14. September 2022

[Reportage] Die geheime Zeitschleuse unter der Osterburg

Wer in die Zukunft reisen will, muß sich seine eigene Phantasie zu Hilfe nehmen. Oder sich auf die Vorstellungskraft von Künstlern, Schriftstellern und Utopisten verlassen. Dann kann er vielleicht durch Romane oder Filme eintauchen in eine Zeit, die möglicherweise dergestalt kommen wird. Wer in die Historie reisen will, hat es etwas einfacher, zumindest für die jüngeren Epochen – bisweilen reicht da eine Reise ans Ende der Welt: Dahin, wo die Schuhe noch aus Holz geschnitzt werden, Sensen von Hand gedengelt und Teigfladen in Steinöfen gebacken. Man kann aber auch mitten im Deutschland des Jahres 2022 satte 170 Jahre in die wirkende Vergangenheit reisen. In die Zeit, in der unsere Ur- und Ur-Urgroßväter mit Kopf, Hand und Herz schufteten und unseren heutigen Wohlstand erschufen. Wo das gehen soll? Nun, in Ostthüringen.


 
Sind Sie bereit für den Eintritt in das Jahr 1860? Die erste Nationalrevolution liegt schon wieder 12 Jahre zurück, doch die Einigung ihrer deutschen Lande konnten die ungefähr 600 ehrbaren Standesvertreter, Gelehrten und gut patriotisch Gesinnten nicht erwirken. Lange hatten sie wohlfeil und rechtschaffen disputiert in der Frankfurter Paulskirche, doch von Außenpolitik hatten sie allesamt keine Ahnung: Ohne die umliegenden Großmächte zu betören, zu beschwichtigen, zu zwingen oder zu bestechen konnte es nicht gehen, denn jede von denen hatte ihre eigenen Interessen – und bereits einen zentralen Kopf. Trotz vieler Handelsgrenzen, Zollschranken, verschiedener Normen und Maßen im deutschsprachigen Raum – „deutsches Reich“ ist es nicht mehr und noch nicht wieder – wird das Leben behutsam reicher; die Handwerker sind fleißig, die Bürger tugendsam, die Obrigkeit je nach Region erträglich bis aufgeschlossen, die Studenten aufgeweckt und fortschrittlich. Neue Erfindungen drängen in die Wirtschaft, die Grundlaugen der Fotografie sind längst gemischt und in Kürze werden kompakte Kameras für jedermann erhältlich sein; eine Stimme schnarrt durch den Draht eines Holzkästleins, das Philipp Reis als ersten „Fernsprecher“ der Welt vorstellt; Johann Göbels Glühbirne leuchtet schon seit Jahren gleißend hell an einer Batterie, nur wartet Werner von Siemens dies begünstigende Erfindung des Dynamos als Stromgeber noch auf seinen erstmaligen Bau. Einige Chemiker an Oder, Spree und Rhein experimentieren zäh und ausdauernd am in Massen vorhandenen Steinkohlenteer, und werden ausgerechnet aus dem düsteren, schwarzen Abfallprodukt in Bälde Farbstoffe zaubern, die schon ihren Kindern nicht weniger als den ganzen Globus vielfältig und billig bunt machen wird. 
 
Derweil wandern massenweise Geplagte, Gepreßte und Geächtete aus dem dichtbesiedelten und engen Europa aus in die „Neue Welt“, mit nichts begütert als ihrer Hoffnung, Verzweiflung und Tatkraft. So oder so: Es geht tüchtig voran, überall in deutschen Fürstentümern wird gekurbelt und geschleift, gehobelt, gefeilt, gehäckselt und gesägt, gesegelt und gebetet. 
 
 
Doch halt! Das war erst die Vorrede! Pur décor. Jetzt geht’s erst richtig hinein ins Jahr 1860! (Denn grau ist alle Theorie, und grün des Lebens gold´ner Baum. Weimars Meisterkopf-Zitat aus dem Faust hat auch schon wieder 58 Jahre auf dem Buchbuckel, jeder Bildungsbürger kennt das dichterisch-mystische Oeuvre jetzt fast auswendig, doch die große Romantik-Renaissance steht noch bevor.)
 
