Bei meinen Recherchen zu meinem Manuskript über „Deutsche Erfindungen und Superlative …“ stieß ich auf eine unscheinbare Redevorlage, die sich schon nach kurzer Untersuchung als geradezu sensationell herausstellte, und in ihrer Bedeutung sicher gleichgesetzt werden kann mit dem Wiederauftauchen der Tagebücher von Wilhelm Canaris und dem Fund jenes „geheimnisvollen“ Manuskripts aus dem 17. Jahrhundert durch Umberto Eco in der Klosterbibliothek zu Melk. Das (erstaunlicherweise über 3 MB große!) Dokument zeigte in Kopie eine Niederschrift des zamonischen Schriftstellers Laptandidel Latudel, der sich bekanntermaßem einen Namen als Kritiker Hildegunst von Mythenmetz´ gemacht hatte. Leider ist es unvollständig und birgt nur einen kleinen Teil der wissenschaftlich zu nennenden Abhandlung, die gleichwohl leicht verständlich und zugleich wortgewaltig ist. Der Inhalt wird hier erstmals und exklusiv veröffentlicht, und macht damit zamonmisches Quellmaterial der einschlägigen Fachgemeinde sowie interessierten Laien weltweit zum ersten Mal zugänglich.
Enthüllungen über Mythenmetz. Von Laptandidel Latudel
Ein Pergament mit ungeputzten Brillen
Wo fängt die Geschichte wirklich an? Und wo hört sie auf? Liebe Kollegen, man muß solche Fragen stellen. Und mehr noch muß man die Frage stellen: „Wer hat von wem abgeschrieben?“ Sie alle – wir alle – kennen die allzu berühmten Zeilen „Ein Schrank voll ungeputzter Brillen“ Danzelots von Silbendrechslers. Zumindest glauben wir sie zu kennen. Nämlich in der Nachlaßdarstellung Hildegunst von Mythenmetz´, dessen Erstlingswerk sie ziert. Dessen glorreiches Debütwerk „Die Stadt der träumenden Bücher“ erheblich blutleerer wäre, womöglich gar nicht entstanden ohne sie. Wir kennen die symbolträchtigen Zeilen Danzelots allzugut! Oder sollte ich besser sagen, wir glauben sie zu kennen?
Doch der Reihe nach, ich greife unzulässig vor. Nicht nur eine Geschichte hat mit dem Anfang zu beginnen, sondern auch eine wissenschaftliche Abhandlung darüber und deren adaptierte Rede.
„Bin schwarz, aus Holz, und stets verschlossen,
seitdem mit Stein sie mich beschossen …“
So heißt es im Original. Im angeblichen Original! In dem Werk (soll ich es bereits hier wagen, „Machwerk“ zu schreiben?), daß uns Mythenmetz, nomen est omen!, vorlegt. Streng genommen kennen wir es nur – da sollten wir exakt bleiben, verehrte Kollegen! – kennen wir es fast alle nur in der Übersetzung Walter Moers´. Die ihrerseits unzweifelhaft epochal ist. Ja, das soll zugestanden werden.
Es ist einer unerhörten Kette von Ereignissen zu verdanken, daß jetzt Teile des Originals aufgetaucht sind, die man wohl mit Fug als das echte, das wirkliche Original, bezeichnen muß. Wir reden über eine Abfolge von Zufällen, die pro Menschengeschlecht wohl nur einmal vorkommen. Und die nunmehr vielleicht dazu führen, in sonder Auswertung durch die gesamte Fachschaft, mindestens Teile der zamonischen Spätgeschichte anders zu gewichten, neu zu bewerten, ja, womöglich gar umschreiben zu müssen! Nichts weniger als das.
Doch zunächst zu den bekannten Fakten, oder den bekannt geglaubten. Ich zitiere erneut:
„… mich beschossen!
In mir ruh´n tausend trübe Linsen,
seitdem mein Haupt ging in die Binsen.
Dagegen helfen keine Pillen.
