Ein Scheit wurde in die Feuerschale
nachgelegt. Ich nahm noch einen Schluck vom Steinbier. Die Turmglocke des kleinen
Kirchleins unterhalb des Gartens läutete. Ich zählte halbbewußt in Gedanken mit
und erwartete erst vier höhere, dann noch mal eine Anzahl tiefere Schläge.
Nach den vieren ging es aber gleich weiter, ich war irritiert – und fiel
dadurch aus dem Gespräch. Ich schnappte das Wort „Verschwörungstheorie“
auf, und sogleich schien die Gesprächsrunde deutlich lebendiger zu werden –
zählte einen, zwei Schläge weiter – wunderte mich, und versuchte gleichzeitig,
den Gesprächsfaden wieder durch mein Ohr laufen zu lassen. Ich nahm an, jetzt
würden wir gleich so oder bei einer gewissen Katastrophe mit zwei Flugzeugen landen,
die seltsamerweise mit dem Einsturz von drei Häusern
einherging. Und dazu gedachte ich auch etwas Kerniges
beizutragen! Beispielsweise, daß unabhängig von jeder Geschwindigkeit immer das
weichere, oder vielmehr, das weniger Dichte zuerst kaputt gehen muß. Eindeutig
das Flugzeug! Physik 8. Klasse. Genau wie damals bei diesem Unfall in …
Derweil schlug die Kirchturmuhr schon das
sechste Mal, dann das siebte, und dann stob mir mit einem heftigen Zischen im
Feuerholz ein Funken entgegen und anscheinend nah rechts am Hals vorbei; puh,
das hätte auch leicht ins Auge gehen können, stob mir der passende Gedanke dazu
nur wenig oberhalb jenes Funkens durchs Haupt! Offenbar war das Holz nicht
genug abgelagert. Ich gab mir Mühe, das Zählen nicht zu vernachlässigen, und
gleichzeitig die in der milden Nachtluft schwebenden Worte nicht zu verpassen.
Aus dem aufgeschnappten Begriff „Esoterik“ entnahm ich, daß es doch in
einer anderen Richtung weiterzugehen schien, und ich nahm mir vor, bei der
nächsten Gelegenheit mit einem „Aber was ich noch zum Vorigen sagen wollte“
dem Gespräch wieder eine Wendung zu geben und ihm mit meiner hübschen Theorie
einen saftigen Drall zu verpassen.
Unterdessen – ich hatte bereits auf zehn
Schläge gezählt, immer noch verdutzt – zog ein nicht sehr starkes, aber doch deutlich
wahrnehmbares, anschwellendes Hintergrundrauschen meine Auf-merksamkeit auch
noch an sich. Eigentlich kein Rauschen, mehr ein, äh, vielleicht leises
Grollen, Rumpeln, hm, wie soll man es richtig beschreiben? Ein Dröhnen? Nein,
so laut ist es nicht … dröhnen klingt ungeheuer laut! Es war nicht laut – wohl
doch mehr ein Rauschen. Aber nicht wie am Meer, natürlich nicht, wie sind ja
mitten im Zentrum des Landes! Auch nicht wie vom Wind, nicht so zart, sondern
eben doch mit rumpelnden, tockenden Elementen, ungleichmäßiger als
Naturgewalten. Schwer zu beschreiben in seinem Klang, aber leicht
vermittelt nach der Identifizierung: Die Eisenbahn. Offenbar
der letzte Zug, der etwa 2 Kilometer entfernt auf einsamen Gleis am Dorf vorbeifuhr,
nicht mal bremsend an dem Bedarfshaltepunkt, dem nun wieder gleichmäßig
abnehmendem Geräusch nach, weit außerhalb vom Ortskern …
Die anderen hatten es, vertieft in ihr
Gespräch, gar nicht wahrgenommen. Und ich hörte nun endlich nichts mehr vom
Kirchturm her, nach elf Schlägen. Da es nur um Elf sein konnte, mußte ich die 4
Schläge zur vollen Stunde völlig verpaßt haben; ich konnte mich auch nicht
erinnern, 15 oder 30 Minuten vorher wenigstens den Dreiviertel- oder
Halbstundenschlag gehört zu haben. Oder sollte der Kirchturm nur eine einzige
Glocke besitzen (immerhin nur ein kleines Dorf), die sowohl Stundenschlag als
auch Stundennachschlag zählt? In anderen Teilen Europas ist das wohl allgemein
so üblich, in Italien etwa – ich hatte das bei Urlauben beobachtet, aber bei
uns halte ich das für unwahrscheinlich. Vielleicht tickte die Uhr auch nur
einfach nicht richtig im Oberstübchen.
