26. April 2022

[Reportage] 180 Meter unter dem Kyffhäuser!

 

Vom Geist Barbarossas und Kaiser Wilhelms Glanzstücken, vom tiefsten Burgbrunnen der Welt und dessen ungelüftetem Geheimnis. Eine Reportage aus dem ungeheuren Schlund des Kyffhäusers.

Das eherne Nationalheiligtum in der Mitte Deutschlands: Der markante und wuchtige Bau des Kyffhäuserdenkmals reckt sich 81 Meter in den Himmel, weithin ist er sichtbar. Hunderttausende standen im Lauf der letzten hundert Jahre schon oben unter der fürstlichen Krone und blickten auf die Goldene Aue hinab, fern zum Brocken hin, zur markanten Abraumhalde Hohe Linde hinüber bei Sangerhausen; auf Finne und Schmücke, zum Fernsehturm auf dem benachbarten Kulpenberg. Geradezu unsichtbar dagegen ist der sagenhafte Wasserschacht direkt nebenan auf dem Felsenplateau, der immerhin mehr als doppelt so tief ist: 180 Meter! Der tiefste Burgbrunnen der Welt. Wer traut sich da hinunter, wie wenige waren es insgesamt? Vielleicht zwei Handvoll im Laufe eines ganzen Jahrtausends? Und 180 Höhen- oder Tiefenmeter, wie stellt man sich das am besten im Vergleich vor? Das ist beispielsweise so hoch wie heute die höchsten deutschen Windräder an der Spitze ihrer Propellerblätter, oder auch fast so hoch wie die Besucherplattform des Berliner Fernsehturms! (Nur ist der unten 42 Meter breit, und der Turmschaft selbst oben immerhin noch an die 9 Meter im Durchmesser; dieser Höllenhals hier dagegen unten nur gute zwei Meter – und oben genauso. Geradezu eine Nadel!

Die eigentliche „Befahrung“ – wie der Bergmann sagt – dauert für mich nur etwa eine dreiviertel Stunde. Von der Idee dazu bis zur Tat dagegen vergingen etwa vier Jahre. Dazwischen lagen langer Atem, etliche Telefonanrufe, eine einwöchige Industrieklettererausbildung, der papierreiche Abschluß einer speziellen Berufsgenossenschaftsversicherung, eine umfängliche Haftungsfreistellungs-Erklärung und nicht zuletzt zwei alles in allem ziemlich dürre Corona-Jahre. Und wie eigentlich immer: Das alles wäre nicht nötig gewesen. Es genügt nämlich in der Praxis eines: Mut! 

Den habe ich offenbar – oder jedenfalls keine Angst. Würden Sie Angst haben, auf eine knapp einen Quadratmeter kleine, schaukelnde Aluminiumplattform mit Geländer zu steigen, die über den Brunnenrand bugsiert wird, dann an einem endlos langen Stahlseil knapp 180 Meter über der Tiefe baumelt, und dann rund 15 Minuten hinabgondelt in die geräuschtote, doch hallige Finsternis? Während oben einer am Brunnenrand mit der Fernbedienung den Kran professionell steuert (hoffentlich!), und der zweite Mann im Korb immer mal wieder mit seinen Händen das Metallgehäuse von der Wandung wegdrückt oder etwas eindreht? Während es einerseits stiller und stiller wird, weil die Außenwelt nach oben verschwindet, der Berg einen nach und nach verschluckt wie ein Riese, der sich einen guten Happen genüßlich in den Schlund gleiten läßt – und es andererseits immer mal wieder tüchtig rumpelt und poltert, wenn das schaukelnde Kabinchen oder der darunter angehängte Steinekorb an den Felsen donnernd anschlägt? Während das bißchen Tageslicht, welches überhaupt an der Brunnenhaube vorbei hineindringt, hoch droben verschwindet, und das anfangs saftiggrüne Moos rundum kärglicher wird, und bald nur noch der nackte, tote Sandsteinfelsen mit seinen roten Klüften von allen Seiten hineingafft, und unten die Tiefe gähnt?

