7. Juli 2020

[Reisesatire] Estland




Der Nordpol Europas: Von Estland, Maulhelden und Großmäulern; von Deutsch, Italienisch, Globalesisch sowie von einem deutschen Trunke namens Bier.




Die Zeit: jetzt. Der Ort: Nordestland, ein Häuschen auf dem Land. Die Situation: Neun Leute beisammen: 6 Esten, ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Italiener. Die Frage: Wer unterhält die ganze Runde und zieht jedes Gespräch an sich? In welcher Sprache? Gehen wir später darauf ein ...

Estland. Ostland. Das liegt ganz oben hinten. Dahinter kommt an sich nichts mehr. Ach doch, ja, Russland. Links davor die Ostsee, links unterhalb Lettland. Das Wichtigste über Estland ist schnell gesagt, geschätzte Kumpels und Kumpaninen: Es gibt Stadtbusse mit Anhängern – für die Passagiere. Ich bin fest überzeugt davon, daß alle Volksgruppen gemischt einsteigen dürfen, und nicht, daß die Russen immer hinten sitzen müssen. Russen leben neben Esten immerhin etliche dort. Apropos Leben: Die Friedhöfe sind mitten im Wald und nicht weiter eingezäunt. Es kann durchaus sein, man geht abends in den Wald spazieren, dem Licht folgend, bettet sich irgendwann zur Ruhe, und wacht morgens unversehens auf dem Friedhof auf! Die Lichter sind Grabkerzen, vermutlich von den Katholiken. Deren es folglich weniger gibt in Estland als Protestierer. Wie überall im Norden. Warum aber sterben überhaupt Leute in Estland? Das kann man nicht recht verstehen: Es gibt gutes Essen, zum Beispiel einen überaus gesunden Getreidebrei auf Joghurt- oder Kefirbasis; es gibt frische Seeluft; es gibt viele sehr hübsche, schlanke-ranke, großgewachsene blonde Mädchen; man hat billige Taxis und bezahlbare Funktelefonrechnungen (es gibt etwa 2 Millionen Einwohner und 6 782 655 Mobiltelefone) sowie jede Menge Klapprechner. Ferner riesige und moderne Einkaufszentren sowie kostenlosen Tee, Strom- und Internetanschluß in den Zügen am Platz; dies zwar nur in der ersten Klasse, aber kostet selbige sowenig von Dorpat/Tartu nach Berlin wie in Deutschland ein Taxi vom Berliner Hauptbahnhof zum Alexanderplatz. Warum also sollte man sterben in Estland?

Klamüsern wir diese Fakten ein bißchen auseinander, zerkleinern wir sie im Mund und bereiten wir sie für die Verdauung vor. Daher zuerst zum Essen, Freunde. Ein typisch einheimisches Essen der Esten ist ein Getränk! Das aber tatsächlich gelöffelt wird. Nämlich eine Dickmilch, wahlweise Buttermilch oder Kefir oder Joghurt, mit reichlich zerschrotetem Getreide, je nachdem süß mit etwas Fruchtmus oder pur und also eher herzhaft. Soll überaus gesund sein und schmeckt wie Milch auf Knäckebrot. Kefir scheint hier überhaupt sehr beliebt.