Ich nahm mir noch vor, darüber eine Bemerkung
in die Runde zu machen, zum Nachteil meiner Geheimdiensttheorie in Sachen Hochhauseinsturz,
doch mittlerweile ging es um etwas ganz anderes. Und zwar etwas, was meine
Aufmerksamkeit mehr noch fesselte. Ich hatte mir dazu noch keine richtige
Meinung gebildet, und einer der Anwesenden schien zumindest ureigene
Erfahrungen mit dem Thema „Tischerücken“ vorweisen zu können. Das versprach,
spannend zu werden. Ich griff wieder zu dem guten Bier, die Flasche und sein
Inhalt waren leider durch die Nähe zum Feuer nicht mehr kühl genug, dennoch
appetitlich, und hörte hin. Alle konnten etwas beitragen, jeder hatte zumindest
davon schon gehört oder kannte jemanden, der seinerseits schon Erfahrungen mit
Geistern gemacht hatte oder gemacht haben wollte. Einmal waren tatsächlich
Tisch oder auch Gläser wie von selbst gerückt, überraschende Antworten scheinbar
aus dem Jenseits (oder sonstwo) gegeben worden, ein andermal kam nur Unsinn
dabei heraus oder derjenige, der sich als (vom Geist inspiriertes?) Medium
ausgab, erzählte und tat nichts, was nicht auch jeder andere hätte tun können.
Die Freundin des Gastgeberpärchens äußerte entschieden, so oder so mache ihr
die Sache Angst, und bei allem Interesse dafür würde sie ein solches Experiment
keinesfalls bei sich zu Hause durchführen wollen, um einen gewissen Abstand zur
Sache zu haben, oder, wie sie sich ausdrückte, „die Geister nicht wieder
loswerden“ zu können. Ich brachte vor allem Skepsis in den lebhaften
Austausch ein mit dem grundsätzlichen Gedanken, daß eh jeder sieht und hört,
was er zuvor schon glaubt, und war ein wenig über das Unfruchtbare des Gehörten
enttäuscht. Man muß am Ende eben doch alles selbst ausprobieren, wenn man es
genau wissen will, sonst kommt man zu nichts, sagte ich mir mal wieder, und
äußerte das in der Art auch so.
Das schien in das nun ohnehin kraft der
Holzscheite auflammende Feuer ein Schwapp Öl gewesen zu sein. Mir wurde
entschieden widersprochen, immerhin gäbe es sowas wie eine objektive Realität
und auch die realen Erfahrungen anderer, auf die man durchaus vertrauen könne
und auch müsse – schließlich könne man nun mal nicht alles
selbst überprüfen, dazu sei die Welt eben zu groß – und so kamen wir die
nächste Viertelstunde wieder in eine schwungvolle, anregende Diskussion, zu der
jeder das Seinige lebhaft beitrug. Es ist wohl immer so: Je mehr es um die
Dinge geht, die man unmittelbar persönlich erleben, die man leicht überprüfen
kann, desto entschlossener und hartnäckiger werden unterschiedliche Meinungen
dazu vertreten, wird um den „richtigen“ Standpunkt gewetteifert: Ob man Holz so
oder so richtig behandelt oder ob der Staat nun noch sinnvoll und leidlich stabil ist oder ob
völlig marode, morsch und überfällig; bei Dingen hingegen, die noch nie auch
nur ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat, desto einhelliger der Glaube daran! Daß es
irgendwann mal Phönizier mit Tontafeln gegeben hat und
der Mensch vom äthiopischen Affen abstammt und daß es unsichtbare
Strahlung, Millionen Jahre alt, aus dem Weltraum gibt …
„Leute, jetzt erzähle
ich Euch mal eine Geschichte!“,
hörte ich plötzlich jemanden sagen, mitten
in meine Denkturbulenzen hinein, und erkannte darin mich selbst. Der
Flammenschein warf rötliches Licht auf drei Gesichter, die mich anschauten.