Ach was, alles übertrieben! Die Handwerkstüftler der Erfurter Spezialfima Bennert machen das seit über 20 Jahren durchschnittlich zweimal im Jahr, alles Routine. Autokran anfahren und 18 Meter neben dem Brunnen aufstellen, Schutzgitter über dem Brunnen abschrauben und beiseite legen, eine Klappe in der Brunnenhaube entfernen, Seil durchfädeln, Plattform anhängen. Einsteigen – los geht’s! So ungefähr, so theoretisch. In Wirklichkeit kommen eine Menge Nebenhandgriffe dazu, dann das Ausbessern an manchem Schalter und manchem Draht, des Reparieren schadhafter Holzstellen, Prüfen von Leitungen, Abschleifen einiger Metallteile und mehr. Doch das alles ist ja nicht der eigentliche Zweck! Nein, es geht um etwas viel Grundlegenderes, im wahrsten Wortsinne: All die Steinchen, welche Besucher im Laufe der Saison in den Brunnen werfen, wieder hinaufzuholen! Damit der ungeheuerliche Bergrachen, der erst in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder freigelegt wurde, nicht  allmählich wieder zukieselt. Und das Ganze hat wahrhaft gründliches deutsches System: Die normierten Sandsteinmurmeln kauft der erlebnishungrige Amateurbrunnenforscher und Tourist am Automat neben dem Mundloch für einen Euro, und läßt ihn durch ein eigens dafür angebrachtes Rohr zielgenau in die Tiefe des Schachts fallen.   
 
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … etliche Sekunden vergehen, bis unten der winzige, helle Fleck verschwindet, weil die Wellen des aufschlagenden Felsbällchens die Lichtstrahlen des starken Scheinwerfers am oberen Rand brechen und in alle Richtungen verteilen. Unterdessen hat der schwindlige Hineinschauer aber das Zählen vielleicht schon vergessen, weil der hiesige Brunnengeist mit tiefer, schauriger Stimme aus der Tiefe herauf drohend poltert: „Was bewirfst Du mich, Elender? Gleich komme ich hinauf und ziehe Dir die Ohren so lang, daß Du sie als Hosenträger nutzen kannst!“. Ja, er hat schon Witz, der sprachgewaltige Wassertroll, und donnert einem auch jedesmal was anderes um die Ohren. Vieltausend Steinchen purzeln so hinab, und ebenso viele müssen dann wieder an die Oberfläche bugsiert werden. Unten haben die Bennert-Männer nämlich rundum ein Fanggitter angebracht, welches alles Hereinfallende listigerweise zur Mitte in einen unter der Wasserlinie hängenden Stahlkorb eintrichtert. Und den hängt  Frank Sieglitz, der jedesmal furchtlos in die Tiefe fahren darf (oder muß!), an seine schaukelnde Plattform. Dann geht’s wieder hoch, und der Kübel wird mühsam seitlich gekippt und ausgeschaufelt. Und nun eitel Freude auch bei den anderen beiden Beteiligten!

Auch Kranfahrer Roland Schmidt und Organisator Ralf Schwenkenbecher freuen sich jedesmal ein bißchen (freilich ohne es offen zuzugeben), denn zwischen den vielen Schmodderkieseln finden sich noch allemal etliche Handvoll kleine und mittlere Münzlein, die zu finden und zu begutachten deutlich mehr Entdeckerfreude macht, als den nebenstehenden Steinchen-Selbstverkäufer mit dem schnöden Mammon zu leeren – auch wenn Letzteres deutlicher ergiebiger ist. Und obwohl das Schwarzgeld, zumindest hier, wirklich stinkt! Nach Schlamm und Faulgasen. 
 
Aber ist vielleicht doch ein ungewöhnliches Kupferstück dabei oder ein seltener Silberling? Nein, diesmal nicht, aber dafür ein blinkender Ring. Und ein geheimnisvoll irisierender Glaskiesel. Die Aberdutzenden Centstücke, einige Groschen, Fünfziger und negriden Euros sind dagegen ziemlich unansehnlich. 