Die estnische Küche ist stark an die deutsche angelehnt – auch bei uns sind ja Getreidetrünke sehr verbreitet, vor allem solche aus Gerste – und überaus köstlich. Oft herzhaft schon am Morgen. Die geringere Verbreitung von Honig, Marmelade und Schokocreme wird ausgeglichen durch allerhand Backwerk. Vor mir auf dem Teller, während ich diese Zeilen schreibe: Ein Törtchen, aus purer Schokolade bestehend. Statt Kuchengabel wäre ein Schnitzmesser angebracht. Bereits die Einrichtung der Gaststätten, Bars und Cafés beweist Geschmack und steigert die Vorfreude auf des Koches Gaben und die Wirtin. Hingabe zum Detail und stilvolle Zusammensetzungen zeichnen die Ausstattung gleichermaßen wie die Menüs aus. Von künstlerisch-wertvoll mit orientalischer Anmutung übers urgemütliche Fischerhausnatursteinambiente bis schickimickiübermodern ganz in Weiß ist alles da. Damit flugs zu den Mädchen. Farbenfroh gekleidet mit engen Hosen, wenig Körperschmuck, aber viel Natürlichkeit. Körperstempel und Hautspießer, auch Tattoos und Piercings genannt, scheint es nicht zu geben. (Warum also sollte man überhaupt sterben in Estland?) Die Ungezwungenheit läßt sich nicht leugnen, man ist locker und angenehm unaufdringlich. Die Menschen in Osteuropa scheinen ganz allgemein unbefangener und leichteren Sinnes und weniger eingebildet zu sein als die im Westen. Zur Unaufdringlichkeit: In 5 Tagen Tallin und Tartu höre ich nicht ein einziges Autohupen. Auch die Sprache, so fremd sie dem eigenen Ohr klingt, wirkt leichtfüßig und gefällig. Man kann perfekt abschalten, wenn sich Esten nebenan unterhalten, es stört nicht. Die Sprache ist flüssig und ohne große Höhen und Tiefen oder Pausen; die Betonung viel unauffälliger als etwa im Französischen oder gar dem heftigen Stimmungsenglisch oder Körpersprachitalienisch, bei denen man die Vermutung chronischer Hysterie beim Sprecher selten unterdrücken kann; von deren Selbstgefälligkeit ganz abgesehen. Lediglich die beiden wichtigsten estnischen Zahlen schlagen völlig aus ihrer Art: "Eins" und "Zwei". Man könnte sie unter Hunderten Sprachen der Welt sofort heraushören. Nämlich: "Üks" und "Koks" (mit schnellem "ü" und "o", nicht wie in der deutschen "Übertage-Kohle", sondern wie im "ollen Bock"). Üx, kox! Das klingt! Das hat Schwung! Das sind zwei Zauberschlüssel aus Tausendundeiner Nacht, die den Geheimharem des Großsultans durch die Hintertür zu öffnen vermögen, oder die Namen zweiter Sternenkrieger aus dem Reich der Vadugi hinter der Beta-Zentauri-Zentralgalaxie. Üx, Kox! "Drei" heißt übrigens "Kolm", das klingt nach einem Berg in Mitteldeutschland. Wer also das berühmte Knobelspiel mit den Händen und seinem Gegenüber spielt – bei dem man dreimal die Hand niedersausen läßt – um sie dann zu Schere, Stein oder Papier zu öffnen, der zähle: "Üks-Koks-Kolm!", und gewinne sicher. Mindestens die Aufmerksamkeit des Gegenüber und der Umstehenden. Obschon langjähriger und erfahrener Spieler dieser Gestenknobelei (Schwarzer Gürtel, 4 Daan-Grade, "pour le merite"-Urkunde sowie Ritterkreuzträger Siebten Grades mit Goldschwertern am Bande und ganzem Laubwald) erfuhr ich selbst erst jüngst, daß es auf deutsch "Schnick-Schnack-Schnuck" heißt. Das Spiel. (Auf japanisch "Ha-Tschee-Pon". Auch nicht schlecht! Auf Chinesisch Chu-Wo-Cheng, wenn ich mich richtig erinnere. An das, was ich mir neulich ausgedacht habe.) Da wir sowieso überall Brücken zueinander bauen in Europa und der ganzen Welt, ferner integrieren und tolerieren, weltoffen sind, internationale Jugendbegegnungsstätten bauen, Netzwerke gegen Rechts schmieden und solche Sachen, schlage ich vor, "Ha-Kox-Schnuck" zu sagen, oder abwechselnd "Schnick-Kox-Pon" (damit sich niemand diskriminiert fühlen muß). Außerdem waren die Esten sowieso begeistert über die deutsche Befreiung im Zweiten Weltkrieg, wie man mir vor Ort glaubhaft versichert hat, und die Japaner mit uns verbündet. Also!

Ansonsten ist die Sprache leicht zu sprechen: Schreibung gleich Lautung. Lautung gleich Bedeutung. Kleiner Test: Was bedeutet "Politsei"? Hinter vielem verbirgt sich schlichte Lautmalerei: "Olu" bedeutet "Bier" – ein Lallen ist schon deutlich herauszuhören. Ich labe mir lallerdings sicherheitslallber eine Esellsbrücke gebaut, um Olu keinesfalllls zu vergessen. Hals-Öl(u)!
Spiritueller Angehauchte denken noch besser an die berühmte letzte Olung.

Die estnische Sprache mag doppeelte, klangstaarke Seelbstlaute wie in Muusik (heißt: Musik) oder Raadio (heißt: hab ich vergessen) und liebt ebenso doppelte Mittlautte wie in Tunnustada (heißt: weiß ich nicht). Bestenfalls gibt’s beides in einem Wort: "Linnaliinibussid" (heißt: da kommen sie selber drauf!). Gerne spielt Estnisch auch mit Umlauten, namentlich dem "ü" oder "ö". Zum Beispiel in dem Wort "Öö". (Heißt: Keine Ahnung. Gibt´s aber wirklich.) Manches versteht man als Deutscher sofort – "BussiReisid" zum Beispiel. Das heißt ungefähr übersetzt: "Fernfahrt in mehrrädrigem Großpassagiervehikel". Manches  versteht man erst nach einigem Nachdenken: "saksa". Das bedeutet "deutsch"! "Saksamaa" daher Deutschland. Manches wiederum ist nur mit dem Gefühl erfaßbar: "Musi". Was es bedeutet, am Ende dieses Berichts. Klingt jedenfalls schön, oder?

