im Durchschnitt des Jahres strömen etwa 680 Liter Wasser hindurch ab, knapp ein dreiviertel Kubikmeter – je Sekunde! Natürlich schwankt das in Wirklichkeit stark, je nach Jahreszeit und Wetter. Während der Sanierungsarbeiten ist es während der Arbeitsschichten höchstens ein Zehntel, es wird einerseits abgepumpt und umgeleitet. Andererseits wird in höher gelegenen Bereichen des verzweigten Grubensystems auch schlicht durch eingebaute Barrieren angestaut – und während der arbeitsfreien Zeit an Wochenende geflutet zum Abbau der Wassersäule. Im Höchstfall tosen bis zum 15fachen der Durchschnittsmenge durch den Stollen, so war es bei dem erwähnten Hochwasser. Obwohl die nunmehr neu eingezogene Fußbodensohle mit dem Grubengleis eigentlich nur für die Neuauskleidung unmittelbar notwendig ist, soll sie letztlich doch dauerhaft eingebaut bleiben – auch die regelmäßige Wartung wird sie erleichtern. Fürderhin werden Grubeninspekteure bei gelegentlichen Wartungen also nicht mehr mit dem Kahn fahren, so wie bisher. Sondern mit dem Grubenfahrrad. Allerdings auch nur bei geringerem Wasserstand.
 

Stichwort Kahnbefahrung: Gleich nebenan ruht sich ein anderes Bauwunder von fast 250jähriger Strapaze aus. Am oberirdischen Churprinzer Bergwerkskanal, Fertigstellung 1788, befindet sich das erste Schiffshebewerk der Welt! Denn ein solches ist das Kahnhebehaus in Halsbrücke, unweit des 7. Lichtlochs, dessen gut erhaltene Fundamente von jedermann durchaus jederzeit bestaunt werden können. Sieben Meter sind es auch, die dereinst einige starke Männer per Muskelkraft und mittels Flaschenzügen ihre bis zu 3 Tonnen schweren Erzkähne hoben oder senkten, das Gewicht zweier heutiger Mittelklasselimousinen also. Das im Kanal zufließende Wasser wurde prompt beim Bau der Bauschächte für den ungeheuren Entwässerungsstollen mit genutzt, als Aufschlagwasser zum Antrieb der Lastkräne und verschiedenen Fahrkünste. Selbstverständlich gehört alles zusammen zum UNESCO-Weltkulturerbe „Montanregion Erzgebirge“.



 * Auch das Stahlseil als solches eine deutsche Erfindung wie so vieles, unmittelbar aus dem Bergbau und zunächst für diesen: Der Harzer Bergrat Friedrich Schell aus Clausthal hatte damit endlich eine lange schon beastehende Schwachstelle bei Grubenbauten gefnden, im wörtlichen Sinn, und den ganzen Bergwerksbetrieb quasi revolutioniert. Denn die bis dahin genutzten zentnerschweren Ketten waren längst mit zunehmender Tiefe viel zu schwer geworden  und überaus gefährlich! Bekanntlich ist die beste Kette nur so stark wir ihr schwächstes Glied. Ein verdrilltes Seil, deutlich belastungsfähiger gemessen am Eigengewicht, spleißt allmählich auf, bevor es final reißt ...

21. März 2025

[Vision] Gesucht & gefunden: Der Gratis-Tod aus dem Jenseits


 
Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis die Fitneßstudios, die Szene-Restaurants und großen Kinos untergegangen sind. Vor allem die Kinos. Dafür gibt es dann in jeder Stadt etliche „VR-Worlds“. Vielleicht heißen sie auch anders, etwa „History Club 4D“ oder „Wellness Livingroom“ – je nachdem, welchen geistigen Schrott Werbefuzzis ausspeien oder von allen guten Geistern verlassene Geschäftemacher ... Wofür sich noch in Kinos dümmliche Schmachtfetzen oder realitätsferne Abenteuerstreifen anschauen, wenn man sie selbst erleben kann? Als Protagonist, oder für die Vorsichtigeren zunächst nur als Beobachter – aber doch mittendrin? In den Welten der virtuellen Realität, der „echten Scheinwelt“ also, kann jeder mitspielen! Kann in die Vergangenheit reisen, seine bevorzugte natürlich. Oder auf die höchsten Berge der Welt klettern, ohne je den kleinsten Rucksack gepackt zu haben, und das in Sandalen bei Vollklimatisierung. Oder die Rochen auf dem Grund der Tiefsee berühren: im Tauchroboter, im Schnorchelanzug oder auch nur in Badehose – in Wirklichkeit in Jeans und leichtem Hemd. Es reicht, an der Kasse sein Scherflein abzugeben, ein Programm zu wählen, und dann in einem gedämmten Raum bei Zimmertemperatur diese Brille aufzusetzen und die kleinen Kopfhörer über die Ohrmuscheln zu stülpen. Oder so ähnlich. Dann taucht ganz kurz das bewegte Logo oder ein animierter, futuristisch aussehender Schriftzug auf dem schwarzen Bildschirm auf, und dann ist man plötzlilch schon mittendrin! Sieht sich verwundert um in der Kulisse. Schaut an sich herab, sieht einen Avatar-Körper, bewegt probehalber seine beide echten Arme noch in der Wirklichkeit – und ja, tatsächlich, sie heben sich auch an dem Avatar! Man dreht sich auf dem Boden um, geht ein paar Schritte, und genau das tut sein „alter ego“ im Bild auch, der Avatar. Verblüffend echt, unglaublich realistisch, märchenhaft real – scheinbar. Natürlich sind je nachdem auch andere Menschen dort anzutreffen, in dieser Matrix (wollen wir es mal so nennen), und man agiert mit ihnen, reagiert auf sie. Kann sogar mit ihnen reden. Tatsächlich gab es da ja auch dieses kleine Schwenkmikro vor dem Mund, an der üppigen VR-Brille, die eher einem Helm gleicht. Und es dauert nur kurz, bis man so gut wie vergessen hat, daß man „nur“ in einem Spiel ist, in einer programmierten Kunstwelt, die von unglaublicher Rechenleistung großer Zentralcomputer aufgebaut wird.

So weit, so gut, so einfach vorstellbar. Ein kleines Detail habe ich noch übersehen. Man wird vor dem Antritt des Spiels einen Vertrag unterschreiben müssen. Vor allem einen Haftungsausschluß. Etwa solche Formu-lierungen wie „Der Gamer ist gesund, spielt auf eigenes Risiko und stellt die XXX-GmbH von jeglicher Gewährleistung aller Art frei.“ Ja, genau, eher kleingedruckt. Aber bis das so verbindlich in allen Studios eingeführt wird und entsprechende Formulare gedruckt vorliegen, vergehen noch anderthalb Jahre. Denn die Mühlen der Bürokratie mahlen auch in der Zukunft noch so langsam wie in jeder Vergangenheit; und zuvor muß erst noch das passieren, was in dieser Geschichte hier beschrieben wird. [Wenn Sie ein ungutes Gefühl oder Angst bekommen, hören Sie bitte jetzt zu lesen auf.]

Doch wir wollen nicht vorgreifen. Lieber noch ein bißchen die Phantasie schweifen lassen, gerade zur Seite des Schönen. Wer sich für Bildung interessiert, unternimmt virtuelle Entdeckungsreisen auf diese Art: Entweder in wirklich bestehende Museen, die sich jedoch ein paar Hundert Kilometer weit weg befinden. (Allerdings auch nicht mehr allzu lang, denn sie werden ebenfalls bald untergehen, aus genau dem gleichen Grund wie die Kinos.) Oder in wirklich bestehende Orte hoher Attraktivität: Burgen und Schlösser, technische Bauten wie riesige Talsperrenmauern, gewaltige Hängebrücken oder Wolkenkratzer-Plattformen, wahlweise berühmte Wallfahrtsorte oder außergewöhnliche Naturschönheiten, beispielsweise mächtige Wasserfälle, endlose Sandwüsten oder grün überbordende Dschungelwälder.

Wer sich für Geschichte interessiert, reist in die Vergangenheit. Zum Beispiel gleich an seinem Ort, nur eben denselben zu Ende des 19. Jahrhunderts, die Zeit der Klassik oder im Mittelalter. Ein Defilee des Kaiser oder Führers mag interessant sein; spannender finden sicher die meisten, wie es damals in der Straße ausgesehen hat, wo sie heute wohnen; die Pferdebahn, den Gaslaternen-Anzünder und der Gasometer in vollem Betrieb, schnaufende Dampflokomotiven, ein Krämerlädchen und eines mit Kolonialwaren: kleine Kinder, die auf der Straße mit Kreiseln spielen, und größere Buben, die auf an Hinterhöfe anschließenden Brachen selbstgebastelte Knallfrösche oder Rauchmischungen zünden. „Dazu mischt man zwei Löffelchen Chilesalpeter mit einigen Messerspitzen rotem Phosphor – beides um wenige Pfennige in jeder Drogerie erhältlich. Es ist die gleiche Mischung, die auch unser Heer für sogenannte Vernebelungsröhrchen nutzt“, lese ich in einem Buch für Knaben zum Thema, Herausgabejahr 1942. 