„Eine Geschichte, die wirklich unklar ist, seltsam, aber von der ich aus
erster Hand weiß. Oder sagen wir, ich hab einiges davon überprüft, es stimmt!“
Was ich vorzutragen gedachte, weil es mir
eben eingefallen war von sonst wo, handelte von einem Händler in … nun, lassen
wir besser mal die Namen weg – die Welt und die Branche ist ein Dorf, und man
kann allzu leicht Rückschlüsse ziehen auf die wahren Personen, und ich will
weder Ärger kriegen noch jemandem Unmut machen – also einem Händler in einer
größeren Thüringer Stadt, der schon zu Ostzeiten ein privates Geschäft betrieb,
im technischen Bereich. Stand wohl damals sehr gut da, weil er mit seinen
Produkten eine Nische ausfüllte, und weil noch so viel selbst repariert wurde.
Aber auch nach der Wende konnte er sich mit seinem Fachgeschäft gut über Wasser
halten, mangels Konkurrenz. Allenfalls hätte man die Teile, die er vorhielt und
anbot, über Kataloge oder später das Internet bestellen können, oder in einer
Handvoll großer Läden, aufgeteilt in zwei, drei großen Städten, direkt kaufen
können.
„Also jedenfalls eine ziemlich
unglaubliche Geschichte“, sagte ich noch
vorab, „und ich kann mir keinen
Reim drauf machen. Ich würde sie auch nicht glauben, wenn ich, wie gesagt,
nicht selbst wüßte, daß sich das so abgespielt hat – jedenfalls das, was
ich selbst sehen
kann. Ob nun Geister oder nicht“
setzte ich noch hinzu, grammatikalisch
fragwürdig, um den Anschluß zum Thema zu verdeutlichen. Die Gesichter wurden
noch fragender.
„Vor drei oder vier Jahren kam ein Mann in
das Geschäft und wollte etwas zurückgeben oder reklamieren, was er zuvor
gekauft hatte. Es funktionierte wohl nicht korrekt. Der Verkäufer … doch halt,
ich muß noch vorausschicken, also, das Geschäft lief sehr gut, wie gesagt, auch
weil der Ladeninhaber eben eine treue Stammkundschaft hatte, und weil er sich
bestens auskannte in seinem Metier, gute Tips und Ratschläge geben konnte …
vielleicht nicht der Typ überschwenglich-freundlicher Vertreter, der einem
Komplimente macht und beschwatzt und für alles und jedes eine Lösung
zu haben vorgibt, aber eben doch wirklich kompetent und ernsthaft, ehrlich, na
ja, sagen wir, grundsolide. Integer.“
Ich unterbrach mich, weil mir eben der
Gedanke kam, daß die anwesenden Zuhörer den Mann, das Geschäft, ja womöglich
kennen konnten, und ich erfragte das. Aber nein, mein Freund, der
Gastgeber, war ja vor wenigen Jahren erst zugezogen, und die Damen
sowieso auf diesem eher technischen Feld nicht unterwegs.
