Wer in die Zukunft reisen will, muß sich seine eigene Phantasie zu Hilfe
nehmen. Oder sich auf die Vorstellungskraft von Künstlern, Schriftstellern und
Utopisten verlassen. Dann kann er vielleicht durch Romane oder Filme eintauchen
in eine Zeit, die möglicherweise dergestalt kommen wird. Wer in die Historie
reisen will, hat es etwas einfacher, zumindest für die jüngeren Epochen –
bisweilen reicht da eine Reise ans Ende der Welt: Dahin, wo die Schuhe noch aus
Holz geschnitzt werden, Sensen von Hand gedengelt und Teigfladen in Steinöfen
gebacken. Man kann aber auch mitten im Deutschland des Jahres 2022 satte 170
Jahre in die wirkende Vergangenheit reisen. In die Zeit, in der unsere
Ur- und Ur-Urgroßväter mit Kopf, Hand und Herz schufteten und unseren heutigen
Wohlstand erschufen. Wo das gehen soll? Nun, in Ostthüringen.
Sind Sie bereit für den Eintritt in
das Jahr 1860? Die erste Nationalrevolution liegt schon wieder 12 Jahre zurück,
doch die Einigung ihrer deutschen Lande konnten die ungefähr 600 ehrbaren
Standesvertreter, Gelehrten und gut patriotisch Gesinnten nicht erwirken. Lange
hatten sie wohlfeil und rechtschaffen disputiert in der Frankfurter
Paulskirche, doch von Außenpolitik hatten sie allesamt keine Ahnung: Ohne die
umliegenden Großmächte zu betören, zu beschwichtigen, zu zwingen oder zu
bestechen konnte es nicht gehen, denn jede von denen hatte ihre eigenen
Interessen – und bereits einen zentralen Kopf. Trotz vieler Handelsgrenzen,
Zollschranken, verschiedener Normen und Maßen im deutschsprachigen Raum – „deutsches
Reich“ ist es nicht mehr und noch nicht wieder – wird das Leben behutsam reicher; die Handwerker sind fleißig, die Bürger tugendsam, die Obrigkeit je nach Region
erträglich bis aufgeschlossen, die Studenten aufgeweckt und fortschrittlich.
Neue Erfindungen drängen in die Wirtschaft, die Grundlaugen der Fotografie sind
längst gemischt und in Kürze werden kompakte Kameras für jedermann erhältlich
sein; eine Stimme schnarrt durch den Draht eines Holzkästleins, das Philipp Reis als
ersten „Fernsprecher“ der Welt vorstellt; Johann Göbels Glühbirne leuchtet
schon seit Jahren gleißend hell an einer Batterie, nur wartet Werner von
Siemens dies begünstigende Erfindung des Dynamos als Stromgeber noch auf seinen
erstmaligen Bau. Einige Chemiker an Oder, Spree und Rhein experimentieren zäh
und ausdauernd am in Massen vorhandenen Steinkohlenteer, und werden
ausgerechnet aus dem düsteren, schwarzen Abfallprodukt in Bälde Farbstoffe
zaubern, die schon ihren Kindern nicht weniger als den ganzen Globus vielfältig
und billig bunt machen wird.
Derweil wandern massenweise Geplagte, Gepreßte und
Geächtete aus dem dichtbesiedelten und engen Europa aus in die „Neue Welt“, mit
nichts begütert als ihrer Hoffnung, Verzweiflung und Tatkraft. So oder so: Es
geht tüchtig voran, überall in deutschen Fürstentümern wird gekurbelt und
geschleift, gehobelt, gefeilt, gehäckselt und gesägt, gesegelt und gebetet.
Doch halt! Das war erst die
Vorrede! Pur décor. Jetzt geht’s erst richtig hinein ins Jahr 1860! (Denn grau
ist alle Theorie, und grün des Lebens gold´ner Baum. – Weimars Meisterkopf-Zitat
aus dem Faust hat auch schon wieder 58 Jahre auf dem Buchbuckel, jeder
Bildungsbürger kennt das dichterisch-mystische Oeuvre jetzt fast auswendig,
doch die große Romantik-Renaissance steht noch bevor.)