Oder man schaut sich die berühmten „goldenen Zwanziger“ an, in Wien oder Berlin – und mit solchen Sachen wird es da losgehen. Denn davon liegen bereits mehr Daten vor: natürlich aus Film und Fernsehen und Zeitschriften, und aus dem kann die KI sowas leichter realistisch scheinend zusammenrechnen. Ob es in diesem Falle realistisch ist, das heißt also, leidlich wahrheitsgemäß, werden wir kaum wissen. Wir werden es weiter glauben müssen, und natürlich umso überzeugter, weil wir es ja scheinbar „völlig echt“ wahrnehmen. (Die vermutete Vergangenheit wird sich damit noch mehr einbetonieren in jene Glaubensklischees, die einst aus Hollywood stammten.)

Wer sich für den Weltraum interessiert, reist als Astronaut zu den Sternen und auf fremde Planeten. (Hier gilt das gleiche zum Thema der Wirklichkeitstreue.) Wer sich für Naturwissenschaft interessiert, könnte vielleicht als Elektron durch Teilchenbeschleuniger sausen; wer sich für die Botanik interessiert, wird zum Leoparden oder zum Fuchs und schnürt auf dessen Pfaden durchs Unterholz. - Und so weiter, und so weiter. Da sind ja kaum Grenzen gesetzt. Alles ist möglich. [Das schlimme Ende kommt noch, Vorsicht!]

Aber, ich fürchte, die schiere Unterhaltung und niedere Triebbefriedigung  wird doch wieder dominieren, zumindest anfangs. Weil der technische Fortschritt noch immer schneller ist als der menschliche. Harmloser dabei: Wer schon immer Musical-Star werden wollte, wird auf den größten Bühnen der Welt herumtanzen und singen. Wer schon immer bedeutender Reporter werden wollte, mit ABBA ein neues Interview führen - und im Anschluß eventuell mit Agnetha in einer Nische verschwinden. Umsatzstärker also, ja genau: Sex-Spiele. Am umsatzstärksten überhaupt!

Dafür gibt es natürlich in den besonderen 24/7-Clubs Separees, in denen Duftmischungen zur Anwendung kommen, um das Erleben auch olfaktorisch anregend zu machen. (Wahrscheinlich werden auch die Bordelle weitgehend untergehen.) Jeder Mann kann sich die vollbusige Traumfrau zusammenbauen, die er schon immer begehrt, und mit ihr die wildesten Phantasien ausleben. Jede Frau kann sich vom kräftigsten und schönsten Mann mit herrlich treublauen Augen auf Armen tragen lassen, ins Nest, und dort erst streichelnd und dann kraftvoller und beliebig verwöhnen lassen, ganz nach Geschmack. Sieht ja keiner, außer man selbst. Vermutlich werden alle diese ungezählten Traumfrauen und -männer genau so aussehen wie Brad Pitt und Helene Fischer. Wer wettet dagegen?

Ich wette selbst dagegen: Sobald das technisch möglich ist und die ersten Standardprogramme individuelleren weichen, wird das Mädchen aus der Traummaschine so aussehen wie neulich diese süße kleine Schauspielerin oder die rothaarige Nachbarin: man bringt einfach ein oder zwei Fotos mit (davon finden sich im ersteren Falle genug im Netz, im letzteren Falle hat man selbst einige aus dem Wohnzimmerfenster heimlich geschossen), und die werden dann digital verarbeitet und gleich eingepflegt für die ganz persönliche Wohlfühlerfahrung …

Und schließlich: Krimigeschichten dort, Kriegsspiele da. Eintauchen in den Schützengraben, vorwärtsrumpeln im Panzer, durch den Himmel jagen im Düsenjäger. Gefahrlos Krieger und Zweikampfheld werden mit Kolaflasche in der Hand und lockeren Halbschuhen an den Füßen.

Es bleibt also alles im Wesentlichen so, wie es vom Anfang des Schwarzweiß-Stummfilms über das gewöhnliche Fernsehen und Internet bis zu Computerspielen immer war: Ballern, schießen, spritzen. Ein bißchen rumgucken. Ein bißchen staunen. Aaaaaaber! Ungleich realistischer! Geradezu wahrhaftig! Für eine Stunde oder zwei, vielleicht mehrere … Absolut umwerfend. Und das ist nun brandgefährlich. Denn es wird bei dieser Variante der Unterhaltung nicht lange dauern, bis das passiert, wofür der Spieler die eigene Haftung vorab garantieren muß und sich die „Veranstalter“ absichern werden müssen … [Letzte Warnung für zartbesaitete Leser.]

Denn das Spannendste werden Selbstexperimente sein in der VR-Welt. Von harmlos bis tödlich. Ersteres: Beispielsweise mal zu einem Psychotherapeuten gehen und sich eine Beratung gönnen. Ich als Mann würde natürlich zu einer Therapeutin gehen, und wer weiß, was das für eine Therapie würde … klar, man kann ja auch diese und jene Form der Bildung, Bereicherung und Unterhaltung kombinieren, ich bin so frei, mir das auszudenken. Auch in Zukunft wird noch etwas Phantasie nötig sein. Oder sogar: noch mehr. Denn alles ist möglich!

Oder umgekehrt den Therapeuten spielen und dem Klienten völligen Stuß erzählen und dann einen Sofort-Suizid anraten. Warum nicht? Ein bißchen Spaß muß sein, schadet ja keinem. Mal sehen, was passiert … Oder zum Spaß mit dem Auto auf einen Weihnachtsmarkt rasen? (Autsch, das ist jetzt unsensibel, das ist allzu makaber --- jetzt werde ich unsicher, ob man die Programm-Möglichkeiten nicht doch ein wenig begrenzen sollte, zumindest für diesen oder jenen?) Fetzig: Einen gigantischen Radschaufelbagger im Kohlenrevier zu steuern versuchen, noch fetziger: als Agent hinter feindlichen Linien spionieren und mit TNT sabotieren. Aufregend: Als Hauptkommissar versuchen, einen realen Fall selbst zu lösen, oder Sprengmeister des größten Staudamms sein; und in diesem Fall fällt dann mal einem Spieler ein, daß man die Zündung ja auch abenteuerhalber von einem Standpunkt ein paar hundert Meter unterhalb im Tal aus machen könnte - mal sehen, was dann geschieht! Die ungeheure Wasserlawaine auf sich zukommen und nur kapp vorbeirollen zu sehen. Oder …? Hm. Letzteres … Ja, so, etwa wird es losgehen! Jemand wird wissen wollen, wie es dann aussieht, wenn sie über einen hinwegwalzt. Oder wie es ist, nun von der höchsten aller Hängebrücken hinabzustürzen ins Tal. Und genau mit dieser Kick-Erfahrung werden bald die VR-Studios werben! Mit der eigenen Todeserfahrung, oder vielmehr: Mit der Angst davor!

Und das ist nun neu, erstmals vollkommen neu: Dem Spieler kann der eigene Tod versprochen werden, etwa in einem selbsterlebten Krimi. Ob er dabei nun Räuber oder Gendarm, Verbrecher oder Polizist ist oder nur harmloser Augenzeuge oder Betrachter  völlig egal: „Opfer-Modus!“ lautet die für das jeweilige Programm wählbare Zusatzoption für alle, die den untimativen Reiz suchen! Den Adrenalinausstoß. „Egal, was du tust oder wie du agierst: Bereite dich auf die letzte Erfahrung vor, schaue dem Tod in die Augen, und erlebe ihn! Unerwartet, fotorealistisch, mit absoluter Schockerfahrung und realistischen Klangeffekten! Wir sagen dir nicht, wann es passiert – wir versprechen dir nur, daß es passiert!“  (So ungefähr wird es heißen, in derselben schauderhaften Duz-Imperativ-Stilistik wie in der heutigen Allerweltsreklame.)


Selbstverständlich kann der Modus jeder virtuellen Reise zugeschaltet werden. Ober nun jemand einen Militärhubschrauber selbst fliegen will und dann abstürzt, oder noch notlandet im feindlichen Gebiet, um dann gefangengenommen und erschossen zu werden, oder im Foltergefängnis stirbt oder im Lazarett an Gelbfieber verreckt, oder nach dem glücklich überstandenen Gefangenenaustausch auf den letzten Metern vor dem Zuhause noch mit dem Auto wegen Eisglätte die Böschung hinabdonnert und im Auto verbrennt – alles möglich, alles vorher nicht bekannt, da von einem Zufallsgenerator in der KI berechnet. „SCHAU DEINEM TOD IN DIE AUGEN“, lautet die maktschreierische Werbung dazu, und alsbald wird man herausfinden – was das unbestreitbar Gute an der Sache ist! – daß jeder, der es in der VR-Welt wenigstens einmal „realistisch“ erlebt hat, keine Angst mehr hat vor dem eigenen Sterben im der Wirklichkeit. Daher wird es bald ein Massensport: „Hast du es schon gemacht?!“, lautet die wichtigste Frage bald unter Spirituellen, Glückssuchern und vermeintlichen wie tatsächlichen Lebenskünstlern. Unter Digitalhippies wie Muskelproleten. „Wie oft?“.

