10. Dezember 2023

[Schilderung] Erotische Fragmente

 

Die Frau war ein einziges Versprechen zur Lust. Zur ungezügelten Erotik.

Ich suche nach dem richtigen Wort, das sie beschreibt. Ja, sie hatte auch etwas Mädchenhaftes. Natürlich, mit ihren siebzehneinhalb Jahren! Mädchenhafte Rundungen, etwas fast Spitzbübiges im Lächeln. Das halbe Dutzend Armringe aus Lederbändchen am Handgelenk, ganz Gymnasiastin! Die farbigen Gummis im Haar, welche zwei, drei lustige Strähnchen aus dem schwarzen Schopf seitlich am Gesicht vorbeifallen ließen. Das vielleicht ein klein wenig pausbäckig zu nennende Lachen. Doch nein, pausbäckig! Wie altmodisch das klingt, wie verträumt, wie märchen- und jungenhaft … Doch, es war da, indes voll Sinnlichkeit. Vielleicht noch unerkannter, womöglich bereits geprüfter Sinnlichkeit?

 

In den rundlichen Wangen, in der gewölbten Stirn, im geschwungenen Gesicht mit der leicht gerundeten Nase und den gerade noch nicht üppig zu nennenden Lippen in den Bäckchen: Ein einziges Versprechen zur Lust. Ein großes Mädchen von strammem Körperbau – nicht dick zu nennen, doch gut gebaut, mit freundlichen Wölbungen der Brust und des Beckens, anmutigem Bäuchlein – ein Mädchen trotz allem; ein Mädchen in Sinn und Seele; doch die innenwohnende Urweiblichkeit im Körper nicht verhehlend! Allzu deutlich hervortretend, mit jeder Drehung des Kopfes gezeigt, mit jeder Handbewegung ausgeführt, mit jedem Schritt vollführt, und aus jeder Hautpore (ja, sagen wir es ruhig derb) die ungezügelte Fraulichkeit ausschwitzend. Wenig nur mußte man von Welt, von Frauen verstehen, um es schon zu erahnen, ja, zu spüren: Wie sie ihre wilde Lust hinausschreien würde, die sie jetzt schon, fast noch mit einem Mäntelchen aus mädchenhafter Schamhaftigkeit, ohne Worte allzu laut kundtat.

 

Ich muß ins Analytische, ins Wissenschaftliche wechseln. Es gibt Landkarten, welche die Welt nicht nach ihrer geografischen Ausdehnung, nicht nach ihrer Größenfläche zeigen. Sondern nach anderen Faktoren. Etwa der Wirtschaftskraft, etwa nach Kultur- oder Bevölkerungsdichte, etwa nach Verbrechenshäufigkeit. Als Weltkarte betrachtet, ist beispielsweise der deutsche Sprachraum in den beiden erstgenannten Kategorien quasi der Urkontinent Pangäa, die eurasische Landmasse in einem, und die meisten anderen Staaten Randerscheinungen oder Strichlein, falls überhaupt erkennbar. Stellt man als betrachteten Hauptfaktor die Verbreitung des Islam in den Vordergrund, gruppiert sich der ganze Globus als unbeleuchtete Nebenstatisterie um die arabische Sangesdiva; dann ist der östliche und südliche Mittelmeerraum ein gewaltiger Zierkürbis, auf dessen äußerer Schale sich ein mehr vermuteter als sichtbarer Pilzrasen ansiedelt, bestehend aus allen anderen Religionen. (Mag sein, daß manch hoffnungsfroher Mohammedaner die Welt so sieht.) Würde man das Kartenmodell auf dieses allzu frauliche  Mädchen übertragen: Ihr Schoß wäre das übergroße Zentrum! Ihr weibliches Zentrum, um das sich alles dreht; ihre Sinnlichkeit, zu der alles hinströmt. Ihr Unterleib wäre die fast einzig im Scheinwerferlicht stehende Primadonna des Ensembles.