Ein schönes Teekesselchen hab ich noch entdeckt: Das estnische "tee" heißt gleichzeitig "Tee" und "Straße". Ich hatte dies Jahre später bei einer langen und kühlen Fahrradtour durch das Land schon wieder vergessen und jubilierte kurz, als an einem Abzweig ein Schild „Teemeister“ auftauchte. Hätte ich mir nur eine Eselsbrücke gebaut, am besten eine geTEErte! Was das estnische "Kesselchen" bedeutet, konnte ich nicht herausfinden. Kessel heißt Katla; schüfe ich Estnisch, hieße Kesselchen folglich Katlala.

Was mich noch begeistert in diesem Land, das man gern zum Freund haben würde: Es gibt an manchen öffentlichen Toiletten neben dem Waschbecken eine Handbrause am Schlauch, die man zur Reinigung der Kloschüssel (oder was auch immer) verwenden kann! Endlich mal ein nützlicher Gedanke. Weiters hab ich folgendes gehört: Der Ministerpräsident oder ein anderer hoher Politiker habe sich vor ein paar Jahren geschminkt und als Ausländer maskiert und dürftig sowie akzentuiert sprechend mehrmals durch die Hauptstadt Tallin fahren lassen, worauf er prompt weit überhöhte Rechnungen bekommen habe. Ein paar Wochen später hätten die Taxifahrer und deren Vereinigungen ihrerseits die Quittung dafür bekommen. Donnerwetter: Von solchen Geschichten habe ich als Junge immer geträumt! Und auch heute noch bin ich der sicheren Überzeugung: Wenn ich einmal groß bin und ein guter König (oder estnischer Ministerpräsident), werde ich mich auch verkleidet unters einfache Volk mischen und ihm die Meinung ablauschen. Und dann Quittungen präsentieren! Aber hallo, aga tere!

Stichwort estnischer Ministerpräsident: Das ist gar nicht so abwegig, wenn meine Karriere so weiter geht wie bisher. Zunächst mal kam auch ich geschminkt und wie ein Ausländer gekleidet nach Tallin und habe akzentuiert und dürftig gesprochen. Sogar sehr dürftig. Und dann: Noch kaum richtig angekommen im Lande, bot man mir bereits eine Stelle als "Kultureller Leiter" an einer Schule an. (Mit manchen netten Kolleginnen.) Ich behielt mir indes vor, mich zunächst ein wenig umzusehen im Lande: Man muß erst was über ein Land erfahren, seine Mädchen, sein Bier, eh man sich für mehr als 8 Tage irgendwohin dienstverpflichten kann. Außerdem darf die Arbeit nie zu einem selbst kommen, sonst stimmt was nicht. (Vergleiche B. Traven, "Das Totenschiff".) Und man muß immer so tun, als sei man völlig ausgelastet, überlastet, am Rande des Nervenzusammenbruchs wegen völlig übermäßiger Nachfrage nach seiner Person. Sonst wird man nicht ernstgenommen, wenigstens in Deutschland nicht, und bekommt erst recht keine Stellen angeboten.

Aber bleiben wir einstweilen ein wenig beim estnischen Ministerpräsidenten, Staat und Regierung, Europa, der Welt, dem Universum und den Taxis. Es gibt so viele Taxiunternehmen, daß es wirklich preiswert ist, mit dem Taxi zu fahren. Man ruft kurz per Funktelefon an – was, wie gesagt, ebenso billig ist – und wenige Minuten später hält das Taxi vor einem und bringt einen zur gewünschten Stelle. Wie in jedem amerikanischen Film! Hand heben und ... da! Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es Gewerkschaften gibt in Estland. Jedenfalls scheinen sie keinen ernsthaft zu stören, und das Getriebe der Wirtschaft läuft also rund und geschmiert. Man kann sogar täglich und bis weit in die Nacht hinein einkaufen. Ich habe das auch schon in Polen und Tschechien erlebt. Wenn es so weiter geht, werden in spätestens 10 Jahren die Staatssozialismussysteme Frankreichs, Spaniens und Deutschlands Geldempfänger der neuen Länder im Osten sein. Ja, es war wirklich eine pfiffige Ideen, sie aufgenommen zu haben in die EU! Und allemal leichter, als die eigene Gesellschaft zu reformieren.