Pardon, Monsigneur, dafür muß ich Ihnen nun ein bißchen ans (Arsch-)Leder gehen, und Sie durch ein unscheinbares Tor schieben. Nicht in Paris, nicht in Berlin oder Wien, sondern in der Unteren Straße 6 in Weida. Und zwar im vormaligen Haus des Lohgerbers Friedrich Francke, seines Zeichens Ledermacher in der vierten Generation. Und schwuppdiwupp, schon sind wir drin. Aaaah! Oooh! Incroyable! Eine niedrige Holzkonstruktions-Halle mit angeschrägtem Sägezahndach oben, durch die reichlich handwerkerfreundliches Oberlicht fällt. Staubkörnchen tanzen in der Luft, in den Lichtstrahlen vor dem Hintergrund dunklen Buchenholzes und weit hinten im Ungewissen verschwindender Nebengelasse gut sichtbar. Jede Menge Eichenbottiche und mit Folie ausgeschlagene Zuber, in denen mühelos zwei bis drei stramme Lederergesellen gleichzeitig baden könnten. Im Fußboden eine kreisrunde Lohgrube neben der anderen, mannsbreit und mannstief, manche mit Holzbrettern zugedeckt, viele offen, einige mit dunkler Brühe darin. Eine hölzerne Einradkarre, ein Weidenkorb voller Fichtenrindenschrot, eine knorrige Sprossenstiege. 
 
 
Das mit Abstand Jüngste ist die moderne Beleuchtung mit Glühbirnen und Glasschalen aus der Zeit Siegmund Bergmanns und Otto Schotts. Ansonsten eine restlos originale Lohgerberei in ihrer Erstausstattung, gegründet 1844 von Johann Franckhe. Mit allem, was dazugehört: Wasserwerkstatt, verschieden dicken Gerberlaugen in Ansatzbehältern und Gruben, Ausststoßmaschine und Äscherbottich mit Langarmzangen, Schabebäumen und Scherdegen, Falzmaschine und tonnenschwerer Lederglättpresse; Trockenräumen im Dachstuhl, Dampfmaschine, Rindenbrecher, Elevator und Lohmühle (alles bestens geschmiert und voll funktionabel) sowie Borkentenne im Nebenhaus,  schließlich innenliegenden Spülkanälen plus vorbeirauschendem Fluß – über eine Pforte direkt zugänglich, zur Flußwasserentnahme und zum Auswaschen von Tierhäuten und Fellen. Und Ufersteg plus Fanghaken, damit dem Gerber nicht die Felle davonschwimmen. Das einzige, was fehlt, ist Gottseidank der Geruch, den man nahezu nie konservieren kann. (Der Gestank in einer Gerberei muß zu allen Zeiten infernalisch gewesen sein, vor allem in den heißen Monaten.) Was einzig sonst noch fehlt, ist der Gerber samt Gehilfen selbst; wäre er da, könnte das Walken, Wässern und Weißen sofort weitergehen. Vielleicht fehlt hier auch noch ein anderer verhuschter und linkischer Charakter, ein Jean-Baptiste Grenouille?
 

Erst 1992 hängte der letzte Tierfell-Francke hier die Pump-Riemen an der Treibscheibe aus und seine Handschuhe an den Nagel. Fast 150 Jahre lang (!) hatten er und seine Vorfahren an dieser Stelle aus Rinderhäuten sogenanntes „Kernleder“ durchgehend gegerbt, insbesondere für Sohlen, Hinter- und Vorderkappe von Schuh und Stiefel. Mit genau dem, was eine jahrhundertalte Handwerkszunft, tradiertes Wissen und die Maschinen-Erstausstattung aus Humboldts Zeit der kleinen Familien-Fabrik zu bieten hatte: nicht mehr, nicht weniger. Jeweils über ein Jahr dauerte es immerfort, bis aus den angelieferten Kuhkleidern, dutzend Kilogramm schwer, feucht, dick eingesalzen und gewiß abscheulich stinkend, eine saubere, trockene, stabile Ledertafel mit glatter Oberfläche wurde: Nahezu unendlich haltbar, sagenhaft zäh, markant und durchaus wohl riechend. Eiweißumwandelnde Stoffe aus Fichtenrinde haben es bewirkt, neben viel Zeit und viel Wasser. Und neben viel gut eingeübter, kerniger Handarbeit im Dreimannbetrieb. Bestes Leder, der Stoff für Schuster und Riemenschneider, Handschuhmacher, Schneider, Polsterer und Tischler.