 

Vielleicht ist das kulturelle Bild ein geeignetes, ja. Nur größer gefaßt. Vielleicht ein geeignetes Bild zu Beschreibung der Frauen allgemein und diesem fraulichen Mädchen, dieser mädchenhaften Frau im Besonderen. Ich denke sie mir als eine Spielstätte. Sie, die Frau. Es, das Mädchen. Es gibt viele Spielstätten, gewiß. Mittlere Häuser mit großem Anspruch und mittlere mit mittlerem, ja kleinem oder auch gar keinem.  Bildungsbürgerbretter, die deren oder sich die Welt bedeuten. Es gibt kleine Häuser. Es gibt ganz kleine. Es gibt Nebentheater und Kleinkunstbühnen. Es gibt welche, die entdeckst Du nur nach den Hinweisen im kostenlosen Veranstaltungskalender, und welche, die empfehlen dir kulturkundige Einwohner. Und dann findest Du sie großartig, überraschend professionell, genial geistreich oder geistreich genial. Es gibt Puppenbühnen, von denen du nie etwas liest oder hörst, die aber trotzdem einzigartig sind in ihrem fingerfertigem Spiel, den pittoresken Figuren; du kannst kuschlige Cabarets entdecken, die, wenn du sie entdeckt hast in den scheinbar unscheinbaren Hinterhöfen, dein ganzes Leben mit sensationeller Farbenpracht und Witz auf den Punkt spielen und ausleuchten in der Fülle von Schmerz und Freude, alle Außenwelt und Innenwelt. Es kann Jahre dauern, bis du die im Fichtenwald verborgenen Naturarenen hinter den sieben Bergen entdeckst, und dann wirft dich die Wucht ihrer Darbietungen um. Dann wunderst du dich, daß plötzlich alle Welt nur davon redet, jeder Held nur dort zu spielen wünscht, jeder Schurke einmal dort schon Gastspiel gab. Wie war es möglich, daß du vorher nie davon gehört?

 

Und dann gibt es noch die gewaltigen Festivals, die Theatertage der Stadt, die Abschlußaufführungen der Workshops, die Sommerbühnen: alles, was nur einmal sich zeigt oder wenige Male aufhübscht, heraussticht, sich beleuchtet, promenieren geht und aufgebauschte Prachtgewänder paradiert. Oder parodiert. All das sind so die verschiedenen Freudentempel und Häuschen der Lust. Die kleinen und großen Hütten des Dionysos. Die jährlichen Ritterspiele mancher Prinzessinnen, die Dornröschenschauspiele des Marionettenguckkastens. All das sind die Frauen mit ihrer verschiedenen Erotik, mit ihrer Scham, ihren geheimen Freudenreichen. (Natürlich, Freud mußte der Mann heißen, der das im Tiefsten erforschte!)

 

Jenes Mädchen aber, jene Frau, und ihre Scham – ihr Tempel der Lust, ihr magisches Machtzentrum, ihre heimliche Hauptstadt der Freude, ihr Tor zur Ewigkeit, ihre Kaaba im heiligen Mekka, ihr Petersdom im Rom der Katholiken, ihr Klondyke der Goldsucher, ihr Tal der Pyramiden für Altertumsforscher und ihre rote Venus für Himmelsfahrer – sie ist das erste Haus am Platz. Die beste Adresse. Der Treffpunkt für Einwohner wie Ortsunkundige. Nicht das höchste, doch das opulenteste Gebäude am Ort. Die Große Oper. Das Nationaltheater, der Staatszirkus. Allein die Einganghalle, das weite Vestibül, und schon die Prachtstufen davor: wie einladend, hinauf zu wandeln! Die aufgestellten Kriegerbüsten, die marmom´nen Skulpturen mancher Jünglinge mit blanker Brust, das Reiterstandbild des noblesten Fürsten davor. Alle Wege und Straßen führen direkt dahin, jede Zeitung spricht über Besetzung und Programm, du siehst es von überall. Überall liegen Handzettel aus, und jeder spricht darüber: Ob mit Worten oder Schweigen.

 

Die Spielpläne ändern sich, die Intendanten wechseln, ganze Ensembles mögen kommen und gehen: Es bleibt doch Attraktion für jeden. Ob Spielzeit oder Sommerpause: Es ist doch Aushängeschild der Stadt. Ob modisch schick herausgeputzt in allem Glanz, bespielt und bewundert, oder seit Jahren verloren, verwittert, verkommen und verwildert, mit off´nen Fensterhöhlen und eingestürzten Mauern: Es bleibt der schaurigschöne Mittelpunkt der Metropole mit erträumtem Schimmer alter Tage.

 

Doch diese „alten Tage“ standen hier noch bevor! Noch war es keine Bühne, kein großes Haus gar. Noch war es nur die Ahnung künftiger Triumphe, fernerer Heldentatenschausplätze, einzig wahrer Mittelpunkt staatstragender Inszenierungen. Noch kein Kolosseum, kein Rundkuppelbau, keine Panoramabühne. Kein angestrebtes Ziel für weithin sichtbar-sein- wollende Regisseure und staatserleuchtete Intendanten, kein Tummelplatz für ins Zentrum strebende Exzentriker, kein edelkandelabriger Palast für schauspielernde Politiker oder politisierende Schauspieler.