Ich bin ein Schrank voll ungeputzter Brillen.“
So heißt und klingt es im Umnachtungspoem Danzelots, welches Geschichte geschrieben hat. Welches zur Legende wurde. Inwieweit zu Recht, das schicken wir uns an, hier zu untersuchen und zur Debatte zu stellen. Ob im Anschluß noch ein Stein auf dem anderen der Lindwurmfeste (und deren Mythen) liegenbleibt, wird sie zeigen, die Zeit.
Schauen wir uns zunächst vorurteilslos das Original an. Das vorgebliche. In der zamonischen Urform heißt es
Sarom, za baz, mikoom nan kanndher,
prisola kemti kem le fot.
Mikola elfeqür a trott –
Sin kasa kupa, oltra hander.
Apustel nie, apostel helger:
w´Anustel hermé opti-Šelger.
Ja, das hat Klang! Schön ist es, einzigartig ist es. Dem wirklich Lauschenden ist es Trost, Aufmunterung und Ansporn zugleich. Allein schon des Versmaßes wegen, wegen der Tonfolge seinerseits. Des luftigen, zottligen Trochasters wegen, der Sprache und also Geist in die Höhe treibt, über doppelgereimten Klaftervers zum Absturz mit beißend-witzigem Hexamillimeter! Groß, anmutig, unverrückbar wie die Lindwurmfeste fast selbst steht es der Dinosaurierdichtung voran, gleichsam für sie, und kennzeichnet einen nicht unerheblichen Teil unseres Wissen über zamonische Hochliteratur. Und namentlich unser Wissen, unsere Vermutungen über deren Großkopfeten Hildegunst von Mythenmetz.
Klopfen wir schon hier, auf dem gewissermaßen noch dickeren Eis des allgemein anerkannten Wissens, ein Löchlein in das nur in unseren Köpfen gefrorene Wasser – auf den Boden jener vermeintlichen Tatsachen, auf dem wir so sicher zu stehen glauben, geschätzte Mitstreiter an der Wissensfront. Gehen wir sogleich in die sprachliche Tiefe!
Man sieht spätestens an der zweiten und dritten Zeile, wie schwierig eine sinnvolle und zugleich klanggerechte Übersetzung ins Deutsche oder jede andere Sprache ist; im Original nutzt Mythenmetz das Kurzjambett: Eine Reimform, die in der ausgehenden Niederklassik vor allem im Norden Zamoniens übertrieben[1] genutzt wurde; ohne Zweifel greift Mythenmetz diese Marotte des damaligen Zeitgeistes bewußt auf und bespöttelt sie in seinem Vers, wenngleich überaus gekonnt.
Im Kurzjambett, welches stets aus 8 Silben besteht, wird das erste Wort aus drei, das zweite aus zwei Silben und das dritte aus einer Silbe gebildet, wobei die letzten beiden Kurzsilben – sogenannte „Einer“ – völlig freistehen. Es ergibt sich daraus ein schwungvoll elegantes und dennoch treibendes Sprechmaß, daß die Sinnaussage perfekt unterstützen kann. Richtig angewendet, erlebt der Sprecher des Reims die Handlung quasi durch den ihm nahegebrachten, ja, geradezu aufgezwungenen Atemrythmus am eigenen Leib. Mythenmetz gelingt dieser Atemanklang perfekt: bei „prisola kemti kem le fot” spürt der Leser quasi den Windzug des geschleuderten Steins samt Aufprall am seitlichen Kopf unmittelbar durch den Druckausgleich: Wenn im letzten Einer der rezitierende Lufthauch mit dem „fot“ abrupt unterbrochen und gestopt wird, drückt ein Teil des gestauten Atemvolumens durch die Ohrtrompete oder „Eustachisches Röhre“ auf das innere Trommelfell und simuliert exakt diesen Stoß. Im originalen Zamonisch wird dieser Knalleffekt nichts weniger als verdoppelt durch eine optisch wirkende Zeichensetzung, die unmittelbar auf die Retina des Lesers wirkt: Hier werden winzige Lautwesen – meist einsilbig auszusprechende Mitlaut-Selbstlaut-Kombinationen wie etwa „mé“ oder „kun“ – nicht unmittelbar gesetzt, um die Aussage zu tragen; nein, sie werden stark verkleinert in bildlicher Form gefügt, um das Gemeinte auch unmittelbar optisch darzustellen. (Man mag sich das annäherungsweise so vorstellen: Aus jenem extrem verkleinerten Lautwesen, welche etwa für „Geist, Verstand, denken, (Bewußt-)Sein“ steht, bildet man gleichzeitig ein winziges Gehirn ab.)
