8. Februar 2022

[Erzählung] Mädchengeschichten

 

Mädchengeschichten

 

Annett ist die Freundin von Sabine. Beide Mädchen sind in der 11. Klasse und machen (hoffentlich) in einem Jahr ihr Abitur. Sabine wünscht sich aber lieber ein Kind als das Abi. Annett wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich mit einem Mann zu schlafen. Das besonders, weil Sabine es schon mehrfach hinter sich gebracht und ihrer Freundin in aller Freundschaft zu vermitteln wußte. Das war nicht leicht für Annett.

 

Jetzt aber hat Annett Vorsprung. Während ihre Gefährtin vor drei Wochen endgültig, ha!, von diesem 30jährigen Autohändler sitzengelassen worden ist, versteht sie sich bei einem attraktiven Studenten beliebt zu machen. Der immerhin auch fast 10 Jahre älter als sie ist. Wo haben sie sich kennengelernt? Natürlich in der Bücherei; Annett, die schlanke und augenscheinlich brave, hat ihn sogar angesprochen. Irgendwas mit Ausweis vergessen und dringendem Referat morgen. Wir bewundern ihre weibliche List: etwas Unschuldigeres kann ein Mädchen nicht tun, als einen Jungen in der Bücherei um das Ausleihen eines Buches auf seinen Namen bitten: Es bekommt mit Sicherheit seine Adresse auf die seriöseste Weise, die denkbar ist; es kann das Buch selbst in artiger Dankbarkeit zu ihm bringen, nachdem das Referat gehalten ist (und was dann dort in dessen WG-Bude weiter geschieht, darauf darf man gespannt sein); es wirkt gebildet (es ist eine Bücherei, und es ist ein Buch über Philosophie) und knüpft ein unsichtbares Band zwischen sich und dem offenbar ebenfalls Gebildeten; und es stellt sich, uralter Trick, ganz allgemein unter den Edelmut des Angesprochenen, der diese Hilfe zum Wohle der Eltern, der Schule und letztlich der ganzen Gesellschaft mit ihrer Bücherei ganz sicher nicht verweigern wird. Es gibt noch eine Anzahl weiterer Nützlichkeiten dieser Methode, wenn das Mädchen wirklich ein kluges Mädchen ist.

 

Der entscheidende Pfiff aber ist der: Zu dem unbestreitbar tugendhaften Ansinnen, die Hausaufgaben fürs Abitur mit Büchern aus der Bibliothek sorgfältig tun zu wollen, das jeder Tugendreiche ja quasi unterstützen muß!, kommt, daß sie ihn vom ersten Augenblick an in der Hand hat. Stramm um den kleinen Finger gewickelt. Was geschieht, wenn sie das auf seinen Ausweis entliehene Buch nicht zurückgibt? Unser feiner Student bekommt Ärger.

 

Eine Geschichte, die so anfängt, sollte man gleich aufhören zu erzählen, und mit Mädchen, die Geschichten so anfangen, gar nicht erst ins dienstliche oder gar private Geschäft kommen. Nicht mal als Autor einer Geschichte darüber. Aber bisweilen führt kein Weg daran vorbei, und die Fallen sind sauber ausgelegt. So diese.  

...

 

(Auszug aus "Wahr, nicht wahr? - Romaneske Erzählungen" [bevorstehend])