Mitten in der Innenstadt Revals oder Tallins, verkürzen wir es einfach zu Rellin[1], als auch Dorptus´, reihen sich uralte Bauernhäuser mit Holzfassaden mit schmuddeligen Gardinchen hinter kleinen Fenstern an ultramoderne Glasbaukästen, die sich in die schwindlige Höhe recken. Dazwischen graue Betonklötzchen und Ringbauten aus der seligen Stalinzeit und kurz davor oder danach. Bauten also, die keiner weiteren Bespottung schreiben, äh, Beschreibung bedürfen, finden sie sich doch überall in den Oststaaten und überhaupt von Peking bis Prora. Schließlich auch kuschlige Ein- oder Mehrfamilienhäuschen aus Holz im Quadratbaustil und etlichen Farbabsetzungen: Kabäuschen mit umlaufenden Terrassen oder Balkonen und Gärten, in denen man sicher zufrieden wohnt. Ferner mancherlei herrlich ungewöhnliche Bauten bar jeder Lizenz und Katalognummer. Gesamteindruck: Untadelig!
 
Alles weitere ist haargenau wie in Deutschland. Selbst mit der Sprache. Obwohl ohne jeden Zweifel die meisten Touristen aus Deutschland kommen, steht überall alles auf Englisch! Wenigstens wird dafür das Estnische nicht vergewaltigt, sondern das andere nur als Zugabe daneben gestellt. Gut, Russisch spielt auch eine große Rolle, leben doch auch viele Russen hier, die sogar vorn im Bus mit einsteigen dürfen, wie schon erwähnt. Aber merkwürdig ist es schon: Jahrhundertelang prägten die sogenannten Deutschbalten, aber auch deutsche Kaufleute vor allem aus der Hanse das Land, später befreiten die Deutschen das Land von der Stalinbarbarei (worüber die Esten bis heute froh sind), und bis in die Gegenwart ist Deutschland zweifellos ein geschätztes Reiseland der Esten, wichtiger Handelspartner und Vorbild in manchem: Und dennoch sind es wieder mal die Briten (oder wer?), die ihre Sprache hier etablieren, verflixt – als ob die den Mund nicht schon voll genug hätten. Wie funktioniert sowas? Wie es funktioniert, hier und anderswo in Europa und auf der Welt: Ich erkläre es weiter unten; zunächst zur Eingangsfrage. (Dies ist ein schriftstellerischer Trick, der Spannung aufbaut, eine erzählerische Finte, rhetorische Figur. Und wo wir gerade bei Rhetorik sind – auch dazu gleich mehr. Zunächst die kunstvolle Wiederholung der rhetorischen Frage:)
 
Die Zeit: Jetzt. Der Ort: Nordestland, ein Häuschen auf dem Land. Die Situation: Neun Leute beisammen: 6 Esten, ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Italiener. Frage: Wer unterhält die ganze Runde und zieht jedes Gespräch an sich?

Ich verrate es nicht. Ich will niemanden beleidigen. Zumal, wenn er ohnedies leicht beleidigt sein könnte, eitel wie diese Landsleute nun mal sind, und weil der Volkswagen nun mal nicht in Neapel erfunden wurde. Ich will unterdessen aber ganz abgesehen davon jenen gewisssen Italiäner in der Runde noch ein wenig beleuchten. (Lachen Sie nicht! Auch Goethe hat schon Italiäner geschrieben!) Er sieht aus wie Joschka Fischers südländischer Bruder. Und benimmt sich auch wie ein Außenminister unter Lokaljournalisten. Selbstverständlich redet er alle auf englisch an; ich vermute indes, wenigstens die Hälfte der Anwesenden versteht nur seine Körpersprache. Er ist jedenfalls der Sohn Silvio Berlusconis und guter Trinkfreund des Papstes, und nur kurz auf der Durchreise hier auf dem Weg zum G8-Gipfel in Petersburg – wenn ich ihn richtig verstanden habe. Nein, er ist ein Bruder des angeheirateten Schwippschwagers dritten Grades aus der Nachbarfamilie und zugelaufen – wenn ich meine Gastgeber richtig verstanden habe. Wahrscheinlich habe ich beide nicht richtig verstanden, obwohl mein Estnisch nur wenig schlechter ist als mein Globalesisch, und die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte – er ist der Mann der einen Tochter des Hauses. 

Die Frage von Joschka Fischer mediterrane geht an mich, also auf Englisch: Was ich täte, und warum ich hier sei? Der Grund ist: Ich gebe hier ein Rhetorikseminar vor Deutschlehrern. (Der wahre Grund ist freilich: Ich bin als Geheimgesandter der Kurie auf der Durchreise zum G8-Gipfel in Petersburg, aber das erzähle ich niemandem.) Ich weiß nun also nicht genau, was "Rhetorik" auf englisch heißt, spreche das Wort dann aber halbherzig in den Raum, versuche es zu erklären. Er hat "Rhetorik" aber verstanden, unterbricht mit großer Geste und wiederholt mehrmals "retorica, retorica", ja, er verstehe natürlich, schließlich kenne er sich damit bestens aus! Schließlich sei er Italiäner! Und die hätten ja die Rhetorik nicht nur erfunden – er beruft sich auf "cicerone, cicerone" – sondern quasi völlig im Blut! Vermutlich ist er selbst verwandt mit Altkumpel Cicerone.

