16. März 2018

[Rezension] Zurück ins Nirwana des Klangs



„Nicht alle Musiker glauben an Gott. Aber alle Musiker glauben an Bach.“

Zurück ins Nirwana des Klangs
Huldigungen (und ein paar Schlammwürfe) auf erste und letzte Werke eines gewissen Mike Oldfields


I N T R O

Es gibt Menschen, die spielen ein Instrument. Es gibt Menschen, die spielen ein Instrument gut. Es gibt Menschen, die spielen ein Instrument sehr gut, oder perfekt. Es gibt Profimusiker. Es gibt musikalische Künstler. Es gibt sensationell gute musikalische Künstler. Vereinzelt gibt es musikalische Genies. Es gab einen Johann Sebastian Bach. Und es gibt einen Michael Gordon Oldfield.

H A U P T A T Z

Für diesen Mike Oldfield darf man als Deutscher den Briten manch sehr böse Untat verzeihen. (Als jemand also, der aus dem Land kommt, das die Musik quasi erfunden hat.) Die Tiefe, die Breite, die Höhe des Raums der Musik eines Mike Oldfield scheint grenzenlos. Wenn dieser Mann aktuell ein Opus vorlegt wie Return to Ommadawn – sein 26. souveränes Studioalbum mit 64 Jahren – dann lauschen wir hörbar gemachter Göttlichkeit jenseits von Zeit und Raum. Der Schöpfer selbst ist herabgestiegen aus dem Olymp und manifestiert sich und sein Paradies in den Noten dieses Werks jenes Mannes. Doch, doch! Geringer kann man es eben nicht sagen. Da reichen die Superlative eben nicht. Einmal in 100 Jahren muß man alles an Pathos aufbügeln, was die Sprache hergibt, nun ja.

Da tanzen die vielstimmigen Gitarren, jede einzelne ein Solokünstler vom Höchsten, umeinander, umgarnen sich, fließen ineinander über, verbünden sich mit Flöten und Pfeifen, schmettern dagegen an, stürmen hinauf und hinab, säuseln sich ins Ohr hinein und packen die Seele an den sieben Enden, um sie heraus aus dem Körper in die Acht der geschaffenen Vollendung hinaufzuziehen. Ein Schmusen und Schweben, ein Gleiten und Weben. Ein Rauschen und Flauschen, ein Flirren und Sirren. Dann, abrupt, marschieren ganze Divisionen, ja, Armeen von Rockgitarren rechts und links auf, legen ein plättendes Flächenbombardement von Tönen vor, diszipliniert wie die Preußen, unerschrocken, heldenhaft wie Blücher, donnernd wie die Posaunen von Jericho; plötzlich tritt der glänzende Soloheld, eine hell schimmernde Gitarre, in der Mitte hervor, im Glorienschein eines vorweggenommenen Siegerkranzes, und schmettert gegen das ganze Univerum an, im Takt seines weiter marschierenden Orchesters: sich abwechselnd, es herausfordernd, damit im Einklang, es treibend und es dirigierend! Pfeifentöne von jenseits und diesseits, immer wieder die weit nach rechts und links aufgezogenen Flügel der hüpfenden Banjos und Mandolinen, der stahlharten Saitenkommandos, der urgewaltigen Donnerpauken in unüberschaubaren Mengen. Ein musikalischer Ohrgasmus! Mit einem Mal dreht sich die Erdkugel: Die endlosen Weiten, in denen diese Armee von 100 Instrumenten 20 000 Töne zugleich erzeugt – jeder einzelne davon glasklar hörbar, und doch alle perfekt aufeinander abgestimmt – lösen sich auf in Wellen aus fünffarbiger Zeit, der endlose Sternenhimmel wird sichtbar, und der Horizont verschmilzt in der Ewigkeit … Jetzt plaudern zwei einzelne, scheinbar harmlose Gitarren miteinander, ein unverbindlicher Frühlingswind zieht durchs Arrangement, Regenbogenvöglein scheinen zu zwitschern. Plätschert gar ein Bach aus unbekannten Tönen irgendwo dahin, einem leisen Kometenbörnchen entspringend? Schwirrt vielleicht eine Handvoll Zauberschmetterlinge durch den Nachmittagshimmel? Wippen die Grashalme aus Elfenhaar im Takt mit den rosa Flötentönen, welche umgarnt sind von drei, vier abwechselnden Klanggitarren da vorn auf dem Hügel und hier unten im Tal, dazu noch eine oben direkt im eigenen Kopf des eigenen Ichs? Segelt dort nicht ein samtenes Einhorn rechtsdrehend heran, perlmutt und purpur zugleich, in irisirenden Wellen aus geschmolzener Zeit?