Aber was in der „echten“ Wirklichkeit, nach dem Absetzen der Brille, da draußen wieder geschieht nach dem Tod: Wir wissen es dann immer noch nicht, und glauben es nur. Glauben, daß danach die nächste Ebene beginnt. Ein neues Spiel. Eine andere Kulisse dasteht. Aber immerhin!

Von Jean-Luc werden wir es nicht erfahren. Er kann es uns nicht mehr sagen. Er war einer von den ersten, die die eigene Todeserfahrung im Spiel gesucht haben, obwohl er eigentlich nur auf Bildungsreise durch eine untergegangene Stadt unterwegs war. Ihn hatte nur interessiert, wie der Ort, wo sein Freundin wohnte, früher ausgesehen hatte, vor dem 16. April 1945. Als alliierte Bomber aus Mangel an weiteren Zielen – alles andere hatten sie längst in Asche und Schutt gelegt – die alte Residenz-Stadt Zerbst zu 80 Prozent zernichteten, und den größten Teils des Rests im Anschluß noch 10 Tage vom Boden aus zerschossen. Gerade noch 12 Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des Landes.

Es hatte ihn nur interessiert, wie das alte Schloß und die pittoresken Sträßchen und heimeligen Gassen ausgesehen hatten, wo Prinzessin Sophie Auguste Friederike, die spätere russische Zarin Katharina die Große, ihrerzeit ein- und ausging. Das Geschichtsprogramm in seinem VR-Studio hatte damit geworben, alle mitteleuropäischen Städte, auch die kleineren, quasi in allen Epochen ihren Bestehens darstellen zu können. Größtenteils realistisch, soweit Unterlagen, Karten, Stadtpläne und später Fotografien sowie Beschreibungen und Reiseberichte als auch Chroniken und uralte Baudokumente aus öffentlicher und privater Hand vorlagen. Und in den ferneren Bereichen auf dem Zeitstrahl, der sich jeglicher Belichtung entzog, eben allein aus Vergleichsdaten und Annahmen computergeneriert, soweit das eben noch halbwegs plausibel zu machen war. Und das war doch längst einiges.

Und dann hatte er sich im letzten Moment, kurz vor Betreten des Raumes, noch von dem jungen „Tour-Guide“, wie die Gästebetreuer hier hießen, dazu überreden lassen, diese hier neue Funktion zu testen: Die eigene Todeserfahrung, „der absolute Kick!“. Mache die Sache viel spannender vorn vornherein, hatte der Typ noch behauptet, und er werde zehnmal soviel aus dieser Reise herausholen für sich, für sein ganzes Leben. Zum gleichen Preis! Eine Erfahrung, die er nie mehr vergessen würde! Und auf jeden Fall erst gegen Ende des Spielzeitraums, das sei garantiert, damit ihm also die vollen 2,5 Stunden "User-Time" mehr oder weniger garantiert blieben, natürlich! „Ich hab das schon mehrmals gemacht, es ist der absolute Oberhammer!“, strahlte er überlegen. Jean-Luc hatte sich überreden lassen.

Als er aus einem geheimnisvoll aussehenden Keller eines alten Eckhauses heraus trat und gerade seine Öllampe vor das Gesicht heben wollte, um die Flamme unter der verrusten Glasglocke auszupusten, sprang unvermittelt ein riesiger, schwarzer Köter mit furchtbarem Gebell und aufgerissenem Maul an ihm hoch und durchbiß ihm die Kehle. Er glaubte noch einen schneidenden Schmerz zu spüren und einen Schwall heißes Blut durch seinen Hals und Kopf pulsieren zu fühlen, doch da war er schon tot. Das Herz war ihm im gleichen Augenblick stehengeblieben, und den heftigen Stoß  als er mit seinem Kopf auf dem Boden aufschlug und sein Spielehelm abfiel  merkte er schon nicht mehr.

 

 

E p i l o g

Die kleine Stadt, sie war lange schon tot gewesen. Die Freundin des jungen Mannes aber weinte wochenlang und nahm sich dann ihr Leben: Der unfaßbare Krieg von damals brachte noch 100 Jahre nach seinem Ende zwei liebende Menschen zu Tode. Ohne ihn hätte es wohl weder die Zerrüttung und Entwurzelung ganzer Generationen gegeben, später Pornografie, Profitgier und besinnungslose "Spaßkultur", die Sucht nach dem ultimativen Rausch, das irre Reklamegeschrei allerorten. Und keine schwachen Herzen vereinsamter Kreaturen.


 

 



12. März 2025

[In eigener Sache] Medfux-Chronik enthüllt!

Die Sensation des Jahrhunderts! Erstmals wird die Geschichte von MEDFUX publiziert. Ungeschönt, quellenkritisch, substantiell. Von den allerersten Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart - unter Nutzung uralter und aktueller Quellen, historischer Schriften und zeitgenössischer Belege. Und mit bisher völlig unveröffentlichtem Material aus dem hauseigenen Archiv. http://medfux.de/media/pdf/Medfux-Chronologie.pdf

21. Februar 2025

[Gedicht] Künstlers Nachtlied

                                 


          Wie ungern wär ich, hach!, die SONNE.

Müßte pünktlich früh aufstehn,

jeden Tages gleichwärts gehn:

Strenge Zucht, und immer lachen,

alles sehn, nicht Faxen machen,

morgengrauend Gras abtauen,

Spießern auf die Arbeit schauen.

Immer schaffend, selten Wonne!

  

Nein, viel lieber doch der MOND,

der versteckt im Dunklen wohnt!

Laß die andern lichtvoll prahlen,

müßig mich vom Glanz bestrahlen.

Kann mal kommen, kann´s mal lassen,

kann Diät halten und prassen! 

Obskuranten still belächeln,

geistvoll´ Künstlern Nachtluft fächeln,

Sternenschwärmern alles zeigen,

mich vor Liebenden verneigen. 

Lunzen heimlich in die Katen,

über Seen und Sümpfe waten,

und in trocknen oder feuchten

Au´n dem Fuchs zum Mausen leuchten.


 

Ach, wie gern wär ich der MOND,

der erhaben droben trohnt.

Ließ die andern wichtig scheinen,

heute jubeln, morgen greinen:

nichtig Wirken, eitel Wille!

 

Ich – die graue Eminenz der Stille …


24. Januar 2025

[Historische Betrachtung] KriegerLust

Es gilt als allgemein bekannt, daß die alten Germanen wilde Krieger waren. Sie wurden vom Weltreich Roms nie bezwungen. Wenn es zu Schlachten kam, stürzten sie sich mit entschlossenem Kampfesmut und unbändigem Eifer auf ihre Feinde. Wogte die Schlacht zurück und eine Niederlage dräute, befeuerten deren ebenso leidenschaftlichen blonden Frauen ihre Kämpfer auf ungewöhnliche Weise: Sie rissen sich die Kleider auf und zeigten ihre entblößten Brüste. Das soll die Krieger zu einer urlebendigen Extase zwischen Blut- und Lustrausch aufgestachelt haben, der niemand widerstehen konnte. 


Man sieht es vor sich: Während fell- und lederbekleidete Männer Keulen schwingen und mit Spießen gegen den Feind anrennen, wogen nackte Brüste – dicke, große, volle – am Rand des Schlachtfelds hin und her, unter Gekreische und Geschrei; dazwischen blitzen straffe und zierliche Brüste lockend auf wie kleine Schutzschilde, Waffe und Siegtrophäe zugleich. Man kann sich vorstellen, wie die Angst um diese schönen Gaben den Mut der Verzweiflung zusammenpumpt, und gleichzeitig eine überlegene Kraft, aus Schönheit und Lust sich speisend, und dem Gefühl der sippenhaften Gemeinschaft, schürt und auflodern läßt …

 

Ob es so kitschig war oder anders: es ist eine schöne Geschichte! Sie lenkt die volle Aufmerksamkeit des bebrillten Historikers auf Zeit und Raum der Schlacht, des Gemetzels, auf das bunte und lärmende Getümmel. Was der nach wie vor bebrillte Historiker nicht betrachtet und sieht, und folglich nicht bedenkt, ist das Danach. Das Danach, das ebenso kampfentscheidend war für die Germanen. Nach dem Blutrausch stürzten sich alle Mannen und Weiber in einen kollektiven Liebesrausch: Fortsetzung des Kampfs mit anderen Mitteln, Ausweitung der heftigsten Lust und Belohnung für den eigenen Willen, sich dem Kampf auf Leben und Tod gestellt zu haben, Dank für den Sieg. Verlängerung der Rauschwirkung in Kopf und Seele, einigendes Band der Sippe. Ebenso, wie alle Männer alle Brüste aller Frauen inmitten des Feldgetümmels gesehen hatten und sich ergötzten, gemeinsam bangten und sich schlugen – ebenso gemeinsam fielen sie nun über ihre Frauen her. Kreuz und quer, jeder mit jedem, ein barbarisches Fest der Sinne und der einigenden Besinnungslosigkeit; eine Schlacht der Liebestollheit nach der Schlacht, andere Schwerter in andere Leiber stoßend. Das fast gleiche Geschrei und Getöse; ohne Waffenlärm, dafür im Einklang mit tausend kehligen Weiberstimmen und gottgegebener Natur.