„Es war eben auch der gute Service, den er – oder sie
– boten: Er hatte einen Mitarbeiter, oder sogar zwei. War ja nicht ganz klein,
das Geschäft. Gut. Also da wollte ein Kunde was zurückgeben, was er vorher
gekauft hatte. Der Händler weigerte sich aber ausnahmsweise, weil er sicher
annahm, daß das beanstandete Teil beim Käufer selbst durch Unachtsamkeit
kaputtgegangen war. Er kannte sich wirklich gut aus, man konnte ihm nicht so leicht
Geschichten erzählen. Der Kunde beharrte aber auf seinem Rückgaberecht, einerseits
wegen des Defekts, andererseits wegen angeblich allgemeiner
Umtauschmöglichkeit – ich weiß gar nicht, ob das bei solchen Dingen eigentlich
auch gilt, und in kleinen Geschäften …“
„Doch, zwei Wochen kannst Du alles zurückgeben, auch ohne Begründung!“
sagte die rechts neben mir sitzende
Gastgeberin, und ich wollte dagegen etwas einwenden, und auch meine Partnerin,
die vierte der Runde, schickte sich an zu einem Widerspruch; doch mit einem
weisen Hinweis meines Freundes kamen wir diesmal nicht auf einen gesprächlichen
Nebenpfad der Geschichte, sondern ich setzte direkt fort.
„Na, jedenfalls, der Verkäufer hatte ihm dann wohl noch, mehr aus Kulanz,
angeboten, das Geld zu verrechnen oder eine Gutschrift auszustellen: Aber der
Kunde wollte unbedingt sein Geld zurück und sonst nichts! Daß das so war, weiß
ich sicher, daß habe ich später selbst gehört. Ich stand nämlich in dem
Geschäft, als der Verkäufer das jemandem erzählte. Übrigens gar nicht etwa
aufgebracht oder wütend oder eben sehr einseitig aus seiner Sicht, sondern
durchaus abwägend, vielleicht etwas verklärt oder betrachtend … jedenfalls eher
kühl. Wie gesagt, es war auch wirklich nicht etwa Hitzkopf, sondern eher so ein
technischer Typ, vielleicht ein bissel in Richtung bürokratisch, rational …
jedenfalls unaufgeregt und korrekt.
Er muß wohl in dem
Gespräch – also in dem Disput mit dem Kunden, der wenige Tage vorher das Teil
reklamierte – auch mal von gerichtlicher Klärung gesprochen haben oder von der
Möglichkeit, der Kunde könne sich ja an einen Anwalt wenden oder sowas, dann würde
sich das eben so klären. Da hätte dieser Typ, eben noch ziemlich aufgebracht, nur
komisch gelacht, ich glaube, er hat sogar das Wort „zwielichtig“ oder, nein,
halt, „undurch-sichtig“ war das Wort, genau!, undurchsichtig, gebracht, und
gesagt: `Ja, ja, das wird ein höheres Gericht entscheiden, mein Freund! Wenn
ich jetzt das Geld nicht zurückbekomme, dann werden Sie hier kein einziges
Geschäft mehr machen. Dann kommt hier kein Kunde mehr rein!´ Dafür wolle er
sorgen.
Der Händler wußte das nicht zu deuten, sagte nur etwas Unbedachtes darauf,
sah sich auch weiter im Recht, und der Kunde verließ den Laden in einer
Absatzwendung, sozusagen. Einerseits erleichtert, daß es nicht in Schlimmeres
ausgeartet war, andererseits unbehaglich über die kuriose Drohung, wandte er
sich dem nächsten Kunden zu – der indes nur etwas bestellen wollte.“
Ich stand von der dicken Holzrolle auf,
auf der ich saß, und machte zwei Schritt zu dem improvisierten Tischlein, neben
dem die Flaschen standen. Griff nach einem neuen Bier, möglichst kühlem
diesmal, fand ein Radler. Während ich es öffnete, platzte mein Freund in die
Stille:
„Na, und?“,
während mich alle anschauten, befremdet
und neugierig.