Wie konnte ich das vergessen, natürlich: Cicero! Der hat ja die Redekunst höchstselbst entdeckt, noch vor mir. Das erzähle ich doch in jedem meiner Seminare den Leuten! In Wirklichkeit spreche ich zwar von Aristoteles, aber egal: Das ist auch einer von diesen Alten. Die machen sich immer gut. Auf Autoritäten berufen!, heißt die Zauberformel der Redekunst. Wahlweise auch Ghandi, Thomas von Aquin oder Johann Wolfgang von Mozart. Selbst mit Hitler funktioniert es. Hauptsache, sie sind tot. Je länger, desto besser. Bei Aristoteles bin ich mir ganz sicher; dem steht ja schon im Namen geschrieben, daß er tot ist. Was die wirklich gemacht haben im richtigen Leben, spielt keine Rolle. In der Realität ist die Wirklichkeit sowieso ganz anders. Cicero, der Bursche, war freilich einer der ersten großen Italiäner, der ersten Großen Italiener. Und damit einer der ersten Großen Europäer (wie unser Joschkabruder hier). Ist zwar schon eine Weile her ... Nein, nein, so geht das nicht! Wie sollen wir denn in einem Europa zusammenwachsen, wenn alle ihren Nationalstolz dermaßen hochhalten (außer wir Deutschen) und jeden für sich haben wollen! Zumal es Quatsch ist: Cicero war natürlich ein früher Deutscher! Ich erinnere an das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das bis über die Appeninen reichte. (Wenn nicht noch weiter.) Und das fast 1000 Jahre. (Wenn nicht noch länger.) Rom war damals, mal ganz ehrlich gesagt, nicht viel mehr als ein Vorhof vom Heiligen Röm... äh, Heiligen Germanischen Reich deutscher Nation. Und in Rom hat er ja gelebt, dieser Ziezero. Oder Tsitsseroo, wie die Esten sagen und schreiben würden.

Jedenfalls verstehe ich jetzt besser, warum in meinen Redeseminaren immer das Verhältnis 15:1 herrscht, was Frauen zu Männern betrifft. (Jener Mann bin ich.) Wahrscheinlich halten sich nicht nur alle Italiäner für Nachfahren Ciceros (nur alle männlichen Italiener natürlich – eigentlich überflüssig zu erwähnen, in Italien gibt’s sowieso nur Männer im öffentlichen Leben), sondern auch alle männlichen Franzosen für die direkten Nachfahren von Voltaire, die Griechen für die Ururenkel von Platon und meine Landsleute für Luthers Erben: Und solche Männer haben Redekurse natürlich nicht nötig! Sieht man ja täglich im Bundestag und erlebt´s bei jedem Festvortrag, wie brilliant, geschliffen und effektiv nahezu alle die Zuhörer blitzschnell in ihren Bann ziehen können: Sie brauchen lediglich 10 Minuten, um den Hörern eine bombastische Rede von 3 Stunden vorzugaukeln. Übrigens: Kennen sie Angela Merkel?

Tatsächlich ist einer der wichtigen Punkte in den Redeseminaren prompt immer die Redeangst. Schon mal gehört? Schuhu! Obwohl Frauen im allgemeinen mehr Sozialkompetenz besitzen, haben sie immer mehr Redeangst und ganz allgemein mehr Scheu vor öffentlichen Auftritten; sofern diese Öffentlichkeit sich nicht auf die beste Freundin im Lieblingscafé beschränkt. Wahrscheinlich ist es sogar umgekehrt: Gerade weil Frauen mehr Sozialkompetenz besitzen, und also mehr über ihre Wirkung nachdenken, machen sie sich mehr Sorgen darüber und scheuen sich vor öffentlichen Reden. Insofern könnte man genauso gut Folgendes tun zur Verbesserung der allgemeinen Redesituation: Statt die Frauen in Redekunst schulen, den Männern Redeangst vermitteln ... In diesem Seminar hier haben wir wieder den gleichen Fall: Ausnahmsweise ist neben mir noch ein Mann da, der sich mit mir die 14 teilnehmenden Deutschlehrerinnen teilen muß. (Trotzdem: Warum sollte man in Estland sterben?) Ich wiederhole die Eingangsfrage, diesmal ohne Nationalitätenhinweis: Wer unterhält prompt die ganze Runde und zieht jedes Gespräch an sich, vom Seminarleiter abgesehen?