Ja, sie nahmen nicht die Weiber ihrer geschlagenen Gegner, die Weiber aus dem zu jeder kämpfenden Horde gehörenden Heeres-Troß, zum eigenen Triumph und zur Erniedrigung der Feinde; nein, sie nahmen ihre eigenen Weiber, in neu entfachter Liebe, in Dankbarkeit; in luststeigerndem Durcheinander samt tausend neuen Reizen und umschlingendem Band der Gemeinschaft.  Machte das nicht ihre wahre Stärke aus?



20. Januar 2025

[Satire] 5 Methoden, um garantiert 100 Jahre alt zu werden!

 


Es gibt da bombastische Versprechen. Also Versprechen, wie man 100 Jahre alt wird. Wobei man annehmen darf, daß sich dereinst derjenige, der Ihnen das versprochen hat, bei Nichterfüllung herausreden wird damit, daß er sich nur versprochen hat. Die handelsüblichen und mediengängigen Versprechen dieser Art für 99 Cent lauten etwa wie folgt:

Verzichten Sie völlig auf Kohlenhydrate wie Eis, überfordernden Körperstreß wie Geschlechtsverkehr und englische Kinofilme. Nehmen Sie dafür jeden Tag um 5.30 Uhr direkt nach dem Aufstehen 90 Gramm frisch gequetschte Chia-Samen gemischt mit turkmenischem Hochlandgranatapfelmus im Handstand ein, meditieren Sie zu jedem Voll- und Neumond mindestens 2 Stunden alt-peruanische Mantras von glücklichen Schoschonen und ziehen Sie in ein frisch mit Vulkan-Myrrhe ausgeräuchertes Haus in abgeschiedener Berglage auf wenigstens 2200 Metern Höhe, doch streichen Sie dort zuvor alle Wände mit elektronischer Kümmelkalkmilch auf Faraday´scher Basis gegen kosmische Erdstrahlung und trinken Sie nur noch frischgezapftes, ardesisches Quellwasser aus Zamonien bei 35 Grad. Prosaischer: Verzichten Sie auf alles, was Spaß macht, tun Sie das Unmögliche und drangsalieren Sie sich obendrein pausenlos mit schlechtem Gewissen.

Das sind natürlich alles Heißluftkraftwerke für Eskimos, 3D-Kino für Einäugige und Blinde oder feinstes Rinder-Carpaccio für buddhistische Hindus. Der Normalbürger kann sich das alles nicht leisten, und der Zeit- oder Geldmillionär macht es auch nicht länger als 4 Wochen, weil’s dann fad wird. Und weil ein neues Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, wo ungefähr das genaue Gegenteil gepriesen wird, um ans gleiche Ziel zu kommen. (Oder wo drinsteht, daß alt werden sowieso doof ist und die besten jung sterben.) 

> Wöllten Sie denn wirklich so alt werden, 100? Ich finde es wenig erstrebenswert. Nach meiner Erfahrung merkt man das Älterwerden eigentlich nur daran, daß alle um einen herum jünger aussehen. Daß einen ungeheuer gutaussehende Mittdreißigerinnen überhaupt nicht mehr wahrnehmen (es sei denn, sie sind der eigene Hausarzt), anstatt einen so wie früher deutlich erkennbar zu ignorieren. Daß die Leute immer einfältiger und wissensärmer werden, ja, sagen wir es ruhig auf deutsch: vollverblödet. Mehr Waffen für mehr Frieden! Und daß die gesamte Technik, die übermäßig viele Lebensbereiche völlig unnütz überflutet und durchwirkt, dauernd komplizierter wird. Dafür, daß man niemanden mehr richtig versteht, weil alle so wahnsinnig schnell (und lächerliches Zeug dazu) reden, und man dafür im Gegenzug seien Tee dauernd versabbelt, weil die Henkel an der Tasse irgendwie neuerdings so wabbelig sind. Von Wein und Bier hat man sich sowieso längst verabschiedet, weil´s bitter schmeckt, längst nicht mehr so schön dreht wie früher, und weil es nicht zu den roten und gelben Tabletten paßt. Noch schlimmer: Dauernd erfährt man, daß irgendwelche alte Bekannten längst unter der Erde sind, und auch mein armer alter Kater – äh, wie hieß er noch gleich? – hat leider schon die Pfötchen hochgedreht. Ach ja, meine Frau ja auch. Schlimm!

Wollen Sie wirklich 100 werden? Meinetwegen! Heutzutage kann ja jeder wollen, machen und werden, was er will. Zum Beispiel selber Frau. - Das war früher auch noch besser. Da hat man eben Schmied gelernt, weil der Vater es so wollte, oder Wehrwissenschaft studiert, weil der Staat es so angeordnet hat.

So oder so! Ich kann Ihnen jedenfalls 5 wirklich sichere Methoden verraten, wie Sie wirklich 100 Jahre alt werden können! Und die sind viel einfacher zu bewerkstelligen als alle sonstigen. Als alle, von den Sie je gehört haben.

Methode 1

Sie trinken lediglich ein Glas handelsübliches, kühles Mineralwasser täglich. Und das 18 250 Tage lang. Es funktioniert hundertprozentig, dafür garantiere ich. Lediglich Ihr jetziges Alter ist noch eine Variable bei dieser Methode, die allerdings nicht allzuviel Einfluß hat oder sogar begünstigend wirkt. Erstaunlicherweise sind hierbei gerade nicht die Jüngeren im Vorteil, sondern die Alten. Wenn Sie die 60 schon erreicht haben, reicht es völlig, knapp 10 000 Mal ein Glas solches Mineralwasser zu trinken! Aber Maß halten, wirklich jeden Tag nur eines, sonst funktioniert es nicht. (Mehr zu trinken führt auch nicht dazu, daß man damit jünger wird.)   

Methode 2

Noch einfacher! Wir nutzen allein Denkkraft und Phantasie. Die Frage lautet: Was ist 100 an sich, was ist das überhaupt? Wie sieht 100 als solches aus? Sind es 10 mal 10 Quadratmeter Irgendwas, sind es eine hingeschriebene Zahl oder drei aufrecht stehende, von innen beleuchtete Plexiglasziffern in Leuchtorange, 5 Kästen voller Weizenbierflaschen oder die Beine von 25 schwarzen Schafen? Egal, denken Sie sich, was sie wollen und am besten können, und stellen Sie sich das intensiv vor. So intensiv, wie irgend möglich. Nach aller Erfahrung genügen da wenige Denk-Augenblicke die Stunde, und das dreimal am Tag. Spätestens nach einer Woche werden Sie die manifeste Form – Beine, Bier, Ziffern und Fläche - verblassen lassen können und sehen nur noch die reine 100, völlig abstrakt.  Und nur wenige Übungen später werden Sie alles andere völlig ausblenden und übersehen können. Hintergrund, Vordergrund, Nebengeräusche, Gerüche und sonstige Gedanken. So lange Sie jetzt daran denken, sind Sie 100. Nichts weiter! 100. 100. 100. 100. 100.

Methode 3

Noch viel einfacher! Wir teilen gemeinsam die Zeitabläufe kürzer ein. Nehmen wir an, Sie sind jetzt 50. Sie verstehen also mittlerweile, daß alle paar Jahre oder spätestens Jahrzehnte eh alles auf den Kopf gestellt wird; daß jenes, was eben noch die Menschheit rettete vor dem völligen Verderben, entsetzliches Teufelszeuch ist - und umgekehrt heute Gallengift-Geächtetes morgen der Weisheit letzter Gesundheitsschluß! Nicht wahr? Quecksilber wird nicht mehr auf Wunden gesalbt, sondern bereits in homöopathischen Dosen im Vollschutzanzug auf Sondermülldeponien entsorgt; Kohlendioxid ist nicht mehr wichtigste Pflanzennahrung, um den Planet schön grün werden zu lassen, sondern das schlimmste Baum-, Busch- und Blüten-Teufelszeug, welches die Erde zur völligen Verwüstung treibt! Eben noch sorgte Radiumzahncreme für strahlend weiße Zähne, schon sollten Sie sich überlegen, wie oft Sie noch in den Keller gehen wegen erhöhter Radonbelastung da unten. In Ihrer Jugend noch wurde jeder Fremdkörper im Körper eilig daraus entfernt, sei es der Granatsplitter von der letzten Nachbarschaftskeilerei beim Herrn oder eine zu weit nach oben gerutschte Möhre bei der Dame. Heute sind Sie völlig von gestern, wenn Sie nicht wenigstens einen Ring durch den Bauchnabel oder ein Hautstempelbildchen zwischen den Schenkeln haben. Neulich noch Schulabbrecher, dieser Tage bereits Bundesminister. Vor einigen Monaten hieß die Ukraine noch Ostblock, derzeit ist sie unverzichtbarer Bestandteil Westeuropas. Gestern waren Faschisten alle rechts und einer davon Vegetarier, heute sind alle … ach, man verliert einfach den Durchblick, durch diese dauernden Umkehrungen! Eben noch sollte wachsende Industrie für blühende Landschaften sorgen, schon ist es wieder andersrum.