Ich setzte mich wieder hin und wußte nicht,
ob sie mich richtig verstanden hatten; ob das Interesse meiner Gegenüber der
Geschichte galt oder meinem Erzählstil und gar einem bassen Unverständnis
entsprang. Von vorn wärmte das Feuer und die üppige Glut ganz enorm. Von hinten
schlich sich kühle Nachtluft entschieden an den Rücken. Ob ich mich mal
umdrehen sollte, dachte ich?
„Na ja. Das war vor vier Jahren. Oder, mindestens drei. Den Händler gibt es
nicht mehr. Er hat wirklich seinen Laden geschlossen, kurz danach. 4 oder 5
Wochen nach dieser Sache – also, der Typ kam nich wieder, ja! – hat er seinen
Angestellten entlassen und wollte es noch allein weiter versuchen.
Personalkosten sind ja auch nicht unbedeutend, im Gegenteil, und immer
gleichhoch, Sozialkram und so weiter … Aber es kam eben keiner mehr. Wirklich
keiner! Jedenfalls keiner, der was gekauft hätte. Mal ein Stammkunde, bissel
plaudern, mal jemand mit einer technischen Frage, mal irgend ein Tourist – das
Geschäft lag ja dort vorn am XXX, ziemlich zentral – ein Tourist, der nach dem
Weg oder dem Bahnhof … aber es kaufte eben wirklich niemand mehr was! Also,
allenfalls so allerkleinsten Kleinkram, für ein paar Cent vielleicht. Exakt
seit diesem Tag, als der Typ dagewesen war.“
Meine Freundin schaute in die Glut,
schweigend, sinnierend. Die beiden anderen starrten mich an. Sie mit großen Augen.
Er skeptisch. Ungläubig sagte er:
„Das kann ich mir nicht vorstellen! Er muß doch irgendein Geschäft gemacht
haben. Irgendwas kauft doch immer mal jemand! Oder … oder es war eben Zufall.
Kann schon sein, daß mal ein paar Tage nichts passiert, das ist normal, in
allen Branchen. Ich kenne das von uns auch, manchmal hat man Wochen gar nichts,
und dann …“
„Ja. Aber der Mann hat vorher über 30 Jahre, in ganz wechselnden Zeiten,
immer von seinem Geschäft gelebt. Natürlich gibt es Flauten. Er hatte sogar einen
Systemwechsel, quasi um 180 Grad, erlebt. Alles war neu nach der Wende! Aber
daß er überhaupt nichts, also ÜBERHAUPT nichts mehr verkauft hat, seit genau
diesem Tag …“
„Na, das sagt man doch so. Woher weißt Du das denn genau? Vielleicht hat er
auch nur keine Lust mehr gehabt und redet sich jetzt selber sowas ein, um
bequemer in Rente …“
„Nein, nein, daß weiß ich sicher! Er hatte, also … ich weiß, daß er noch
wenigstens eine Handvoll Jahre das Geschäft betreiben wollte. Es lief ja auch
sehr gut. Er war genau der richtige Typ dafür, das war sozusagen seine
Berufung. Der hat dann auch noch versucht, das Geschäft von zu Hause aus weiter
zu betreiben, als Versandhandel, nur online, um Kosten zu sparen, die Miete und
so. Aber das ging auch nur noch ein halbes Jahr – in dem er quasi von der
Hoffnung gelebt hat. Es muß überhaupt nicht funktioniert haben! Er hat dann
völlig das Handtuch geworfen, weil selbst die letzten Reserven aufgebraucht
waren und einfach nichts Neues mehr kam. Das hat er mir selbst mal erzählt! Ich
hatte ihn nämlich, das ist jetzt etwa ein halbes Jahr her, mal in der Stadt
getroffen und angesprochen.“
„Ich weiß nicht. Willst Du uns etwa erzählen, daß sowas wie ein böser Fluch