Ich will wiederum niemandem zu nahe treten und etwa eine Person brandmarken. Immerhin kommt sie auch aus Thüringen wie ich, und ist also schon von vornherhein ein netter Bursche. Lehrt eben jetzt seit einigen Jahren einfach so in Estland Deutsch. Ja, solche Leute werden wirklich gebraucht, hier und anderswo in der Welt! (Daher ködert man noch ahnungslose Deutsche auch mit Stellenangeboten für "Kulturelle Leitung" und so, was natürlich auf schlichtes Deutsch lehren hinausläuft.) Es mangelt überall an Deutschlehrern, wie man mich schon mehrfach unterrichtet hat. Das deutsche Goethe-Institut etwa setzt seine Hürden viel zu hoch. Die wollen am liebsten gleich promovierte Germanisten und Spitzenpädagogen nicht ohne 15jährige Berufserfahrung an Gymnasien nach Togo und Kasachstan schicken, um dort Deutsch zu lehren und den Kindern das zählen bis 20 und das kaufen eines Fahrscheins zu beizubiegen. (Der in Deutschland längst "Ticket" heißt.) Weil solche Leute aber verständlicherweise bei weitem Wichtigeres zu tun haben – zum Beispiel an Hochschulen wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben über die Anfänge der vergleichenden, intermittierenden Linguistik im niederdeutschen Sprachraum als empirische Einzel- und Mengenfallstudie unter besonderem Bezug auf die propädeutische Universalkasuistik – mangelt es eben weltweit an Deutschlehrern. Freunde, ich sage es deutlich: die Anfänge der vergleichenden, intermittierenden Linguistik im niederdeutschen Sprachraum als empirische Einzel- und Mengenfallstudie unter besonderem Bezug auf die propädeutische Universalkasuistik zu kennen ist lebensnotwendig für jede Gesellschaft! Wo kämen wir hin? Ich traf mal einen jungen Engländer in Warschau in der Jugendherberge. Der war zuhause aufgebrochen, die Welt Englisch zu lehren. Er war sich sicher, irgendwo gebraucht zu werden. Was er vorher gemacht hatte oder was er gelernt hatte: Ich weiß es nicht mehr. Er wußte es allerdings selbst auch nicht mehr. Jedenfalls was anderes, als eine Sprache zu lehren. Ich bin mir sicher, er wird eine Stelle gefunden haben. Dafür hat er nie was erfahren von den Anfängen der vergleichenden, intermittierenden Linguistik im niederdeutschen Sprachraum als empirische Einzel- und Mengenfallstudie unter besonderem Bezug auf die propädeutische Universalkasuistik. Der Arme!

Überhaupt nährt sich in mir der Verdacht, daß zwei Gründe dafür verantwortlich sind, daß Englisch als wichtige Weltsprache vermutet wird. Und die gehen beide auf das Gleiche zurück; und damit zur Erklärung des Phänomens, wie oben versprochen. Erstens: In der EU, in die sich die Engländer ohne besondere Zuneigung für den Rest, geschweige denn Begeisterung für die Sache, erst herein- und vor kurzem wieder herausgeschummelt haben, reden sie selbstgefällig nur Englisch, von Anfang an. In der Erwartung, daß alle sie zu verstehen hätten. Frech kommt weiter, Leute. Bei den EU-Ostererweiterungs-Verhandlungen ab 1990 glaubten sich viele Diplomaten in den neuen Ländern gewappnet mit Deutsch als Fremdsprache. Die westlichen Diplomaten, auch die deutschen, wurden aber gezwungen, Englisch mit ihren Gesprächspartnern zu sprechen und Englisch als zwingende Grundlage zu fordern. (Hat sich mittlerweile aus Diplomatenkreisen herumgesprochen.) Das ist staatstragende Öffentlichkeitsarbeit, liebe Freunde! In Deutschland kümmern sich solange ein paar Bürgervereine darum, Deutsch wenigstens im Inland nicht aussterben zu lassen. Das lahmende Goethe-Institut bietet allen Ernstes in Afghanistan Kurse für afghanische Folklore an, neuerdings, seit seiner Eröffnung nach dem Kriege. Statt Deutsch zu lehren, wie es die Einheimischen wünschen. Um Allahs Willen! Das ist also der eine Grund. Der andere: Engländer und Amerikaner benehmen sich auch privat wie die Herren; egal wo man hinkommt, sind es die Lautesten und Selbstbewußtesten. Auch daher glaubt man an allen Orten der Welt, Englisch sei das Ein- und Alles: 50 Russen fallen in Bangkok weniger auf als ein Engländer.

Mindestens die Angelländer müssen also alles in allem beileibe eine perfekte Öffentlichkeitsarbeit oder zumindest eine perfekte Reklame für sich selbst machen, sonst würde nicht über ein halbes Jahrhundert die Vorstellung kursieren, Briten wären höflich und diskret. Über den sogenannten englischen Humor will ich gar nicht erst lästern.