Man fühlt sich selbst einen Pfad durch die offene Landschaft zwischen einigen Phantasieakazien abwechselnd herabgehen und hinaufschweben, ganz leicht, ganz zart, dauernd umflort von samtweichen Klangteppichen aus Tausendundelf Nächten, vielleicht erzeugt von der sagenhaften Kapelle der Unsichtbaren Streicher, vielleicht erzeugt von Zamonischen Trompaunenmusikern, womöglich hervorgerufen nur durch Suggestion der berüchtigten Schwarzen Sinfoniker der Siebten Soundmagie. Dann plötzlich ein ahnungsvoller Unterton in blauem Moll! Und dann kommt man mit einem Mal über die Kante und sieht den wuchtigen Gipfel majestätisch vor sich liegen, hoch hinaufgestreckt in den ultramarinen Himmel, bis an den Rand der weißen Haufenwolken, eingedeckt im glitzernden Weiß aus Paradiesschnee. Und schwuppdiwupp wird man, eh man sich´s verhört und glauben kann, schon hinaufgetragen auf den Schwingen einer warmen Tönewolke weiterer, neuer, fremder Gitarren, kommend aus dem Nirgendwo, urplötzlich da – unter einem, über einem, um einen, in einem – und steht auf dem Gipfel, inmitten eines schwarzweißen Schlosses aus purer Musik. Aus reinstem Klang. Aus granithartem Sound und butterweichem Schmelzklang. Hoch über Kopf erstrecken sich in die Ewigkeit hinauf zu Gottes Thron windende Türmchen; unter den Füßem eine schwindelnde Hängebrücke, darunter die Weite eines endlosen Landes mit Bergen und Hügeln und Kuppen und gestreckten Ebenen und winzigen Wegen und noch winzigeren Pfaden, unsichtbaren Breiten und Fernen, die bis zum Sankt Nimmerleinstag zwei Handvoll Kilometer hinter den Horizont reichen und bis zum Restaurant am Ende des Universums! Allein steht man da. Allein! Allein horcht man auf. Hört auf sich. Auf das All. Auf die Stimme aus einem. Hört man hin – und hört man auf …

Woher nimmt dieser kleine Mann, etwa 1,68 m groß, dieser Michael Altfeld, nur diese unerreichte Größe? Aus welchen endlosen Brunnen aller Zeiten schöpft er solche Musik? Und was sind das überhaupt für Instrumente, die er da in Hunderten, manchmal Tausenden von Tonschnipseln über- und nebeneinander legt und aufpflastert, und immer wieder draufsattelt, und immer wieder noch einen drauflegt? Dabei alle Schnipsel selbst eingespielt! Alle Instrumente selbst spielt! Alles irgendwo herzaubert!

Ja, manche Instrumente, die meisten Instrumente vielleicht kann man erkennen. Gitarren, natürlich, immer wieder Gitarren. Das Leit- und Lieblingsinstrument des Meisters aller Meister. So wie die Orgel Bachs. Laut, leise, hell, dumpf, schrill oder zart, schwebend oder geerdet; mal einstimmig, mal zwei- oder dreistimmig, mal mit- und mal gegeneinander, mal über- und mal nebeneinander, oft rechts und links zugleich, oft gleichzeitig noch rechtser und linkser als überhaupt erlaubt und möglich, nicht selten irgendwo in der wehmütigen Ferne singend, üblicherweise frei durch den Raum schwebend von nirgendwo nach jenseits. Dann andere Saiten- und Zupfgeräte, nebst Flöten und synthetischen und wohl auch echten Streichern; doch dann auch Hintergundgemurmel, Flüstergeräusche, Wispern und Schnurren, das sich jeder Zuordnung des Verstands entzieht. Aus dem Zauberreich der Engel zu stammen scheint, dem Anderweltkabinett des Dr. Kusimus oder unmittelbar dem offiziellen Jenseits. Da gibt es, ein alter Oldfield-Trick, diese gewisse Unverbindlichkeit, das Absinken kurz vor dem Höhepunkt: so ein Abbiegen nach Links kurz vor dem Ziel oder ein unvermutetes Hinsetzen und Pausieren mitten im Rausch der Höchstge-schwindigkeit, als ob ein seinem Sieg entgegenstürmender Sprinter mitten im gnadenlosem Endspurt sich kurz vor dem Zieleinlauf abrupt hinsetzt und die Stulle auspackt. Da wirst du gerade aufgepumpt mit Energie aus allen Instrumentenrohren, stehst vollgedröhnt mit blauem Licht, reinem Sauerstoff und Turbo-Hydrazin bis zum Bersten gefüllt am Start, noch drei Sekunden bis zur donnernden Zündung und dem völligen Abheben: da fällt mit einem Mal die ganze Spannung jählings ab und alles war nur Kopfkino-Bilderspuk; ein sirrend Flöckchen leisen Klanges sinkt herab in Stille aus Orange – und man hört den Klangtüftler leise Kichern im Hintergrund, den Schalk im Schabernacken sitzend (und das wohl eher unbewußt). Und dann und trotzdem und in unerbittlicher Unaufhaltsamkeit wieder weiter, unerwartet und doch vorgefühlt und gewußt, dem göttlichen Ziel weiter entgegen, hinauf zu den Sternen mit den höchsten Tönen. Energisch, unentrinnbar, manchmal torkelnd, manchmal schreitend. Da entlockt der Tonzauberer seiner Rockgitarre verzerrte Hoch- und Höchsttöne, gefühlt am Rande des Ultraschalls, daß einem das Sehen engültig vergeht, und das Hören endet – aufhört! – in purem Sein. Musik auf den Klangpunkt gespielt, wo sich dann unstillbare Wehmut und endlose Sehnsucht vermischen mit märchen-hafter Wonne und Seligkeit reinsten Glücks. Wo sich alles auflöst in reinem, weißen Licht, das gleichzeitig durchdrungen ist von unsichtbarer Nacht. Wo nichts mehr ist, weil man die Musik, Schwarz und Weiß, zugleich schon selber ist. Zeitlosigkeit und Stille-Stand.