über der Sache liegt, daß der Kunde Voodoo betrieben hat oder sowas?“, lachte mein Freund
überlegen. „Es wird ja heute auch nichts mehr repariert. Alles
weggeworfen. Alles immer neu gekauft. Chinakram. Ist doch in anderen Branchen
auch so, wie gesagt, bei uns …“
„Nein, nein“,
fiel ich wieder ins Wort,
„das völlig Verrückte ist, der Mitarbeiter, der, den er damals entlassen
hat, hat kurz danach ein eigenes Geschäft aufgemacht, genau das gleiche, also
genau die gleiche Branche, vom Angebot her, der kannte sich ja auch aus, die
hatten beide jahrelang oder jahrzehntelang zusammengearbeitet … hat zwar sein
Angebot ein bißchen kleiner gehalten, weniger Lagerkosten, etwas weniger Miete,
auch keine Mitarbeiter weiter, aber sonst also das gleiche: Und der Laden
läuft! Trägt sich völlig! Ich bin selbst schon ein paarmal dort gewesen, ist
meist was los. Und habe mir das auch schon bestätigen lassen von dem Herrn. Der
ist ja noch da …“
„Wie: da?“
„Na, er hat sein Geschäft noch. Das gibt es noch.“
Jetzt wurde eine Weile geschwiegen.
„Mir ist kalt“,
sagte meine Freundin, stand auf und ging
ohne weitere Erklärung ins Haus. Die Partnerin meines Freundes starrte mich mit
großen Augen an, sagte dann:
„Mir ist auch kalt! Und wenn ich so etwas höre, wird mir noch kälter!“
Siebeneinhalb
Jahre später
Ich sitze vor meinem Rechner und lese die
Aufzeichnungen. Vor kurzem erst habe ich die Freunde nach langer Zeit mal
wieder getroffen, mit denen dieses Gespräch seinerzeit stattgefunden hatte. Es
war ein anderer Ort, es war eine andere Zeit: Doch es war wieder eine dörfliche
Atmosphäre, wir standen wieder um eine Feuerschale hinterm Haus im Garten –
diesmal in der Silvesternacht. Es war kalt, es lag etwas Schnee, die letzten
Böller krachten noch entfernt, vereinzelt blitzte eine Rakete am Himmel auf
oder man hörte ein Pfeifen in der Nachbarschaft. Die beiden Freunde, jenes
Paar, welches ich mit meiner neuen Lebenspartnerin besuchte in der
Silvesternacht, hat seither vieles erlebt, neue Horizonte kennengelernt, ist
etliche Male umgezogen. Sie erinnerten sich beide leider nicht mehr an die
Geschichte von damals, haben andere Eindrücke parat. Und meine Freundin
von damals war diesmal nicht dabei – denn es gibt sie nicht mehr in meinem
Leben. Sie ist einfach weg. Zwar wohnt sie noch an der gleichen Stelle wie
damals, nur wenige Fahrminuten von mir entfernt: doch kein weltlicher Weg führt
noch zu ihr, weder durch Raum noch Zeit. Sie kann ich also auch nicht mehr
fragen, ob es so stattgefunden hat oder anders; ich bin der einzige, der sich
daran erinnert.
Und deshalb bin ich mir selbst nicht mehr
ganz sicher, ob es so war oder nicht. Oft fallen mir einzelne Formulierungen
genau ein, leuchten einige Szenen und einige Sätze glasklar vor meinem inneren
Auge auf, also ob gerade jemand ein paar lose Zeitungen in die Feuerschale
gelegt hätte, die sofort auflodern und alles erhellen; anderes dagegen verliert
sich in der Dunkelheit wie die Schemen der Bäume und Büsche, die einige Meter
abseits stehen, heute wie damals, oder verliert sich wie die kräuselnden
Rauchschwaden, allmählich blasser werdend, über dem Feuer im Nachthimmel.