Nun, es gibt einen Trost bei diesen Tatsachen. Den Tatsachen, daß wir Deutschen uns wenigstens noch selbst so gut beschäftigen können mit uns und unserer Sprache, also den Anfängen der vergleichenden, intermittierenden Linguistik im niederdeutschen Sprachraum als empirische Einzel- und Mengenfallstudie unter besonderem Bezug auf die propädeutische Universalkasuistik. Zwar lernt natürlich unter solchen Umständen keiner mehr Deutsch, aber wir werden für klug gehalten! Jedenfalls sagte mir das eine Estnin bewundernd: "Die Deutschen sind doch so klug!" Immerhin, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Sie sprach es auf Deutsch. Und eines sage ich ehrlich, liebe Freunde: So unhöflich bin ich nicht, daß ich als Gast in einem fremden Land dort ausgesprochene Wahrheiten anzweifeln würde!

Zurück zu Estland und dem Italiäner. Der Italiäner (wir erinnern uns: die Landhausszene, 6 Esten, ein Ukrainer, ein Deutscher und ein Italiäner) hat eben erfahren, daß ich aus Deutschland komme. Genauer gesagt, aus Ostdeutschland. Mit "Mitteldeutschland", wie ich es zuerst formuliere, gibt er sich nicht zufrieden. Sogleich erklärt er mir, daß das ein großer Unterschied sei zu Westdeutschland. Aha! Das war mir ja noch gar nicht aufgefallen. So ein Blick von außen kann manchmal recht erhellend sein. Dann doziert er noch ein wenig über den "Ostblock" (wir erinnern uns: "docere, delactare, movere" heißt die Zauberfomel für gute Rede, belehren, unterhalten, bewegen), also den Ostblock, dem alle hier Anwesenden außer dem Italiäner ja schließlich angehört haben. Ja, das war schon schlimm für uns! Ich beginne mich zu fragen, warum ich nach Estland gefahren bin, um etwas über Estland zu erfahren, und nicht nach Italien? Zudem ich dort auch noch was über die Rhetorik hätte dazulernen können! Ach, zu dumm. Es bleibt die Erkenntnis: Der Name "Wessi" kann nur als pars pro toto stehen. "Südis" und alle anderen sind mitgemeint.

Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei der Frage, warum ich nach Estland gefahren bin statt nach Italien? Es gibt in Estland ebenso wie in Polen, Litauen und Ungarn kleine Milch-Joghurt-Riegel, die mit Schokolade ummantelt sind. In Hülle und Fülle, im Geschmack von Apfelsine über Mandel bis Möhre. In Deutschland gibt’s diese köstlichen Pausenschnittchen nicht, ohne jeden Zweifel wegen eines Handelsboykotts von Nestlé, das dann um seine sogenannten Milchschnitten fürchtet. Und zwar zu Recht. Ich habe mir zwar Mühe gegeben, dieses Boykott zu umgehen und genug von diesem delikaten Imbiß zu importieren. Es wird aber vorerst nicht für eine ausreichende Volksversorgung reichen, denn die Warensendung wurde beschädigt. Alle neun sind in meinem Rucksack auf der Rückreise zerdrückt worden. Möglicherweise hat die der Zoll auch absichtlich gequetscht, im Auftrag der Nestlé-Agenten. Selbige haben es immerhin fertiggebacht, mein Gepäck zwei Tage zurückzuhalten! Als ich in Berlin ankam, war ich zwar der erste am Gepäckband, aber der letzte, der es verließ. Ohne Bagage. Man hat sie mir zwei Tage später zugestellt. Das war zu einem Zeitpunkt, als ich bereits zu Hause per Pedes angekommen war (denn mein Autoschlüssel war im Rucksack) und gerade die Tür aufgebrochen hatte (denn mein Wohnungsschlüssel war auch im Rucksack). Wenigstens eine Olu-Flasche (sie wissen doch noch, was das heißt? Denken sie an die Eselsbrücke!), mein Mitbringsel für den besten Kumpel, hatte überlebt. Na dann, Stößchen auf die Wiedersehensfreude – mit dem Rucksack.