Und schon, schon gleich – noch nicht eine Gedankenwelle und keinen ganzen halben Ton weiter – rauscht man schon wieder hinab in der Achterbahnfahrt dieser Ultra-Infra-Melodie! Geniestreiche, abgewechselt von Geniestreichen. Und doch, ganz planvoll und gewollt, zwischenhin auch immer wieder ganz ruhige Passagen, wo das Bächlein der Töne erneut friedlich plätschert …

„Return to Ommadawn“. Zurück zu Ommadawn – diesem unübersetzbaren Namen eines Instrumentalwerkes, das ein damals 22-jähriger Mike Odlfield schuf, sein zweites. Unverkennbar genau dieses Musik-Opus, mit dem der junge Wunderknabe sich offenbar die Seele aus dem Leib komponierte. Mit originalen Klangzitaten, mit der gleichen Leitidee und ähnlichem Klangkörper, überwiegend derselben Dramaturgie, und doch nunmehr rasanter, feinsinniger, präziser und den Zeiten angemessen lupenreiner im Klang, reifer im Geist und ausgereifter in der Ton- und Spieltechnik. Man hört auch unverkennbar Anklänge etlicher anderer Meisterwerke eben des gleichen Oldfields heraus, sei es das verspielt-geniale „Amarok“ (1990) mit seinen sensationellen Arrangements irrwitzig schneller Gitarren, abrupter Orchestralhämmer voll wilder Wucht, hauchfeiner  Flüsterstimmchen und sogar Spielzeuggeräuschen bis hin zum Gurgeln eines Zähneputzers; da sind auch die Baßanklänge an seinem Debüt „Tubular Bells“ (1973): dem Erstlings-Paukenschlag eines unbekannten schüchternen 19-Jährigen, in dem der kleine, scheue Jüngling tatsächlich Johann Sebastian Bach kopierte, dessen berühmte Tonfolge aus „Toccata und Fuge in D-Moll“, bloß quasi rückwärts gespielt. Jener andere, deutsche Wunderknabe, begründete genau mit diesem, seinem Erstlingswerk seinen bis heute anhaltenden Weltruhm, damals eben-falls erst 19 Jahre alt. Und die Idee dafür soll er, 271 Jahre vor Oldfield, im Thüringischen Altenfeld gehabt haben – denn der Schöpfer, der sich durch beide unvermittelt zeigt, liebt Späße. Zumal Sprach- und Klangspäße, denn es gilt weiterhin: „nada brahma“ – Klang ist die Welt.