Also, es wird wohl doch höchste Zeit für eine Reformation auch der Zeit! Wie Sie wissen, ist die seit Menschheitsgedenken nicht mehr aktualisiert worden. Wir teilen also einfach die Jahre in zwei Hälften, jeweils sinnvollerweise von der Wintersonnenwende bis zur Sommersonnenwende und umgekehrt. Ist das nicht überfällig? Oder vielleicht noch besser, wir feiern jeweils Jahreswechsel zur Tag- und Nachtgleiche! Seien Sie ehrlich, Sie fühlen sich doch im Sommer eh ganz anders als im Winter. Dieser Unterschied dürfte erheblich größer sein als der zwischen 35 und 40! Da bietet es sich doch nachgerade an, ein Jahr jeweils nach dem April zu beschließen, und dann nach dem Oktober abermals! Obendrein könnten wir auf diese Weise doppelt so oft Silvester feiern, wie schön!, und wären ganz nebenbei bereits 100 Jahre alt. – Leider geil, ja!

Methode 4

Dafür brauchen Sie lediglich einen Freund, der Informatiker ist, die Phantasie für eine neue Vergangenheit, und allenfalls noch Schere, Stift und Papierkleber. Damit sollten sich ein paar wenige Dokumente fälschen oder neu basteln lassen. Noch einfacher: Sie reisen irgendwo ins Ausland, wo Sie ganz schlecht die jeweilige Landessprache beherrschen, und beantragen dort einen neuen Paß, weil Ihr alter verlorengegangen ist. (نصيحة للأجانب غير الناطقين بالألمانية *: In Deutschland soll das gerade sehr gut funktionieren.) Jetzt aufgepaßt!: Wenn Sie nach dem Geburtsjahr gefragt werden, geben Sie irgendwas an, was etliche Jahrzehnte nach Ihrem tatsächliches Geburtstag kommt. Das hängt im Detail von ihrem jetzigen Alter ab: ein ganz klein wenig rechnen ist für diese Methode unerläßlich. Mit den neuen Papieren läuft dann nicht nur wahrscheinlich alles viel besser, sondern sie sind der 100 mindestens erheblichst nähergerückt – falls nicht schon erreicht.

Methode 5:

Die einfachste von allen! Jederzeit und überall anwendbar, sogar im nachhinein. Ohne jede Qual, oder jeden Verzicht, dafür mit maximalem Spaßfaktor: Sie lügen einfach, wenn Sie nach ihrem Alter gefragt werden! Entweder sagen Sie auf die Frage nach dem Geburtsjahr schlicht und sachlich immer 100. Die Antwort ist gut, aber müßte sich bei wiederholten Fragen derselben Person jeweils anpassen: Nach ihrem übernächsten Geburtstag müßten Sie korrekterweise 102 angeben, um nicht der Unwahrheit verdächtigt zu werden. Das ist auf die Dauer kompliziert, noch dazu bei dem Alter! Besser also, Sie prägen sich gleich das Geburtsjahr oder den ungefähren Zeitraum ein, sowas wie 1145 oder 17. Jahrhundert. Im letzteren Fall können Sie darauf verweisen, daß man es damals noch nicht so ganz genau genommen hat mit der Zählung; oder daß Ihre Geburtsurkunde im 30jährigen Krieg verbrannt ist, oder im Kaiserreich eine Verwechslung stattfand, oder überhaupt! (Die grünen Jungspunde sollen gefälligst nicht so viel fragen und erstmal trocken werden hinter den Ohren, ETWAS MEHR RESPEKT BITTE VOR DER WEISHEIT!!) Oder sie nennen eine jüngere Jahreszahl, das mag glaubwürdiger klingen, jedoch nicht nach 1925. Das sollte genügen.

Na, bin ich gut? 5 Methoden, garantiert 100 Jahre alt zu werden, für lau. Oder vielmehr für gar nichts. Völlig gratis, absolut kostenlos. Da vergeht Ihnen hören und sehen, da zieht es sie rückwärts die Maulwurfsrutsche hoch, das haut Sie glatt aus den Latschen, da drehen Sie zweimal im Grab um, und zwar jetzt schon, was? Ich gebe zu: Obwohl meine Empfehlungen voll hochseriöser Wissenschaft und Verbindlichkeit sind, habe ich sie um der besseren geistigen Verdaulichkeit mit drei Prisen Humor gewürzt. Aber maßvoll! Selbstverständlich hätte ich sie auch so formulieren können, daß Sie sich beim Lesen totgelacht hätten! Aber dann wäre es auch noch umsonst gewesen.

 

* dt.: Tip für nicht Deutsch sprechende Ausländer

 

 

 

16. Januar 2025

[Mystische Erzählung] FEUERTAUFE



Ein Scheit wurde in die Feuerschale nachgelegt. Ich nahm noch einen Schluck vom Steinbier. Die Turmglocke des kleinen Kirchleins unterhalb des Gartens läutete. Ich zählte halbbewußt in Gedanken mit und erwartete erst vier höhere, dann noch mal eine Anzahl tiefere Schläge. Nach den vieren ging es aber gleich weiter, ich war irritiert – und fiel dadurch aus dem Gespräch. Ich schnappte das Wort „Verschwörungstheorie“ auf, und sogleich schien die Gesprächsrunde deutlich lebendiger zu werden – zählte einen, zwei Schläge weiter – wunderte mich, und versuchte gleichzeitig, den Gesprächsfaden wieder durch mein Ohr laufen zu lassen. Ich nahm an, jetzt würden wir gleich so oder bei einer gewissen Katastrophe mit zwei Flugzeugen landen, die seltsamerweise mit dem Einsturz von drei Häusern einherging. Und dazu gedachte ich auch etwas Kerniges beizutragen! Beispielsweise, daß unabhängig von jeder Geschwindigkeit immer das weichere, oder vielmehr, das weniger Dichte zuerst kaputt gehen muß. Eindeutig das Flugzeug! Physik 8. Klasse. Genau wie damals bei diesem Unfall in …

Derweil schlug die Kirchturmuhr schon das sechste Mal, dann das siebte, und dann stob mir mit einem heftigen Zischen im Feuerholz ein Funken entgegen und anscheinend nah rechts am Hals vorbei; puh, das hätte auch leicht ins Auge gehen können, stob mir der passende Gedanke dazu nur wenig oberhalb jenes Funkens durchs Haupt! Offenbar war das Holz nicht genug abgelagert. Ich gab mir Mühe, das Zählen nicht zu vernachlässigen, und gleichzeitig die in der milden Nachtluft schwebenden Worte nicht zu verpassen. Aus dem aufgeschnappten Begriff „Esoterik“ entnahm ich, daß es doch in einer anderen Richtung weiterzugehen schien, und ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit mit einem „Aber was ich noch zum Vorigen sagen wollte“ dem Gespräch wieder eine Wendung zu geben und ihm mit meiner hübschen Theorie einen saftigen Drall zu verpassen.

Unterdessen – ich hatte bereits auf zehn Schläge gezählt, immer noch verdutzt – zog ein nicht sehr starkes, aber doch deutlich wahrnehmbares, anschwellendes Hintergrundrauschen meine Auf-merksamkeit auch noch an sich. Eigentlich kein Rauschen, mehr ein, äh, vielleicht leises Grollen, Rumpeln, hm, wie soll man es richtig beschreiben? Ein Dröhnen? Nein, so laut ist es nicht … dröhnen klingt ungeheuer laut! Es war nicht laut – wohl doch mehr ein Rauschen. Aber nicht wie am Meer, natürlich nicht, wie sind ja mitten im Zentrum des Landes! Auch nicht wie vom Wind, nicht so zart, sondern eben doch mit rumpelnden, tockenden Elementen, ungleichmäßiger als Naturgewalten. Schwer zu beschreiben in seinem Klang, aber leicht vermittelt nach der Identifizierung: Die Eisenbahn. Offenbar der letzte Zug, der etwa 2 Kilometer entfernt auf einsamen Gleis am Dorf vorbeifuhr, nicht mal bremsend an dem Bedarfshaltepunkt, dem nun wieder gleichmäßig abnehmendem Geräusch nach, weit außerhalb vom Ortskern …

Die anderen hatten es, vertieft in ihr Gespräch, gar nicht wahrgenommen. Und ich hörte nun endlich nichts mehr vom Kirchturm her, nach elf Schlägen. Da es nur um Elf sein konnte, mußte ich die 4 Schläge zur vollen Stunde völlig verpaßt haben; ich konnte mich auch nicht erinnern, 15 oder 30 Minuten vorher wenigstens den Dreiviertel- oder Halbstundenschlag gehört zu haben. Oder sollte der Kirchturm nur eine einzige Glocke besitzen (immerhin nur ein kleines Dorf), die sowohl Stundenschlag als auch Stundennachschlag zählt? In anderen Teilen Europas ist das wohl allgemein so üblich, in Italien etwa – ich hatte das bei Urlauben beobachtet, aber bei uns halte ich das für unwahrscheinlich. Vielleicht tickte die Uhr auch nur einfach nicht richtig im Oberstübchen.