Pardon, Monsigneur, dafür muß ich
Ihnen nun ein bißchen ans (Arsch-)Leder gehen, und Sie durch ein unscheinbares Tor
schieben. Nicht in Paris, nicht in Berlin oder Wien, sondern in der Unteren
Straße 6 in Weida. Und zwar im vormaligen Haus des Lohgerbers Friedrich Francke,
seines Zeichens Ledermacher in der vierten Generation. Und schwuppdiwupp, schon
sind wir drin. Aaaah! Oooh! Incroyable! Eine
niedrige Holzkonstruktions-Halle mit angeschrägtem Sägezahndach oben, durch die
reichlich handwerkerfreundliches Oberlicht fällt. Staubkörnchen tanzen in der
Luft, in den Lichtstrahlen vor dem Hintergrund dunklen Buchenholzes und weit
hinten im Ungewissen verschwindender Nebengelasse gut sichtbar. Jede Menge Eichenbottiche
und mit Folie ausgeschlagene Zuber, in denen mühelos zwei bis drei stramme Lederergesellen
gleichzeitig baden könnten. Im Fußboden eine kreisrunde Lohgrube neben der
anderen, mannsbreit und mannstief, manche mit Holzbrettern zugedeckt, viele
offen, einige mit dunkler Brühe darin. Eine hölzerne Einradkarre, ein
Weidenkorb voller Fichtenrindenschrot, eine knorrige Sprossenstiege.
Das mit
Abstand Jüngste ist die moderne Beleuchtung mit Glühbirnen und Glasschalen aus
der Zeit Siegmund Bergmanns und Otto Schotts. Ansonsten eine restlos originale
Lohgerberei in ihrer Erstausstattung, gegründet 1844 von Johann Franckhe. Mit
allem, was dazugehört: Wasserwerkstatt, verschieden dicken Gerberlaugen in
Ansatzbehältern und Gruben, Ausststoßmaschine und Äscherbottich mit
Langarmzangen, Schabebäumen und Scherdegen, Falzmaschine und tonnenschwerer
Lederglättpresse; Trockenräumen im Dachstuhl, Dampfmaschine, Rindenbrecher, Elevator und Lohmühle (alles bestens geschmiert und voll funktionabel) sowie
Borkentenne im Nebenhaus, schließlich innenliegenden
Spülkanälen plus vorbeirauschendem Fluß – über eine Pforte direkt zugänglich,
zur Flußwasserentnahme und zum Auswaschen von Tierhäuten und Fellen. Und
Ufersteg plus Fanghaken, damit dem Gerber nicht die Felle davonschwimmen. Das
einzige, was fehlt, ist Gottseidank der Geruch, den man nahezu nie konservieren
kann. (Der Gestank in einer Gerberei muß zu allen Zeiten infernalisch gewesen
sein, vor allem in den heißen Monaten.) Was einzig sonst noch fehlt, ist der
Gerber samt Gehilfen selbst; wäre er da, könnte das Walken, Wässern und Weißen sofort
weitergehen. Vielleicht fehlt hier auch noch ein anderer verhuschter und
linkischer Charakter, ein Jean-Baptiste Grenouille?
Erst 1992 hängte der letzte Tierfell-Francke
hier die Pump-Riemen an der Treibscheibe aus und seine Handschuhe an den Nagel.
Fast 150 Jahre lang (!) hatten er und seine Vorfahren an dieser Stelle aus
Rinderhäuten sogenanntes „Kernleder“ durchgehend gegerbt, insbesondere für Sohlen,
Hinter- und Vorderkappe von Schuh und Stiefel. Mit genau dem, was eine
jahrhundertalte Handwerkszunft, tradiertes Wissen und die Maschinen-Erstausstattung
aus Humboldts Zeit der kleinen Familien-Fabrik zu bieten hatte: nicht mehr,
nicht weniger. Jeweils über ein Jahr dauerte es immerfort, bis aus den
angelieferten Kuhkleidern, dutzend Kilogramm schwer, feucht, dick eingesalzen und
gewiß abscheulich stinkend, eine saubere, trockene, stabile Ledertafel mit glatter
Oberfläche wurde: Nahezu unendlich haltbar, sagenhaft zäh, markant und durchaus
wohl riechend. Eiweißumwandelnde Stoffe aus Fichtenrinde haben es bewirkt,
neben viel Zeit und viel Wasser. Und neben viel gut eingeübter, kerniger
Handarbeit im Dreimannbetrieb. Bestes Leder, der Stoff für Schuster und
Riemenschneider, Handschuhmacher, Schneider, Polsterer und Tischler.