Erste Lese- und Schreibversuche mit solchen Optrunen-Schriften genannten Zeichensätzen wurzeln augenscheinlich in der Gegend um Mumenstadt, wo die gleichnamige Augenarztmusik und das Optometrische Rondo entstanden sind, die Mythenmetz ausgiebig beschreibt (vgl. „Trompaunenmusik“). Man könnte hier schlicht von Hieroglyphen, oder besser Optoglyphen, sprechen – wenn deren Darstellung direkt symbolisch wäre, sozusagen analog. Mit den Jahren fanden die Mumenstädter Postetymologiker, Lingudeten und Imagologen jedoch heraus, wie sich die Reizwirkung um ein Vielfaches steigern läßt. Nämlich durch digitale Muster, sozusagen winzige Strich- und Pünktchenkennungen, die erstaunlicherweise vom Gehirn sogar schneller entschlüsselt werden als analoge. Unter den Buchimisten soll es sogar Versuche mit noch weiterentwickelten 3D-Minicodizes solcher Lautwesen gegeben haben, die direkt vor der Netzhaut des Betrachters ein Hologramm erzeugten, je nachdem sogar ein bewegtes. In diesem Falle würde der Leser der Textzeile „prisola kemti kem le fot“ beim letzten Wort sogar den Stein unmittelbar auf seinen letzten Zentimetern fliegen und dann auf sein eigenes Ohr auftreffen sehen (und hören!), in Verbindung mit einem vielfarbigen Sternchenreigen und Lichtblitzgewitter. Nach einigen Lesetoten durch plötzliches Kreislaufversagen wurde solcherlei psychoptisch aufgemotzte Literatur zamonienweit streng verboten. Es geht das Gerücht, daß manche Großbuchhändler in ihrer Eigenreklame weiterhin mit diesem Wissen experimentierten; weil die Wirkung ausschließlich auf das Unterbewußtsein zielt, konnte das bislang nie justiziabel nachgewiesen werden.
Zurück zum Sechszeiler. Selbst die von Mythemnetz genutzte, einfachere und legale Form kann man beim besten Willen im Deutschen mit unserem bekannten Zeichensatz nicht nachahmen, nicht mal ansatzweise. Insofern gebührt dem Kollegen Walter Moers hohe Achtung, wenn er für seine Übersetzung das Silbenmaß relativ frei ändert, verlängert, und dem Zweiviertelrythmus des Deutschen geschmeidig anpaßt und die Aussage bestmöglich klangformt. Und ich verteidige diese dichterische Freiheit sogar, obwohl damit die im Mythenmetz´schen Original vorliegende Doppelreimung – am Anfang der Zeile und an deren Ende – verloren geht. (prisola/Mikola; Apustel/w´Anustel.) Das schadet hier nichts; ja, man darf annehmen, jede versuchte Annäherung oder gar Gleichsetzung würde in unserem Idiom affektiert wirken und nachgerade ins Lächerliche abdriften.
Ein letzter Satz zum Stilistischen im Original: Man kommt als des Zamonischen Kundiger nicht umhin, die feinsinnige und eher zwischen den Zeilen als darin geschriebene Raffinesse zu bestaunen! Mythenmetz karikiert schon in der dritten Zeile – „mikola elfeqür a trott“ – die Jambettmätzchen seiner frühen Schriftstellerkollegen und distanziert sich meisterlich, indem er lediglich die sechste Silbe herüberzieht an das zweite Wort „elfegür“ und damit die Reimerwartung seiner Leser durchbricht. Aber wie gekonnt, aber wie geistvoll, wie stilsicher! Und wie tiefsinnig und doppeldeutig! Im „elfegür“ lesen wir „weilen“ oder „beseligen“, „schlauschlummern“, „seelenmicheln“, auch schlicht „schlafen“ – und das kann sich auf innere Ansichten oder auch vorgestellte (objektivierte) Linsen oder Sehwerkzeuge beziehen. Unausgeformte Haltungen, sozusagen, oder noch in ihrer Entstehung begriffene Perspektiven und Sichtweisen. Bereits dieser tiefschürfende Doppelsinn von Gedachtem und Manifestem entzückt, und erschließt sich auch in der Moers´schen Übersetzung noch.