Ich nahm mir noch vor, darüber eine Bemerkung in die Runde zu machen, zum Nachteil meiner Geheimdiensttheorie in Sachen Hochhauseinsturz, doch mittlerweile ging es um etwas ganz anderes. Und zwar etwas, was meine Aufmerksamkeit mehr noch fesselte. Ich hatte mir dazu noch keine richtige Meinung gebildet, und einer der Anwesenden schien zumindest ureigene Erfahrungen mit dem Thema „Tischerücken“ vorweisen zu können. Das versprach, spannend zu werden. Ich griff wieder zu dem guten Bier, die Flasche und sein Inhalt waren leider durch die Nähe zum Feuer nicht mehr kühl genug, dennoch appetitlich, und hörte hin. Alle konnten etwas beitragen, jeder hatte zumindest davon schon gehört oder kannte jemanden, der seinerseits schon Erfahrungen mit Geistern gemacht hatte oder gemacht haben wollte. Einmal waren tatsächlich Tisch oder auch Gläser wie von selbst gerückt, überraschende Antworten scheinbar aus dem Jenseits (oder sonstwo) gegeben worden, ein andermal kam nur Unsinn dabei heraus oder derjenige, der sich als (vom Geist inspiriertes?) Medium ausgab, erzählte und tat nichts, was nicht auch jeder andere hätte tun können. Die Freundin des Gastgeberpärchens äußerte entschieden, so oder so mache ihr die Sache Angst, und bei allem Interesse dafür würde sie ein solches Experiment keinesfalls bei sich zu Hause durchführen wollen, um einen gewissen Abstand zur Sache zu haben, oder, wie sie sich ausdrückte, „die Geister nicht wieder loswerden“ zu können. Ich brachte vor allem Skepsis in den lebhaften Austausch ein mit dem grundsätzlichen Gedanken, daß eh jeder sieht und hört, was er zuvor schon glaubt, und war ein wenig über das Unfruchtbare des Gehörten enttäuscht. Man muß am Ende eben doch alles selbst ausprobieren, wenn man es genau wissen will, sonst kommt man zu nichts, sagte ich mir mal wieder, und äußerte das in der Art auch so.

Das schien in das nun ohnehin kraft der Holzscheite auflammende Feuer ein Schwapp Öl gewesen zu sein. Mir wurde entschieden widersprochen, immerhin gäbe es sowas wie eine objektive Realität und auch die realen Erfahrungen anderer, auf die man durchaus vertrauen könne und auch müsse – schließlich könne man nun mal nicht alles selbst überprüfen, dazu sei die Welt eben zu groß – und so kamen wir die nächste Viertelstunde wieder in eine schwungvolle, anregende Diskussion, zu der jeder das Seinige lebhaft beitrug. Es ist wohl immer so: Je mehr es um die Dinge geht, die man unmittelbar persönlich erleben, die man leicht überprüfen kann, desto entschlossener und hartnäckiger werden unterschiedliche Meinungen dazu vertreten, wird um den „richtigen“ Standpunkt gewetteifert: Ob man Holz so oder so richtig behandelt oder ob der Staat nun noch sinnvoll und leidlich stabil ist oder ob völlig marode, morsch und überfällig; bei Dingen hingegen, die noch nie auch nur ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat, desto einhelliger der Glaube daran! Daß es irgendwann mal Phönizier mit Tontafeln gegeben hat und der Mensch vom äthiopischen Affen abstammt und daß es unsichtbare Strahlung, Millionen Jahre alt, aus dem Weltraum gibt …

„Leute, jetzt erzähle ich Euch mal eine Geschichte!“,

hörte ich plötzlich jemanden sagen, mitten in meine Denkturbulenzen hinein, und erkannte darin mich selbst. Der Flammenschein warf rötliches Licht auf drei Gesichter, die mich anschauten.

„Eine Geschichte, die wirklich unklar ist, seltsam, aber von der ich aus erster Hand weiß. Oder sagen wir, ich hab einiges davon überprüft, es stimmt!“

Was ich vorzutragen gedachte, weil es mir eben eingefallen war von sonst wo, handelte von einem Händler in … nun, lassen wir besser mal die Namen weg – die Welt und die Branche ist ein Dorf, und man kann allzu leicht Rückschlüsse ziehen auf die wahren Personen, und ich will weder Ärger kriegen noch jemandem Unmut machen – also einem Händler in einer größeren Thüringer Stadt, der schon zu Ostzeiten ein privates Geschäft betrieb, im technischen Bereich. Stand wohl damals sehr gut da, weil er mit seinen Produkten eine Nische ausfüllte, und weil noch so viel selbst repariert wurde. Aber auch nach der Wende konnte er sich mit seinem Fachgeschäft gut über Wasser halten, mangels Konkurrenz. Allenfalls hätte man die Teile, die er vorhielt und anbot, über Kataloge oder später das Internet bestellen können, oder in einer Handvoll großer Läden, aufgeteilt in zwei, drei großen Städten, direkt kaufen können.

„Also jedenfalls eine ziemlich unglaubliche Geschichte“, sagte ich noch vorab, „und ich kann mir keinen Reim drauf machen. Ich würde sie auch nicht glauben, wenn ich, wie gesagt, nicht selbst wüßte, daß sich das so abgespielt hat – jedenfalls das, was ich selbst sehen kann. Ob nun Geister oder nicht“

setzte ich noch hinzu, grammatikalisch fragwürdig, um den Anschluß zum Thema zu verdeutlichen. Die Gesichter wurden noch fragender.

„Vor drei oder vier Jahren kam ein Mann in das Geschäft und wollte etwas zurückgeben oder reklamieren, was er zuvor gekauft hatte. Es funktionierte wohl nicht korrekt. Der Verkäufer … doch halt, ich muß noch vorausschicken, also, das Geschäft lief sehr gut, wie gesagt, auch weil der Ladeninhaber eben eine treue Stammkundschaft hatte, und weil er sich bestens auskannte in seinem Metier, gute Tips und Ratschläge geben konnte … vielleicht nicht der Typ überschwenglich-freundlicher Vertreter, der einem Komplimente macht und beschwatzt und  für alles und jedes eine Lösung zu haben vorgibt, aber eben doch wirklich kompetent und ernsthaft, ehrlich, na ja, sagen wir, grundsolide. Integer.“

Ich unterbrach mich, weil mir eben der Gedanke kam, daß die anwesenden Zuhörer den Mann, das Geschäft, ja womöglich kennen konnten, und ich erfragte das. Aber nein, mein Freund, der Gastgeber,  war ja vor wenigen Jahren erst zugezogen, und die Damen sowieso auf diesem eher technischen Feld nicht unterwegs.

„Es war eben auch der gute Service, den er – oder sie – boten: Er hatte einen Mitarbeiter, oder sogar zwei. War ja nicht ganz klein, das Geschäft. Gut. Also da wollte ein Kunde was zurückgeben, was er vorher gekauft hatte. Der Händler weigerte sich aber ausnahmsweise, weil er sicher annahm, daß das beanstandete Teil beim Käufer selbst durch Unachtsamkeit kaputtgegangen war. Er kannte sich wirklich gut aus, man konnte ihm nicht so leicht Geschichten erzählen. Der Kunde beharrte aber auf seinem Rückgaberecht, einerseits wegen des Defekts, andererseits wegen angeblich allgemeiner Umtauschmöglichkeit – ich weiß gar nicht, ob das bei solchen Dingen eigentlich auch gilt, und in kleinen Geschäften …“

„Doch, zwei Wochen kannst Du alles zurückgeben, auch ohne Begründung!“

 

sagte die rechts neben mir sitzende Gastgeberin, und ich wollte dagegen etwas einwenden, und auch meine Partnerin, die vierte der Runde, schickte sich an zu einem Widerspruch; doch mit einem weisen Hinweis meines Freundes kamen wir diesmal nicht auf einen gesprächlichen Nebenpfad der Geschichte, sondern ich setzte direkt fort.

„Na, jedenfalls, der Verkäufer hatte ihm dann wohl noch, mehr aus Kulanz, angeboten, das Geld zu verrechnen oder eine Gutschrift auszustellen: Aber der Kunde wollte unbedingt sein Geld zurück und sonst nichts! Daß das so war, weiß ich sicher, daß habe ich später selbst gehört. Ich stand nämlich in dem Geschäft, als der Verkäufer das jemandem erzählte. Übrigens gar nicht etwa aufgebracht oder wütend oder eben sehr einseitig aus seiner Sicht, sondern durchaus abwägend, vielleicht etwas verklärt oder betrachtend … jedenfalls eher kühl. Wie gesagt, es war auch wirklich nicht etwa Hitzkopf, sondern eher so ein technischer Typ, vielleicht ein bissel in Richtung bürokratisch, rational … jedenfalls unaufgeregt und korrekt.

 

Er muß wohl in dem Gespräch – also in dem Disput mit dem Kunden, der wenige Tage vorher das Teil reklamierte – auch mal von gerichtlicher Klärung gesprochen haben oder von der Möglichkeit, der Kunde könne sich ja an einen Anwalt wenden oder sowas, dann würde sich das eben so klären. Da hätte dieser Typ, eben noch ziemlich aufgebracht, nur komisch gelacht, ich glaube, er hat sogar das Wort „zwielichtig“ oder, nein, halt, „undurch-sichtig“ war das Wort, genau!, undurchsichtig, gebracht, und gesagt: `Ja, ja, das wird ein höheres Gericht entscheiden, mein Freund! Wenn ich jetzt das Geld nicht zurückbekomme, dann werden Sie hier kein einziges Geschäft mehr machen. Dann kommt hier kein Kunde mehr rein!´ Dafür wolle er sorgen.

