22. Juni 2022

[Geschichte] Große Sterne hinter kleinen Gittern

 

Es ist ein ungewöhnliche Geschichte. Es ist eine seltene Geschichte. Und es ist eine schöne Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der den größten Teil seines (täglichen) Lebens freiwillig hinter Gitter geht, ganz nach unten - im doppelten Sinn. Um dort etwas zu tun, was seine Kollegen ausschließlich am anderen Ende der Gesellschaft vollbringen, ganz oben. Warum tut er das? "Ich wollte etwas ganz Neues ausprobieren und was lernen, und dabei möglichst was Sinnvolles tun", sagt der Mann wie nebenher, ohne aufzuschauen. Das hat geklappt. Größer als der Nutzen für ihn ist der Nutzen für die unfreiwillige Gemeinschaft vor Ort. Dafür ist er dort seit Jahren Held und gefeiertes Vorbild. Es dürfte weltweit keinen Menschen geben, der so viele echte Freunde unten den harten Jungs hat. Den richtig harten.

"Nadrizdov Kompleks" heißt die ausgedehnte Justizvollzugsanstalt nördlich von Preßburg. Sie ist regulär für 970 männliche Häftlinge ausgelegt, und überwiegend ist sie ausgelastet. Deutlich kleiner angelegt im Jahr 1844 für den gleichen Zweck, zu Zeiten der Donaumonarchie: damals für 400 Personen. Nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit lang von Zigeunern als Unterkunft genutzt, ab 1930 Hilfskaserne für slowakisches Militär. Nach 1945 wieder Gefängnis, vorübergehend vollgestopft mit weit über 1000 überwiegend deutschen Männern und Frauen: die meisten kurz danach vertrieben. Einige arme Teufel blieben noch jahrzehntelang hinter den düsteren Mauern. Ab 1958 Militärgefängnis als auch reguläre JVA der Tschechoslowakei, mit großen Erweiterungsbauten endlich ab 1970. Der alte, aus Backsteinen gebaute und großteils verklinkerte Zellentrakt von 1844 steht allerdings ebenso noch wie die Verwaltungsgebäude aus Feldsteinen. Beides wurde in den späten Neunzigern saniert und wird in unseren Tagen noch immer genutzt. Die Küche, im Keller des neueren Langhauses gelegen, etwa 5 mal 15 Meter groß, ist ein lang gezogenes Rechteck: grau gekachelt bis zur Decke, fünf kleine Fensterluken auf einer Seite, vergittert wie hier alles. Vier Großwaschbecken, zwei lange Arbeitsplatten mit gewaltigen Holzbrettern als Unterlage, drei Herde, der größte achtflammig, und sechs gußeiserne Backöfen, die neben- und übereinander in die Wand eingelassen sind. Knapp unter der niedrigen Decke hängen im 2-Meter-Abstand üppige, schwarze Schalenlampen mit großen 150-Watt-Glühbirnen. Sie erinnern an die alten Reichsbahnlampen auf Bahnsteigen, und wahrscheinlich sind es auch genau solche. So sieht das bescheidene Reich von Sternekoch Jano Menkart aus, den sie hier alle "Šeffe" nennen  zu deutsch schlicht "Chefchen", aber anerkennend. Zuletzt hat er 12 Jahre in einem der besten Wiener Hotel-Restaurants gearbeitet – wo genau, soll ich nicht sagen, darum bat er mich als leitender Chefkoch. Seine Sterne-Ausbildung bekam er noch in der alten Heimat, an der halbstaatlichen slowakischen "Akademie für Küchen- und Hotelwesen" in Žilina (früher Sillein), und in der Slowakei hat er auch seine ersten Sporen verdient und Spitzensuppen gekocht, in einer Szenekneipe im Herzen Bratislavas. Sogar auf See ist er eine kurze Weile gewesen – ziemlich ungewöhnlich für einen Binnenstaatler: Unmittelbar nach seiner Lehrzeit eher ziellos für einen befreundeten Kollegen aus Travemünde einspringend, fand er sich unverhofft in Taiwan wieder, auf einem kleineren Frachter als Smutje.