Wo wir gerade beim Bier sind: Das deutsche Reinheitsgebot mag berühmt sein. Sinnvoll ist es nicht. Es hält vielleicht die Zunft rein von Konkurrenz. Aber es fördert weder die Vielfalt noch den Geschmack. Man kann Bier aus so ziemlich allem brauen, was auf dem Felde oder seinem Flur wächst. Das ist gut so und von Gott gewollt. Meist schmeckt solches Bier auch lecker. Aber in Deutschland, daß nun nachgerade seinerseits berühmt ist für seinen Bierkonsum (lediglich die Tschechen zechen noch mehr), ist die Biereinfalt enorm. Masse statt Klasse! 92 von Hundert Bieren heißen mit Vornamen Pils, haben 4,9 Prozent Alkohol, schmecken herb-hopfig und sind überaus langweilig, weil indentisch und alle aus einer Rohmasse geklont. Betrifft Flasche, Etikett und Geschmack. Ich zitiere aus dem Allerweltswelsch der Bieretikettenwerbedichter: "Gebraut aus dem reinsten Wasser (direkt aus der Leitung, hat nicht länger als 10 Tage bei uns rumgestanden – Anm. d. Autors) und dem feinsten Hopfen (Marke Hallertau, immer!, in Extraktpellets, 4,90 das Kilo bei BASF – Anm. d. A.), wird dieses edle Pils (Gähn! – Anm. d. A.) streng nach überlieferter Rezeptur (unser Brauer geht nächstes Jahr mit 72 in Rente – Anm. d. A.) gebraut. Köstlich im Geschmack und fein-hopfig (bitter – Anm. d. A.). Eine echter Genuß (für unsere Buchhaltung – Anm. d. A.)." Kein Wunder, daß neuerdings pro Kasten ein kleiner Plastelaster mit verschenkt werden muß, damit man Berliner Radesternlichwarbecksteinerzäpfle unterscheiden kann von Wernesöttingjeverspatenhaakelübzer. Nieder mit dem Reinheitsgebot! Rein mit den neuen Sorten! In Polen etwa werden manche neue Biersorten mit allerhand Aromen angereichert. Das hat die angenehme Folge, daß man sich sommers an kräftigem Bier zum Beispiel mit Mango- oder Himbeergeschmack laben kann, gern auch mal mit mehr als 8 Prozent Alkohol. (Wer in Polen ein Bier unter 5 Prozent bestellt, macht sich sowieso als Mädchen verdächtig. Ein gewöhnliches Bier heißt "mozne" – stark.) Unseren Brauern oder gar Geschmacksforschern und Werbefuzzis fällt nichts anderes ein, als das Pils der Sorte Hausmarke zu gleichen Teilen mit der nächstbesten Kola zu mischen, zu nachfolgend 2,5 Prozent Alkohol. Als unerhörten Phantasieausbruch gibt’s dann einen bombastischen Namen dazu: Cola´n Beer, Black Tiger, Mixery, Pils sowieso Hi Light, Pils sowieso Lemon, Pils sowieso Lime (sprich: Leim.) Igitt! Da fall ich nicht drauf rein. Nö, nö! Ein fortschrittlicher Wirt in Großstädten traut sich zwar mittlerweile hier und da schon mal, verschämt ein Bananenweizen anzubieten. Aber laß dich bloß nicht erwischen von deinen Kumpels oder der angestellten Bedienung, stattdessen Apfelsaft (Apfelsaft, Himmel!!) ins Bier zu wünschen.

Ich sag es frei raus und ehrlich: Noch öder als das Bierangebot in Deutschland ist es europaweit nur in Italien und Ungarn. Dabei müßte man nicht mal Neues ersinnen, sondern sich nur des guten Alten erinnern: Dinkelbier, Steinbier, Rauchbier, Eisbier, Gose, Weizenbock, Re, Kontra.

Muchachos, nun wißt ihr alles, alles, alles über Estland! Zu einer nicht unwesentlichen Sache, nämlich wie man sich dort etwas kauft, Olu zum Beispiel, sei noch nachzutragen: Man kann nicht nur Waren tauschen, Glasperlen, Rauchwerk oder schlimmstenfalls deutsches Bier, sondern auch sogenannte Kronen. Entgegen jeder Vermutung sind das keine unhandlichen Metallreifen mit farbigen Steinchen und Stöffchen zum auf-den-Kopf-setzen, sondern bunt bedruckte Papierscheinchen mit Zahlen drauf. Die werden überall gern angenommen und scheinen so etwas wie eine allgemein anerkannte Währung zu sein. Der kleinste Schein ist ein Zweier, aber den gibt’s nur selten, und er taugt zu nix. Den größten, einen Fünfhunderter, hab ich nie gesehen, und den allergrößten, einen Zweitausender, gibt’s noch seltener; ich habe nur zwei davon in Umlauf bringen können. (Warum sollte man in Estland sterben?) Wer einem davon mal begegnet: Ich hätte ihn gerne zurück, war ein hartes Stück Corel-Draw-Arbeit. Zahle bis zu 4 Euro dafür. Oder 50 deutsche Pilse, wenig psychoaktiv.


PS. Ach ja, Musi heißt Küßchen!









[1] Zugegeben: „Tallal“ klingt auch verführerisch, allerdings etwas zu arabisch.