Woher nimmt dieser kleine Mann aus dem englischen Städtchen Reading (zu deutsch also: "Lesen" oder "Lektüre“, noch ein Sprachjux des HERRN), nur diese innere Fülle, diesen Reichtum? Und gleichzeitig das handwerkliche Geschick, dutzende Instrumente nicht nur spielen zu können, sondern auch grandios und perfekt spielen zu können? Und: spielen zu wollen?! Und gleichzeitig aber auch, neben solchen Bombastwerken des Klangs, die kleine Unterhaltung, die kleine Form zu perfektionieren wie damals in „Moonlight Shadow“ (1983) oder „To France“ (1984, hörbar aufgenommen inmitten Schweizer Alpenluft): die breite Masse also anzusprechen mit ihrem immer gleichen, unausgeformten, vergänglichen und doch unaufdringlich symphatischen Musikgeschmack zu erreichen? Mit dem liebestrunkenen „Pictures in the dark“ (1987) oder kleinen, schmuseweichen und melancholiemütigen Volks-Liedchen wie „Man in the Rain“, eingebettet inmitten des musikalischen Hattricks mit „Tubular Bells 3“ (1998), jeweils glockenhell gesungen von diesem oder jenem Frauenstimmchen, oder auch beinharten Schlagerhammern wie „Shadow on the Wall“ (1983) mit rauher Männerröhre? Irgendwann auch irischer Folk in wilder oder lieblicher Perfektion, bisweilen Weltmusik mit Indianerklängen, da und dort afrikanische Buschmusikerchöre; auf „Islands“ (1987) dann fernöstliche Einschläge. Und dann wieder dimensionslose, völlig abgehobene Lieder ferner Welten („The songs of distant earth“, 1994), feinste Weltraummusik, oder besser Welt-Traummusik. Ja, das alles abgewechselt auch mit wellenweicher Ausruhmusik ohne Drama, wenngleich doch im Zeichen des Mondes (oder sogar dreier) auf „Tres Lunas“ (2002), seiner mittel-meergespülten „Chill-Out“-Einmann-Studio-Scheibe von Ibiza. Und dann erneut klassisch-orchestrale Werke in voller Besetzung, Raum-Sphären-klänge in „Music of the spheres“ (2008), abgewechselt von Alben mit forschen und verträumten Karibik-klängen des Altmeisters der Klampfe und einem hinzugeholtem Jungspund als Rockröhre – mit reichlich Sonne und Meeresrauschen („Man on the Rocks“, 2014). Hier spiegelt sich schaumig die neue karibische Heimat des musikalischen und geografischen Weltenbummlers wider. Die Frage bleibt: Woher kommt der sagenhafte musikalische Einfallsreichtum dieses Mannes?

K O N T R A P U N K T

Zugegeben: Es gab auch Stücke dieses Herrn, auf die man als Musikliebhaber gut verzichten könnte, ohne sich ärmer zu fühlen – wohlwollend gesagt. Frühe Jugendsünden, anscheinend einer verirrten Seele entspringend. Passagen, die mehr nach Hölle als Himmel klingen. Nach so gigantischem Erfolg gleich zu Anfang der Karriere verzeiht man dem Burschen anscheinend allerhand, was er so zusammenspinnt und -klampft, und offenbar wird jeder Schrutz dann auch veröffentlicht. Nicht weniges aus „Incantations“ („Beschwörungen“, 1978) klingt heute tatsächlich nur wie zum Beschwören böser Geister – nachgerade in den Live-Fassungen jener Konzerte dazu: die wohl sein mußten, um versponnene Hippie-Seelen im ausklingenden LSD-Rausch zu befriedigen und die Beutel der Verlagseigner zu füllen. Die reale Orchestereinspielung von „Tubular Bells“ (The orchestral tubular bells, 1974) schien mehr ein Vermarktungsgag und in jedem Fall Verschlimmbesserung des ursprünglichen Studioalbums; „Hergest Ridge“, die zweite Platte, auch nicht gerade nominierungswürdig als Weltdokumentenerbe der UNESCO: Zwei Drittel davon klingen mit heutigen Ohren wie tiefgefrorener Bandsalat, rückwärts abgespielt in wechselnder Geschwindigkeit. Und das noch dazu in jenem säuischen Blechbüchsenklang, der kennzeichnend ist für die frühanaloge Zeit, gerade bei der typisch Oldfield´schen Instrumentenüberladung und Tonschnipselüberfrachtung. Doch, nun ja, Berg und Tal gehören eben zwingend zusammen und verkünden ihrerseits nur wieder von der Vielfalt jeder Schöpfung.

O U T R O

Progessivrock, Neue Musik oder New Age, Instrumentalelektronik, Melodie-pop, Klangfolklore, Weltmusik: Man hat den zeitlosen Zauberklängen des Meisters schon etliche Etiketten zu verpassen versucht – nicht oft etwas hilflos. Sie stammen eben nicht wirklich von dieser Kugel, des heiligen Michaels Scheiben. Alle Worte sind hier nur Krücken, Annäherungen, Behelfskonstrukte, und im Grunde vergebens, denn sie reichen nicht. Wie soll man auch jemandem eine Banane beschreiben, der nie eine aß? Wie einem Weltenbürger Musik beschreiben, die nicht von dieser Welt ist? Man kann Hördiamanten in sprachliches Gold fassen, gewiß; man kann seine Tränen der Rührung, Entrücktheit und Extase offenbaren; man kann in den Zeilen und wohl auch zwischen ihnen versuchen, über fremde Dimensionen zu spintisieren; man kann leidenschaftlich, schwärmerisch, überbordend pathetisch mit Attributen werten bis ins Höchste und Allerhöchste. 

Tatsächlich aber endet alle Sprache dort, wo der musikalische Genius eines solchen
Œuvre erst beginnt: jenseits des Himmels und in den Weiten der Sankt-Nimmerleins-nacht. Schweigen wir also dazu – wer hören kann, der höre!