Jetzt bläst keine warme, salzige Meeresbrise durch ein geöffnetes Bullauge mit blauem Himmel dahinter, und die große, weite Welt ist genauso fern wie das Duftflair der feinen Wiener Gesellschaft. Knoblauchige Kohldünste wabern durch den Keller, und durch die angekippte Glausbaustein-Luke dringt eine dünne Geruchsschwade mit Teer und verbranntem Tabak. Šeffe, der Küchenchef, hat keine 3 Hilfsköche und 4 "Schmorschurln" (gemeint sind „Bratenwender“ oder allgemein Küchengesellen) unter sich, dirigiert keine herein- und herausstolzierenden Kellner in Livree mit weißen Handschuhen. Ihm zur Seite stehen zwei halbtags angestellte, weibliche Küchen-Fachkräfte und ein Lehrling in spinatgrünen Küchenkittel sowie üblicherweise 6 Häftlinge im Anstaltsgrau mit Schürze; einer von ihnen hat schon mal als Koch gearbeitet, und ein anderer hat sich als "Kellner mit Küchenerfahrung" in diese gefragte Stellung … nun, sagen wir: selbst empfohlen. Der Rest hat irgendwas gelernt – oder gar nichts. Aber alle sind mit Feuereifer und höchster Disziplin, mittlerweile auch schon längst mit einigem Können, bei der Sache. Keiner der Männer käme auf den Gedanken, schlampig zu arbeiten oder gar seinen Küchendienst zu quittieren, bevor er entlassen wird. Und Milan, der lebenslängliche, wird für immer hier bleiben. Nicht nur, weil sie hier an der Quelle sitzen, am Fleischtrog und am Kuchenblech. Sondern weil er und die anderen hier viel lernen, weil sie Sinnvolles tun, weil manche von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Nützliches für die anderen, die Gemeinschaft, tun. Es ist auch wegen mancher kleiner Vorteile, klar. Man kann mal tauschen (etwas Backpulver zu Reinigungszwecken oder schwarzen Tee, den manche zum Rauchen nutzen). Aber in erster Linie, weil sie deswegen ungeheuer geachtet sind bei den anderen Männern da draußen. Oder vielmehr: da drinnen, aber draußen um die Küche. Die Küche mit dem Star.

Und Achtung, ja Achtung bedeutet viel im Knast. Vielleicht das meiste. In der allgemeinen Gesellschaft, wo jeder Einzelne bei aller empfundenen Gängelei und Einschnürung zumindest noch soviel Freiheit hat, daß er ungeliebten, womöglich gehaßten Mitmenschen aus dem Weg gehen kann, wenigstens zeitweise, ist Achtung eine Frage des Komforts. Eine Frage des gehätschelten Egos. Eine Frage des bequemer oder schwerer an-eine-gute Stelle-kommens oder von mehr oder weniger Trinkgeld; eine Frage des öfter oder seltener angelächelt oder bewundert werdens. Im Chládok, im Loch, wie sie es hier nennen, kann Achtung eine Frage des Überlebens sein. Nicht des seelischen Überlebens, sondern des körperlichen.

Doch der "Šeffe" wird nicht allein geachtet. Er wird hoch geschätzt, vereehrt, ja, bejubelt. Die Männer lieben ihn alle. Seit er hier ist, seit 2014, ist nicht nur das Essen um Klassen, um Längengrade, um Horizonte besser. Ach was, Essen! Feinste Speisen tischt er ihnen ja auf, allen, edle Gerichte, und bisweilen die ausgesuchtesten Köstlichkeiten an Wochenenden, wenn es die Lieferungen zulassen. Es wird mittlerweile geradezu geschlemmt in den Zellen, beinahe täglich! Früher gab es hier jahrzehntelang die übliche, magere Massenabspeisung, in der Nachkriegszeit war es schlicht Fraß. Schweinefraß. Später über Jahre Kantinenessen aus Krautsuppen, allenfalls zähem Hammelfleisch und angekeimten Kartoffeln. Vorgekochten Erbseneintopf aus Riesenbüchsen. Schlackwurst mit Senf und hartem, nicht selten angeschimmeltem Graubrot. Kohleintopf mit Schweinebauch, eine seltsam lila Fleischgrütze namens "tote Oma" (wie wohl in allen Knästen der Welt), versalzene Haluschki mit Magerquark statt Rahm (der alte Österreicher nennt es Bimsennockerln), zweimal im Jahr gesäuerten Hering und vereinzelt eine Mehlpampe, die Palatschinken hieß. Jetzt gibt es „in Butter und Schalotten geschwenkte Fettucine mit Kräutergirlande am Knusperrippchen“ oder „mild angeräucherten und zweimal gebratenen Fenchel mit Korianderkruste im eigenen Fond“ – und die Gerichte hören sich nicht nur appetitlich an, sondern sie sehen auch genau so aus und schmecken so. Natürlich, die Namen denken sich die Rühr- und Schneidhäftlinge zusammen mit dem Maitre-Boß aus, je nachdem, was Vorratskammer und Kochkünste gerade hergeben. Meist geben sie viel her. Nicht nur, daß ein so beschlagener Spitzenkoch wie Menkart „vieles aus allem zu zaubern“ vermag. „Das ja gerade macht das Kochen aus“, sagt der Meister ziemlich bodenständig, während er 52 Eier mit der linken Hand aufschlägt und trennt, in etwa anderthalb Minuten. (Natürlich, das ist für mich eine kleine Schauvorführung in praktischer Küchenkompetenz, die er allerdings bereits im zweiten Lehrjahr gelernt hat; mit der Arbeit eines Spitzenkochs hat es üblicherweise so viel zu tun wie rudern-können beim Käpitän eines Luxus-Liners.) Nicht nur, daß er den Anspruch hat, so viel wie möglich selbst und so viel wie möglich frisch zuzubereiten, und so oft wie möglich Neues, Ungekanntes und dennoch überaus Schmackhaftes zu kreieren. Nicht nur, daß er den Anspruch vor allem an sich selbst hat, sogar so große Mengen, wie sie hier nötig sind, liebevoll und immer wieder raffiniert und abwechslungsreich zu fertigen: zu pochieren, zu braten und garen und kochen und schmoren, zu dämpfen und dünsten, zu säuern und süßen, anzuflammen und abzuschwenken, anzuschwitzen und aufzuköcheln, zu flambieren und zu umrahmen, zu salzen, zu pfeffern, zu karamellisieren und aufzuschäumen. Sondern auch, daß er es mit seiner Kunst und vor allem seiner Liebe zur Arbeit geschafft hat, auch die mürrischsten und knorzigsten Schließer, Wärter und Anstaltsdirektoren (er dient nun schon beim dritten) zu überzeugen und für sich zu gewinnen. Längst bestellen sie nicht mehr von außerhalb ihre Käseschnitzel und Pizzen oder essen zu Hause. Längst bestellen sie in ihrer eigenen Anstaltsküche und erkundigen sich auch gerne schon mal vorher, was es morgen geben wird? Längst haben sie alle kapiert, daß es ihnen allen hier, Wärtern wie Knastis, in jeder Hinsicht besser geht, seit der Mann dort unten so gutes Essen kocht. Daß alle mit allen besser auskommen - man könnte schon fast sagen: harmonisch. Daß es kaum noch ernsten Streit gibt, geschweige denn handfeste Randale. Deswegen öffnen sie ihm Türen für das, was er braucht, versuchen ranzuholen, was seine Jungs in der Küche gerne hätten, finden Mittel und Wege, bisweilen sogar mal frischen Koriander oder Forellen herbeizuschaffen. Nicht bundweise oder in Pfund gemessen, sondern in (Frischhalte-)Säcken oder halb tonnenweise.