 
Vielleicht sind 1848 schon einige Revolutionäre mit hiesigen Brandsohlen unter ihren Füßen auf die Barrikaden getrampelt? Womöglich haben zwei Jahre später einige mitteldeutsche Abgeordnete in Frankfurt dieses gute, ein ganzes Jahr lang gereifte Güteleder unter ihren braunen Halbschuhen getragen? Wie viele tapfere thüringische Soldaten marschierten mit stramm genagelten Stiefeln aus diesem tierisch soliden und handwerklich aufwendig bearbeitetem Roh-Stoff durch das Elsaß zur Reichseinigung 1871? Wie viele schlesische Weber saßen damit an ihren ratternden Webstühlen, wie viele anhaltinische Rübenjunker stapften damit durch die Zeit und ihre altmärkischen Felder, wie viele Industriekulis standen damit bei BMW in Eisenach am Band der Geschichte und stiefelten später mit solch stabilem Rinden- und Rinderwerk in den volkeigenen Feierabend? Wie viele Barbiere haben am Leder ihre Rasierklingen gewetzt, um jahrhundertalte Bärte in knappe Stutzer zu kürzen, während der Strom der Zeit durch die Weida floß? Das weiß keiner, das geht auf keine Kuhhaut. 
 
Was wir aber wissen: Friedrich Francke war weitsichtig und geschichtssinnig genug, den historienträchtigen  Gerberbetrieb seiner Vaterstadt zu überlassen, ehe er selbst 2002 das Zeitliche segnete. Diese pflegt die Leder-Faktorei als „Technisches Schaudenkmal“, zusammen mit der ebenfalls mittlerweile  weit aus der Zeit gefallenen Wohnstube des Lederers im gleichen Haus. Und prompt ist eine Zeitreise in die Vergangenheit über vier Generationen hinweg möglich! Der kleine Elektromotor, der die vorkaiserliche Dampfmaschine unscheinbar unterstützt, macht´s möglich: Vermittels gußeinerner Schwungräder, schwerer Transmissionsriemen und offener Treibscheiben knattert und rattert der staunende Besucher in das betriebssame Arbeitsflair des vorvorletzten Jahrhunderts! 
 

Verdichtete und haltbar gemachte Geschichte, die verdichtete und handwerklich haltbar gemachte Häute zeigt, die alsdann Leder heißen. Wenige kennen den gemeinisvollen Ort, von Außen sieht das unscheinbare Fachwerk-Ensemble nur nach einer weiteren, verträumten Häuserzeile von irgendwann am Rand eines öffentlichen Raums aus, der nichts scheinen will und lieber vor sich hinträumt. Die Burg dort droben zieht doch sowieso alle Blicke auf sich ...
 
 

Sind Sie ein echter ABENTEURER? Ein Weltenbummler und Zeitenpendler? Ein den-Dingen-auf-den-Grund-Geher und Hinter-die-Kulissen-Schauer? Unerschrocken, wetter-gegerbt, mit dickem Fell und ein bißchen verwegen, einer, der mit allen Lohbrühen gewaschen ist, und dem man daher so leicht kein „made in X“ für ein handwerkliches U vormachen kann? Dann merken Sie sich also Weida, wenn Sie zum Ort Ihrer ersten Zeitreise fahren wollen und was über Handwerksgeschichte, deutsche Wertarbeit und Ledergerbung erfahren wollen. Apropos erfahren: Fast aus allen Richtungen kommend nimmt man an der Autobahn A9 in Ostthüringen die Abfahrt “Lederhose“. Und abgesehen davon: Auch sonst ist das Städtchen Weida, wo aus nicht wenigen Dächern Birken wachsen, in jeder Richtung besehen bestens geignet für eine Reise in die gute, alte Zeit …