Der Händler wußte das nicht zu deuten, sagte nur etwas Unbedachtes darauf, sah sich auch weiter im Recht, und der Kunde verließ den Laden in einer Absatzwendung, sozusagen. Einerseits erleichtert, daß es nicht in Schlimmeres ausgeartet war, andererseits unbehaglich über die kuriose Drohung, wandte er sich dem nächsten Kunden zu – der indes nur etwas bestellen wollte.“

Ich stand von der dicken Holzrolle auf, auf der ich saß, und machte zwei Schritt zu dem improvisierten Tischlein, neben dem die Flaschen standen. Griff nach einem neuen Bier, möglichst kühlem diesmal, fand ein Radler. Während ich es öffnete, platzte mein Freund in die Stille:

„Na, und?“,

während mich alle anschauten, befremdet und neugierig.

Ich setzte mich wieder hin und wußte nicht, ob sie mich richtig verstanden hatten; ob das Interesse meiner Gegenüber der Geschichte galt oder meinem Erzählstil und gar einem bassen Unverständnis entsprang. Von vorn wärmte das Feuer und die üppige Glut ganz enorm. Von hinten schlich sich kühle Nachtluft entschieden an den Rücken. Ob ich mich mal umdrehen sollte, dachte ich?

„Na ja. Das war vor vier Jahren. Oder, mindestens drei. Den Händler gibt es nicht mehr. Er hat wirklich seinen Laden geschlossen, kurz danach. 4 oder 5 Wochen nach dieser Sache – also, der Typ kam nich wieder, ja! – hat er seinen Angestellten entlassen und wollte es noch allein weiter versuchen. Personalkosten sind ja auch nicht unbedeutend, im Gegenteil, und immer gleichhoch, Sozialkram und so weiter … Aber es kam eben keiner mehr. Wirklich keiner! Jedenfalls keiner, der was gekauft hätte. Mal ein Stammkunde, bissel plaudern, mal jemand mit einer technischen Frage, mal irgend ein Tourist – das Geschäft lag ja dort vorn am XXX, ziemlich zentral – ein Tourist, der nach dem Weg oder dem Bahnhof … aber es kaufte eben wirklich niemand mehr was! Also, allenfalls so allerkleinsten Kleinkram, für ein paar Cent vielleicht. Exakt seit diesem Tag, als der Typ dagewesen war.


Meine Freundin schaute in die Glut, schweigend, sinnierend. Die beiden anderen starrten mich an. Sie mit großen Augen. Er skeptisch. Ungläubig sagte er:


„Das kann ich mir nicht vorstellen! Er muß doch irgendein Geschäft gemacht haben. Irgendwas kauft doch immer mal jemand! Oder … oder es war eben Zufall. Kann schon sein, daß mal ein paar Tage nichts passiert, das ist normal, in allen Branchen. Ich kenne das von uns auch, manchmal hat man Wochen gar nichts, und dann …“

 

„Ja. Aber der Mann hat vorher über 30 Jahre, in ganz wechselnden Zeiten, immer von seinem Geschäft gelebt. Natürlich gibt es Flauten. Er hatte sogar einen Systemwechsel, quasi um 180 Grad, erlebt. Alles war neu nach der Wende! Aber daß er überhaupt nichts, also ÜBERHAUPT nichts mehr verkauft hat, seit genau diesem Tag …“

 

„Na, das sagt man doch so. Woher weißt Du das denn genau? Vielleicht hat er auch nur keine Lust mehr gehabt und redet sich jetzt selber sowas ein, um bequemer in Rente …“

 

„Nein, nein, daß weiß ich sicher! Er hatte, also … ich weiß, daß er noch wenigstens eine Handvoll Jahre das Geschäft betreiben wollte. Es lief ja auch sehr gut. Er war genau der richtige Typ dafür, das war sozusagen seine Berufung. Der hat dann auch noch versucht, das Geschäft von zu Hause aus weiter zu betreiben, als Versandhandel, nur online, um Kosten zu sparen, die Miete und so. Aber das ging auch nur noch ein halbes Jahr – in dem er quasi von der Hoffnung gelebt hat. Es muß überhaupt nicht funktioniert haben! Er hat dann völlig das Handtuch geworfen, weil selbst die letzten Reserven aufgebraucht waren und einfach nichts Neues mehr kam. Das hat er mir selbst mal erzählt! Ich hatte ihn nämlich, das ist jetzt etwa ein halbes Jahr her, mal in der Stadt getroffen und angesprochen.“

 

„Ich weiß nicht. Willst Du uns etwa erzählen, daß sowas wie ein böser Fluch über der Sache liegt, daß der Kunde Voodoo betrieben hat oder sowas?“, lachte mein Freund überlegen. „Es wird ja heute auch nichts mehr repariert. Alles weggeworfen. Alles immer neu gekauft. Chinakram. Ist doch in anderen Branchen auch so, wie gesagt, bei uns …“

 

„Nein, nein“,


fiel ich wieder ins Wort,


„das völlig Verrückte ist, der Mitarbeiter, der, den er damals entlassen hat, hat kurz danach ein eigenes Geschäft aufgemacht, genau das gleiche, also genau die gleiche Branche, vom Angebot her, der kannte sich ja auch aus, die hatten beide jahrelang oder jahrzehntelang zusammengearbeitet … hat zwar sein Angebot ein bißchen kleiner gehalten, weniger Lagerkosten, etwas weniger Miete, auch keine Mitarbeiter weiter, aber sonst also das gleiche: Und der Laden läuft! Trägt sich völlig! Ich bin selbst schon ein paarmal dort gewesen, ist meist was los. Und habe mir das auch schon bestätigen lassen von dem Herrn. Der ist ja noch da …“

 

„Wie: da?“

 

„Na, er hat sein Geschäft noch. Das gibt es noch.“ 

Jetzt wurde eine Weile geschwiegen.

„Mir ist kalt“,

sagte meine Freundin, stand auf und ging ohne weitere Erklärung ins Haus. Die Partnerin meines Freundes starrte mich mit großen Augen an, sagte dann:

„Mir ist auch kalt! Und wenn ich so etwas höre, wird mir noch kälter!“

 

Siebeneinhalb Jahre später 

 



Ich sitze vor meinem Rechner und lese die Aufzeichnungen. Vor kurzem erst habe ich die Freunde nach langer Zeit mal wieder getroffen, mit denen dieses Gespräch seinerzeit stattgefunden hatte. Es war ein anderer Ort, es war eine andere Zeit: Doch es war wieder eine dörfliche Atmosphäre, wir standen wieder um eine Feuerschale hinterm Haus im Garten – diesmal in der Silvesternacht. Es war kalt, es lag etwas Schnee, die letzten Böller krachten noch entfernt, vereinzelt blitzte eine Rakete am Himmel auf oder man hörte ein Pfeifen in der Nachbarschaft. Die beiden Freunde, jenes Paar, welches ich mit meiner neuen Lebenspartnerin besuchte in der Silvesternacht, hat seither vieles erlebt, neue Horizonte kennengelernt, ist etliche Male umgezogen. Sie erinnerten sich beide leider nicht mehr an die Geschichte von damals, haben andere Eindrücke parat. Und meine Freundin von damals war diesmal nicht dabei – denn es gibt sie nicht mehr in meinem Leben. Sie ist einfach weg. Zwar wohnt sie noch an der gleichen Stelle wie damals, nur wenige Fahrminuten von mir entfernt: doch kein weltlicher Weg führt noch zu ihr, weder durch Raum noch Zeit. Sie kann ich also auch nicht mehr fragen, ob es so stattgefunden hat oder anders; ich bin der einzige, der sich daran erinnert.

Und deshalb bin ich mir selbst nicht mehr ganz sicher, ob es so war oder nicht. Oft fallen mir einzelne Formulierungen genau ein, leuchten einige Szenen und einige Sätze glasklar vor meinem inneren Auge auf, also ob gerade jemand ein paar lose Zeitungen in die Feuerschale gelegt hätte, die sofort auflodern und alles erhellen; anderes dagegen verliert sich in der Dunkelheit wie die Schemen der Bäume und Büsche, die einige Meter abseits stehen, heute wie damals, oder verliert sich wie die kräuselnden Rauchschwaden, allmählich blasser werdend, über dem Feuer im Nachthimmel.

Ich versuche mich zu erinnern, wie wir damals das Gespräch beendet hatten? Waren die beiden Frauen einfach im Haus verschwunden, und B. und ich hatten einfach weiter spekuliert und diskutiert, während sich die Argumente allmählich in der zunehmenden Bierseligkeit verdünnten? Kamen wir auf ein anderes Thema? Hatte uns die Änderung der Gesprächssituation, nämlich der Ortswechsel unserer beiden Freundinnen, vom Thema ganz abge-bracht?