Macht nichts, die werden dann zu Hause, im Firmengelände bei Erfurt, eh noch geduscht. Oder vielmehr mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt, ebenso wie vor allem die Steinchen. Denn die guten kommen ins Töpfchen, zur Wiederverwertung und Weiternutzung. Die schlechten werden durch neue ersetzt. Immerhin sind sie tatsächlich aus echtem, roten Kyffhäusergestein.

Als der Brunnen vor 900 Jahren gegraben wurde, ging´s zweifellos beschwerlicher und vor allem langsamer zu. Waren es Profikumpel, die sich auf der Reichsburg zu Zeiten des Stauferkaisers Barbarossas händisch in die Tiefe buddelten, über 40 Jahre lang, von 1140 bis 1180? Ein ganzes Hauerleben lang also? Oder waren es vielleicht eher Zuchthäusler, die hier schuften mußten, im Schein von rußigen Kienspänen und „Fröschen“, uralten einfachen Talglämpchen, womöglich tage- oder wochenlang unten am Grund, jeden Tag ein kleines Stückchen tiefer, und die nur selten das Tageslicht wiedersahen, oder nimmermehr? Es fällt der Einbildungskraft leicht, sich üble und beängstigende Geschichten auszumalen: Auf Holzgerüsten und wackligen Leiterfahrten absteigen, 10 Stunden lang im Düstern am Grund auf Knien pickern oder schwere Steinsäcke auf dem Rücken hochbuckeln, irgendwann dazwischen einen Kanten Brot und eine Kruke Wasser. Im besten Fall dann erschöpft und müde hochkraxeln, mit je noch einer zentnerschweren Holzkiepe voller Sandsteinklamotten auf dem Rücken hinauf zum Schichtende; im schlechteren Fall unten bei Feuchte und Kühle im Dunklen übernachten müssen auf einer Handvoll Lumpen, womöglich nach Belieben und Tagesform der Schildwache? Wie viele mögen abgestürzt sein oder ihr Leben eingebüßt haben durch herabfallende Felsbrocken?

Und wie war das 1934, als der Brunnen nach jahrhundertelanger Verschüttung innert dreier Jahre mühselig erneut ausgebuddelt wurde, von den Männern beim Reichsarbeitsdienst? Knufften sie freiwillig für ein paar harte Reichsmark und vielleicht mit einer gewissen Wiederentdeckerfreude – denn immerhin kann man ja schon einiges erwarten in all dem Schutt, der in Hunderten von Burgjahren so in einem Brunnen verschwindet – oder plagten sie sich auch eher zwangsweise bei schmalem Taler und dünner Suppe? Immerhin, elektrisches Geleucht gab es da längst, und die robusten und hellen Stirnlampen der weltberühmten Zwickauer Firma „Fricke und Wolf“ leuchteten schon an etlichen Hauerhelmen – längst geradezu Sinnbild des Bergmanns, neben Schlegel und Eisen.

Trotzdem liegt hier vieles in der dunklen Tiefe der (Ge-)Schichten. Eines aber steht fest, ebenso fest wie das monumentale Bauwerk zum Ruhme des zweiten deutschen Reiches nebenan: Der Brunnen birgt heute noch, oder wieder, ein solides Geheimnis. Das Geheimnis eines Schatzes nämlich! Nein, geheim ist eigentlich weder die Sache noch der Schatz selbst: Es existiert ja sogar eine genaue Aufstellung jener Effekten, die hier zum Kriegsende „in einem zugeschnürten Stoffbeutel“ versenkt wurden aus Furcht vor plündernden Siegersoldaten. Dazu sollen unter anderem drei kostbare Jagdflinten und ebenso viele, immerhin mit Brillanten besetzte Schwerter gehören, die das seinerzeitige Staatsoberhaupt, Kaiser Wilhelm, von ausländischen Diplomaten geschenkt bekommen haben soll. Ferner tatsächlich Geschmeide und Schmuck aus purem Gold. Diese Dinge lagerten hier damals wohl bereits seit einiger Zeit, wahlweise versteckt oder auch teilweise museal ausgestellt, als „der Russe vor der Tür stand“ (mal wieder, ja, ja) – wie man so munkelt … 