 

Und doch würde dereinst, und jetzt schon, alles sich drehen einzig um diese Spielstätte. Bespielt oder nicht. Voll oder leer. Beleuchtet oder im Dustern. Laut oder leise. Würde jeder Bürgersohn und jedes edle Bürschlein, jeder Adelsmann und jeder Arbeiter, ob Pimpf oder Parteigenosse, ob Burschenschaftler (sei´s Alter Herr, sei´s Fuchs), ob nun weitgereister Weltenbummler oder Wohnortspießer, sich in Gedanken oder Tat, bemühen, da hinein zu kommen! Würde kein einz´ger, arm oder reich in Beutel oder Birne, an diesem Platz vorbeizukommen in der Lage sein. Würde wildes Begehren oder vornehme Befangenheit (ja, Bescheidenheit scheint mir das bess´re Wort der Wahl zu sein!) zum gleichen Ziel hinführen.

 

Noch war es nicht soweit, zu jung noch war das frauliche Mädchen. Und doch schon konnte man es ahnen, riechen, fühlen, schmecken. Schmecken, fühlen, riechen und ertasten, es würde all das werden – sein. Und schon die ersten zarten Aufführungen noch junger, unbekannter Mimen: Welche Schauspiele und welche Darbietungen an dieser Rampe, in diesem Licht! Was für ein Haus der Freuden! Wie wird gesungen und getanzt! Wie wird geschrieen und verziehen, wie wird gejammert und geklammert, wie wird gestorben und verdorben. Was für Geschrei, Getobe, Zeter, Mordio lauter Lust!

 

Zwar stand dies alles noch bevor, stand bildlich geradezu bevor noch; doch konnte, mußte man schon ohne jeden Zweifel sein, daß diese beherrschenden Unterwelten, dieser Sinneshades und Orkus der Lust, diese nymphenreichen Feengrotten im Zauberreich, jeden noch so edlen Recken, jeden Ritter der großen Pose und Helden des Geistes früher oder später in das Labyrinth des Werdens und Verderbens führten. Das Mädchen war dafür gemacht. Hingeben würde sie sich jedem Eroberer mit aller eingeborenen Gefühligkeit und Freude, hemmungsfrei und offen allem gegenüber, wüst und direkt und lockend und begierlich. Wüst und direkt, und lockend und begierig selbst noch in ihrer Feinheit, Zurückhaltung und Abstinenz.

 

Das klingt nun alles so, als spräche ich von einer Dirne, einem Flittchen. Nein. Nein, und abermals nein! Das eben nicht. Ich wollte nur die natürliche Sexualität darstellen, die in ihr wohnte, die sie ausstrahlte. Um das Bild des Theaters noch einmal aufzugreifen: Bunt bespielt von einem festen Ensemble, geführt von einem guten Intendanten, den ganzen Fundus der Kostüme, Masken, Kulissen und der Programmbreite ausnutzend, die Höhe und Breite des Hauses von der Unterbühne bis zum Schnürboden verwendend, würde für Gastspiele weder Platz noch Notwendigkeit sein. Sie wäre, zumal klug und mit Gefühl, durchaus ein anständiges Madel, ehrbares Weib. Es ging mir nur um ihre eingeborene Wonne und körperliche Sinnlichkeit, ihr selbstgewisses Eva-Tum. Die natürliche, ungewollte und schlicht daseiende Präsenz ihrer puren Weiblichkeit, ja, das dauernde Versprechen ihres Schoßes, welches schon allein ihre Augen ausdrückten mit jedem Wimpernschlag. Welches ihre Lippen mit jedem Wort (und ohne jedes Wort) aussprachen, ihre Gesichtszüge, ihr Gang, ihre Beine bei jedem Schritt allzudeutlich verrieten. Sie konnte gar nicht anders – deswegen war sie völlig unschuldig darob und desto aufreizender damit.

 

Du fragst, ob sie hübsch sei? Nun. Schönheit entsteht im Auge des Betrachters. Schönheit wäre nicht ihre erste Tugend, und die Gaben sind gerecht verteilt. Ich schildere sie dir in einem Alter (das man Alter ja noch gar nicht nennen kann), da ein Mädchen schön sein mag, alle aber hübsch sind. Und, wie gesagt, größter Teil ihrer Schönheit war zuallererst ihre ungezügelte Lust, ihre natürliche Sexualität, die zu verhüllen sie keinerlei Notwendigkeit doch kannte.