Keinem Leser des Originals kann dabei der Wortwitz entgehen, der dadurch entsteht, daß Mythenmetz dem Jambett fürbass folgend auch „elfen gjyr“ hätte schreiben können (was exakt gleich klingt wie „elfengür“), und ein zielsicherer Florettstich ins dritte Auge aller dichterischen Modetoren und Zeitgeistnarren ist, die noch mit dem blutschinkischen Halbschwert herumhantieren und schreibtorkeln. Heißt „elfe“ doch nichts anderes als „vorsinnlich“ oder „ohne Bewußtsein“, „unbewußt“, auch „traumgleich“ – während „gjyr“ „das [zu schnell] Drehende“, „das Freidrehende“ oder „nicht mehr Sichtbare“[2]; eh und je wird es jedoch umgangssprachlich angewendet für „geistloses Nachgeplapper“ und die „dumpfbackige Masse“, schlicht also für Maximal-Mumpitz – und das lernt noch jeder Wolpertinger schon in der ersten Klasse. Meist in der Pause. Das damit in Verbindung stehende, üble Schimpfwort „gieros“ hat unter Blutschinken und Teufelsklippenzyklopen bereits wüste Keilereien und Trümmerfehden über Generationen ausgelöst.
Über den umwerfenden Gesamtwitz des Gedichts, der sich diesbezüglich auf der Metaebene ergibt, will ich schweigen. Jeder Versuch, das selbst in unserer so feingliedrigen Muttersprache zu beschreiben, würde niederschmetternd mißglücken.
Und ich darf nicht zu weit abschweifen. Ich hoffe, Ihnen bereits mit dieser kleinen linguistischen Betrachtung den noch festen Boden unter Ihren Füßen zwar noch nicht weggezogen zu haben, aber doch saftig aufgeweicht. Kalte Füße werden sie in jedem Fall schon bekommen haben, wenn sie meinen Ausführungen folgen. Und, glauben Sie mir, wir werden in wenigen Augenblicken schon hindurch schauen können, durch das dünner werdende Eis, auf die Abgründe, die sich darunter auftun. Auf daß ihnen nicht schwindlig werden möge!
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Anmerkung des Herausgebers: Die weiteren Ausführungen Laptudels konnten leider trotz unfänglicher, manchmal geradezu trickreicher Bemühungen bislang nicht entschlüsselt werden; ein Großteil der – lediglich in dieser einzigen Kopie – digital vorliegenden Datei ist stark fehlerbehaftet. Vermutlich müssen die weiteren Aufzeichnungen Latudels als endgültig verschollen angesehen werden. Es ist immerhin durch private Notizen Eckermanns andeutungshalber bekannt, daß ihnen eine „umwälzende literarische Kraft inne[ge]wohnt“ haben soll, und sie alle Zuhörer des seinerzeit auf deutsch frei vorgetragenen Redemanuskripts fesselnd in ihren Bann gezogen haben soll. (Bei einem „Literarischen Congresz zu Genf 18XX[?]“, wie sich halbwegs wahrscheinlich aus Metadaten rekonstruieren läßt).
[1] Ich bin geradezu geneigt, „inflationärst“ zu schreiben, was den Unsinn sinnloser Übertreibungen noch trefflicher würde dargestellt haben. Ich fürchte nur endlose Debatten mit dem Lektor.
[2] Im weiteren Sinn auch „die [sich daraus ergebende] unübersichtliche Vielzahl“ – und Moers übersetzt das frei und sprachanschaulich durchaus passend mit „tausend“.