Gemunkel her oder hin, versenkt wurden die Sachen, und gesucht wurde auch danach. Vor 7 Jahren erst, 2015, viele Tage lang. Großer Kran, Spezialpumpen, Wasser rauf, Männer runter, kubikmeterweise Schutt und Schlamm wieder rauf. „Wir konnten anhand der gefundenen Münzen zeitlich klar die Schlamm- und Zeitschichten einteilen“, erinnert sich Frank Sieglitz, der am Grund schaufelte und schuftete, in Wathose und Gummistiefeln. „Schließlich waren wir gerade fast in der Kriegsszeit angekommen, da wurde die Aktion gestoppt. Ich bin ziemlich sicher, nur wenig später hätten wir den Schatz gefunden!“   

Und warum wurde, beim Klabauterbergmann!, die Findungsaktion dann abgebrochen? Lag es an dem Fund einer Panzergranate, wie Sieglitz vermutet, der den finsteren Brunnen bei der Gelegenheit gute vier Meter tiefer ausgeschaufelt hat? Oder lag es daran, das den beteiligten Firmen Geld und Geduld ausgingen? Oder lag es an Unstimmigkeiten zwischen den Spezialisten für die Tiefe des Berges und einem Initiator der Schatzsuche, dem Spezialisten für die Tiefe des Ozeans: dem Meeresbiologen Professor Hans Fricke? Oder daran, daß man bereits etwas gefunden hatte – und sich damit zufrieden gab? Ein zugeschnürter Beutel wurde nämlich tatsächlich gefunden, mit einigen schmucken Dingen wie einem kleinen (Dorf-) Prinzessinnenkrönchen darin, und manch geschichtlichem Tand, der heute im Denkmalmuseum nebenan ausgestellt ist. Tand? Nun, der Beutel war dummerweise eindeutig aus Dederon, also aus robuster DDR-Synthesefaser, und die Dinge schon deswegen wasserklar nicht die eigentlich Gesuchten aus des Regenten Epoche. (Wenn, ja wenn es denn bei allen Beteiligten zu allen Zeiten mit rechten Dingen zuging. Aber wer würde dafür seine Hand schon ins Feuer legen, oder seine Füße in den kalten Brunnensumpf stellen?)

Der schwere und starke Magnet, den ich mit hinabgenommen habe, um irgend etwas herauszufischen aus möglichst alten Jahrhunderten, zieht leider auch nichts ans Licht der Taschenlampe. Herabgelassen an einer dünnen Schnur, nur wenige Meter über dem Wasserspiegel hängend, dringt er nicht durch das Edelmetallgitter und den unten vertäuten Fangkorb. Natürlich nicht. Da müßte man schon mal eine neue, wahrlich gründlichere Suche starten mit Ausbau dieser ganzen Neuzeit-Technik. Doch wer investiert dafür und für die alten, nassen Büchsen noch mal sein trockenes Pulver? Immerhin, einen anderen Schatz, der auf lange Sicht wahrscheinlich viel nützlicher ist, konnte ich dann doch mit heraufziehen. Eine gute Wasserprobe, zunächst ebenfalls an der Schnur in einer Bügelverschlußflasche weit unten eingefüllt. Ganz hervorragend ist das Tiefenwasser, wenngleich nach all dem Korb-Auf-und-Abgewühle  momentan von leicht erdigem Geschmack. Sauberes, glasklares Bergquell- oder Brunnenwasser notfalls reichlich vorrätig zu haben – ist das denn nicht gut zu wissen, für künftige Durststrecken gleich welcher Art? Oder als etwaiges Mitbringsel aus dem tiefsten Burgbrunnen der Welt, für Touristen aus aller Welt? Zweifellos mit dem guten Geist Kaiser Barbarossas wird es wohl durchtränkt sein, der doch irgendwo dort drunten im Bauch des Berges noch immer harrt auf bessere Zeiten in deutschen Landen …