„In Wien hatte ich gedacht, ich wäre bereits ganz oben angekommen, mit 35 Jahren“, sagt Menkart und schmunzelt kopfschüttelnd, kopfschüttelnd wohl über sich selbst. „Rein äußerlich, vom Lebensstil her betrachtet, hatte ich es 20mal besser als hier. Ich habe sechs Tage die Woche gearbeitet, hatte dann jeweils 5 Tage frei, und habe gut siebenmal soviel verdient.“ Er wohnte im westlichen Zentrum der Altstadt, im Ersten Bezirk, beinahe dem vornehmsten Quartier der Habsburgermetropole. Hatte gute Freunde in der feinen Gesellschaft, der sogenannten "hautevolee", und wurde schon mal zu Empfängen bei Ministerialdirektoren eingeladen und kochte einmal exklusiv für das Königshaus Ibn Sauds, zusammen mit zwei weiteren Grand-Cuisineurs. Jetzt ist er an 25 Tagen des Monats hier im Keller, täglich von Zehn bis Acht oder Neun abends, und wohnt dann nur knapp 400 Meter außerhalb von der hohen Betonmauer, die oben doppelt stacheldrahtbekrönt ist. (Nein, nicht bekrönt, sondern bekränzt das klingt schon eher nach der beabsichtigten "Begrenzung".) Der Dauerschein der grünlichen Quecksilber-Dampflampen an der Lichtgasse vor den Betonwänden leuchtet nachts bis in seine Zweieinhalb-Zimmer-Bude. Ziemlich bescheiden, möchte man meinen. Zumal für jemanden, der sich ein schickes Chalet in den Walliser Alpen leisten könnte, einen Leuchtturm auf Sylt oder zumindest eine Villa in Kühlungsborn. Ein schlimmer Abstieg, würden die meisten sagen. „Heute ist mir klar, eigentlich war ich damals ganz unten.“ Wie bitte? „Viel Show, viel Fassaden, und nicht wenige genauso arme Würstchen wie hier. Mit einem Unterschied: Die armen Würstchen hier freuen sich riesig auf ihr Essen, sie genießen es wirklich“. Spricht´s, dreht sich mit wehender Hüftschürze um zum Rezeptblock, kritzelt einige Einfälle darauf und eilt in die Kühlkammer.

Offensichtlich ist es was anderes, was den Mann hier hält. Nicht in erster Linie die Möglichkeit, ziemlich selbstbestimmt – im Rahmen der Möglichkeiten – zu kochen, zu rühren, echte Freude mit seiner Hände Arbeit zu schaffen und sich ein bißchen als Künstler und Kauz feiern zu lassen. Vielleicht eher das: Das Wissen, daß die Kumpels, die er hier in den letzten Jahren gewonnen hat, völlig ohne großspurige Versprechungen, feine Stöffchen oder üppiges Trinkgeld, ihm eigenhändig Kohlen aus brennendem Feuer holten, wenn er sie darum bäte. Bis zu seinem Lebensende. Und, viel besser noch, daß er aus einem Ort, der für viele die Hölle auf Erden darstellt, ein Stückchen Himmel zu machen imstande ist. Oder wenigstens etliche leuchtende Sterne dranhängen kann.