Vielleicht sind 1848 schon einige
Revolutionäre mit hiesigen Brandsohlen unter ihren Füßen auf die Barrikaden
getrampelt? Womöglich haben zwei Jahre später einige mitteldeutsche Abgeordnete
in Frankfurt dieses gute, ein ganzes Jahr lang gereifte Güteleder unter ihren braunen
Halbschuhen getragen? Wie viele tapfere thüringische Soldaten marschierten mit stramm
genagelten Stiefeln aus diesem tierisch soliden und handwerklich aufwendig
bearbeitetem Roh-Stoff durch das Elsaß zur Reichseinigung 1871? Wie viele
schlesische Weber saßen damit an ihren ratternden Webstühlen, wie viele
anhaltinische Rübenjunker stapften damit durch die Zeit und ihre altmärkischen
Felder, wie viele Industriekulis standen damit bei BMW in Eisenach am Band der
Geschichte und stiefelten später mit solch stabilem Rinden- und Rinderwerk in
den volkeigenen Feierabend? Wie viele Barbiere haben am Leder ihre
Rasierklingen gewetzt, um jahrhundertalte Bärte in knappe Stutzer zu kürzen,
während der Strom der Zeit durch die Weida floß? Das weiß keiner, das geht auf keine
Kuhhaut.
Was wir aber wissen: Friedrich
Francke war weitsichtig und geschichtssinnig genug, den historienträchtigen Gerberbetrieb seiner Vaterstadt zu überlassen,
ehe er selbst 2002 das Zeitliche segnete. Diese pflegt die Leder-Faktorei als „Technisches
Schaudenkmal“, zusammen mit der ebenfalls mittlerweile weit aus der Zeit gefallenen Wohnstube des Lederers
im gleichen Haus. Und prompt ist eine Zeitreise in die Vergangenheit über vier
Generationen hinweg möglich! Der kleine Elektromotor, der die vorkaiserliche Dampfmaschine
unscheinbar unterstützt, macht´s möglich: Vermittels gußeinerner Schwungräder,
schwerer Transmissionsriemen und offener Treibscheiben knattert und rattert der
staunende Besucher in das betriebssame Arbeitsflair des vorvorletzten
Jahrhunderts!
Verdichtete und haltbar gemachte Geschichte, die verdichtete und
handwerklich haltbar gemachte Häute zeigt, die alsdann Leder heißen. Wenige kennen
den gemeinisvollen Ort, von Außen sieht das unscheinbare Fachwerk-Ensemble nur
nach einer weiteren, verträumten Häuserzeile von irgendwann am Rand eines
öffentlichen Raums aus, der nichts scheinen will und lieber vor sich hinträumt.
Die Burg dort droben zieht doch sowieso alle Blicke auf sich ...
Sind Sie ein echter ABENTEURER? Ein
Weltenbummler und Zeitenpendler? Ein den-Dingen-auf-den-Grund-Geher und
Hinter-die-Kulissen-Schauer? Unerschrocken, wetter-gegerbt, mit dickem Fell und
ein bißchen verwegen, einer, der mit allen Lohbrühen gewaschen ist, und dem
man daher so leicht kein „made in X“ für ein handwerkliches U vormachen kann?
Dann merken Sie sich also Weida, wenn Sie zum Ort Ihrer ersten Zeitreise fahren
wollen und was über Handwerksgeschichte, deutsche Wertarbeit und Ledergerbung
erfahren wollen. Apropos erfahren: Fast aus allen Richtungen kommend nimmt man
an der Autobahn A9 in Ostthüringen die Abfahrt “Lederhose“. Und abgesehen
davon: Auch sonst ist das Städtchen Weida, wo aus nicht wenigen Dächern Birken
wachsen, in jeder Richtung besehen bestens geignet für eine Reise in die
gute, alte Zeit …