Mittlerweile, in der Jetzt-Zeit, sind für uns andere Dinge aktuell. Der Niedergang und Verfall des Landes, die Endzeitstimmung, irgendwelche Ansichten über politische Akteure und deren Hintermänner, die eine oder andere Gesellschaftstheoerie, viel angelesenes Wissen und alternative Sichtweisen. Doch wieder Verschwörungstheorien, nur andere? Sind es überhaupt Verschwö-rungstheorien, oder nicht etwa Verschwörungspraktiken? Man kann wuderbar spekulieren, man kann sich vieles einreden oder glauben, man kann für alles Indizien finden. Oder auch dagegen. Ich gebe allerdings zu, daß mittlerweile die zugespitzte Scherzfrage „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wirklichkeit?“ tatsächlich mit „Ungefähr ein Jahr!“ beantwortet werden kann, jedenfalls bei einigem: das ist offensichtlich. Ich denke bloß an die düstere „Corona“-Zeit. Aber die Frage, ob es nun wirksamen Voodoo-Zauber oder Ähnliches tatsächlich gibt, bleibt für mich unbeantwortet. Wahrscheinlich ist es wirklich eine Glaubensfrage. Ich glaube normalerweise nur noch an das fest, was ich wirklich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe. (Obwohl, selbst da bin ich mittlerweile vorsichtig geworden, denn die Erinnerung kann furchtbar trügen.) Aber immerhin, das mit diesem seltsamen Mann in dem Geschäft und die Folgen daraus hatte ich ja doch selbst erlebt! Etwa nicht?

Hatte ich es wirklich? Oder hatte ich es mir nur eingebildet und das gehört, was ich hören wollte, was in mein damaliges Weltbild gerade paßte? Hatte mich der Händler vielleicht doch mit einer Geschichte, die einfach spannender klang als die schnöde Wirklichkeit, ein bißchen verschaukelt? Oder vielmehr: Sich selbst wichtig gemacht?  Oder schlichtes kaufmännisches Unvermögen, meinetwegen auch schwierigere Zeiten und Umstände, für sich selbst geheimnisvoll kolorieren wollen – mit einer guten Portion Übersinnlichem? Hm. Möglich.

 

5 Tage später


Mir ist schwindlig! Die letzten Tage, vielmehr Nächte, habe ich an zwei Bildcollagen und einer Kurzgeschichte gearbeitet; alle drei Werke sind ungewöhnlich düster ausgefallen, hier und da kafkaesk. Gerade will ich, gelangweilt, angeödet und trister Laune, noch an einem der Bilder etwas abrundend arbeiten, kann mich aber nicht wirklich aufraffen. Ich bin völlig uninspiriert. Also suche ich in irgendwelchen alten Aufzeichnungen herum, stöbere in einigen Tagebüchern von vor Jahren. Ablenkung oder Suche nach sinnvoller Arbeit? Keine Ahnung. Da plötzlich öffne ich eine Datei auf meinem Rechner mit dem mir nichts sagenden Namen „Fragment bZ.doc“. Eigentlich wollte ich sie gerade schon, überdrüssig des ganzen alten Krempels, einfach löschen, doch dann habe ich sie doch noch einmal kurz geöffnet: Man weiß ja nie. Fast trifft mich der Schlag! Was steht da in Stichworten auf wenigen Zeilen?

„kleine runde bei freunden, zu viert geschichten erzählen … dann bastelgeschäft und düstere esoterische kundendrohung erzählen, wie bei E. … keinerlei käufe mehr! … kann das wahr sein?“

Ich schaue nach. Völlig fassungslos. Die Datei stammt offenbar vom  September 2020 … ah, Gott sei Dank! Das war immerhin ungefähr 2 Jahre nach diesem Treffen an der besagten Freundestreffen mit der Feuerschale. Dann hatte ich das wohl irgendwie vergessen, verdrängt, hatte mir nur das Stichwort „Fragmente“ eben gemerkt, wollte es noch einmal aufgreifen. Neu erzählen. Oder so.

Ich schaue noch einmal genauer hin. Prüfe das Datum, weil ich mich überhaupt nicht erinnern kann, das einerseits völlig vergessen zu haben – und andererseits dann doch wieder irgendwie neu angelegt hatte. Ominös! Die realen Vorgänge aus der Geschichte hatte ich ja wenige Jahre zuvor tatsächlich erlebt. Aaaahhh! Da! Alle anderen Dateien im gleichen Ordner zeigen das gleiche Datum. Verdammich! Das ist nur das Datum der Übernahme von einer alten Festplatte auf den neuen Rechner. Oder das Datum, an dem ich die Datei dann auf dem neuen Rechner noch einmal geöffnet hatte.

Ich muß nachsehen, ganz genau nachsehen … irgendwo muß es doch in den Metadaten stehen, wann ich das zum wirklich ersten Mal aufgeschrieben habe? Einigermaßen desparat suche ich mir die alten Festplatten heraus, krame in der Kiste. Finde die älteste: sie ist allermindestens 10 Jahre nicht mehr genutzt worden, und die ältesten Daten darauf gehen eher auf 20 Jahre zurück. Oder mehr. Schließe sie an …

Nichts passiert.

 

Zwei Stunden später

 

Endlich! Ich habe sie doch zum Laufen gebracht! Ein zusätzliches Netzteil war nötig. Eilig krame ich in den alten Ordnern, die mir nur noch zum Teil vertraut sind. In vielen Fällen hatte ich völlig umsortiert, andere Namen verpaßt, und vieles ist wirklich uralter Schrutz, der längst hätte gelöscht werden können, und sollen. Prompt ist alles viel zu viel, um halbwegs schnell etwas zielgerichtet zu finden. Ich muße mich durch Dutzende Ordner und Unterordner quälen, finde so viel Mist, aber auch manches Spannende und Interessante. – Meine Güte, was habe ich schon alles aufgeschrieben, was alles bildlich gebastelt, wie viele Einfälle in garer oder ungarer Form niedergeschrieben, und was für eine Fülle alter, unsortierter und völlig vergessener Fotos. Unfaßbar. Aber das Gesuchte findet sich nicht. Besser so?

Dann fällt mir die SUCHFUNKTION ein. Ja, ich kann doch einfach nach Namen suchen. Also …

Nein, eine Datei des Namens „Fragmente“ gibt es nicht, auch nicht „Fragmente bZ“. Fast bin ich erleichtert. Moment! Ich kann ja auch nach ganzen Wortgruppen suchen, mittlerweile jedenfalls, und jedenfalls dann, wenn die Suchfunktion entsprechend eingestellt ist. Also, probieren. Geht das denn auch mit externen Festplatten?

 

47 Minuten später

 

Tatsächlich, es geht. Oder vielmehr, ich habe einen einfachen Trick genutzt. Der ist so einfach, daß man sich einen Dummkopf schelten muß, wenn man offenbar mehr als eine gute halbe Stunde braucht, um den Einfall zu haben: Einfach alles, was in Frage kommt, noch mal kopieren auf den aktuellen Rechner, logisch, und dort geht das ja so. Also. – Und dann, tatsächlich: Ich finde mithilfe der Wortgruppe „bastelgeschäft und düstere esoterische kundendrohung“ die Datei wieder! Unglaublich. Sie heißt zwar im Original „Merolan“, aber ist sonst identisch. Warum habe ich den Namen geändert? Was soll überhaupt der kuriose Kunstname – was, um Himmels Willen, habe ich mir dabei gedacht?!

Egal, das Datum ist wichtig, das habe ich gesucht. > Rechter Mausklick, das Aufklappmenü: > Eigenschaften, > Vorgängerversionen? Nein! Also unter > Details schauen. Da steht es, unter > Ursprung und Inhalt erstellt: „30.12.2001, 00.32 Uhr“. Unfaßbar! Nicht zuglauben! Über 20 Jahre ist das her! Und dann auch noch fast an Silvester, wiederum! Dabei hatte ich das Erlebnis mit dem Mann und dem Verkäufer erst ungefähr 2014 oder 2015 gehabt, meinetwegen auch noch ein oder zwei Jahre früher. Das zumindest weiß ich ganz genau, denn an die Begebenheit an sich erinnere ich mich wenigstens gut – ob die mir später erzählte Geschichte von dem Verkäufer nun stimmte oder nicht. Und früher kann es nicht gewesen sein, weil ich erst 2009 in diese Stadt gezogen war und den Laden dort vorher noch gar nicht kannte …

Mir ist ernsthaft schwindlig. Ich muß nachdenken. Einige Sachen prüfen. Was ist da los? Was könnte „wie bei E“ bedeutet haben? Warum habe ich mir diese Aufzeichnungen gemacht, was habe ich mir dabei nur gedacht? Was soll das „bZ“ in dem ersten Dateinamen bedeuten? Konnte ich etwa irgend etwas voraussehen, oder ist das alles nur ein unglaublicher Zufall? Eine irre Koninzidenz? Wie ist das alles überhaupt möglich? Spinne ich, drehe ich jetzt langsam durch?

 

Jetzt

 

Ich muß mich hinsetzen, das alles noch mal in Ruhe durchdenken. Klaren Kopf behalten. Nicht verwirren lassen, nicht in Panik geraten. Am besten alles nach und nach noch mal geordnet aufschreiben! Ich beginne am besten sofort damit, während sich mir der Kopf dreht:

 

„Ein Scheit wurde in die Feuerschale nachgelegt …“