Ich versuche mich zu erinnern, wie wir damals das
Gespräch beendet hatten? Waren die beiden Frauen einfach im Haus verschwunden,
und B. und ich hatten einfach weiter spekuliert und diskutiert, während sich
die Argumente allmählich in der zunehmenden Bierseligkeit verdünnten? Kamen wir
auf ein anderes Thema? Hatte uns die Änderung der Gesprächssituation, nämlich
der Ortswechsel unserer beiden Freundinnen, vom Thema ganz abge-bracht?
Mittlerweile, in der Jetzt-Zeit, sind für uns andere
Dinge aktuell. Der Niedergang und Verfall des Landes, die Endzeitstimmung,
irgendwelche Ansichten über politische Akteure und deren Hintermänner, die eine
oder andere Gesellschaftstheoerie, viel angelesenes Wissen und alternative
Sichtweisen. Doch wieder Verschwörungstheorien,
nur andere? Sind es überhaupt Verschwö-rungstheorien, oder nicht etwa
Verschwörungspraktiken? Man kann wuderbar spekulieren, man kann sich
vieles einreden oder glauben, man kann für alles Indizien finden. Oder auch
dagegen. Ich gebe allerdings zu, daß mittlerweile die zugespitzte
Scherzfrage „Was ist der Unterschied zwischen einer
Verschwörungstheorie und der Wirklichkeit?“ tatsächlich mit „Ungefähr
ein Jahr!“ beantwortet werden kann, jedenfalls bei einigem: das ist
offensichtlich. Ich denke bloß an die düstere „Corona“-Zeit. Aber die Frage, ob
es nun wirksamen Voodoo-Zauber oder Ähnliches tatsächlich gibt, bleibt für mich
unbeantwortet. Wahrscheinlich ist es wirklich eine Glaubensfrage. Ich glaube
normalerweise nur noch an das fest, was ich wirklich mit eigenen Augen gesehen und mit
eigenen Ohren gehört habe. (Obwohl, selbst da bin ich mittlerweile
vorsichtig geworden, denn die Erinnerung kann furchtbar trügen.) Aber immerhin,
das mit diesem seltsamen Mann in dem Geschäft und die Folgen daraus hatte ich
ja doch selbst erlebt! Etwa nicht?
Hatte ich es wirklich? Oder hatte ich es
mir nur eingebildet und das gehört, was ich hören wollte, was in mein damaliges
Weltbild gerade paßte? Hatte mich der Händler vielleicht doch mit einer
Geschichte, die einfach spannender klang als die schnöde Wirklichkeit, ein
bißchen verschaukelt? Oder vielmehr: Sich selbst wichtig
gemacht? Oder schlichtes kaufmännisches Unvermögen, meinetwegen auch
schwierigere Zeiten und Umstände, für sich selbst geheimnisvoll kolorieren
wollen – mit einer guten Portion Übersinnlichem? Hm. Möglich.
5
Tage später
Mir ist schwindlig! Die letzten Tage,
vielmehr Nächte, habe ich an zwei Bildcollagen und einer Kurzgeschichte
gearbeitet; alle drei Werke sind ungewöhnlich düster ausgefallen, hier und da
kafkaesk. Gerade will ich, gelangweilt, angeödet und trister Laune, noch an
einem der Bilder etwas abrundend arbeiten, kann mich aber nicht wirklich
aufraffen. Ich bin völlig uninspiriert. Also suche ich in irgendwelchen alten
Aufzeichnungen herum, stöbere in einigen Tagebüchern von vor Jahren. Ablenkung
oder Suche nach sinnvoller Arbeit? Keine Ahnung. Da plötzlich öffne ich eine
Datei auf meinem Rechner mit dem mir nichts sagenden Namen „Fragment
bZ.doc“. Eigentlich wollte ich sie gerade schon, überdrüssig des
ganzen alten Krempels, einfach löschen, doch dann habe ich sie doch noch einmal
kurz geöffnet: Man weiß ja nie. Fast trifft mich der Schlag! Was steht da in
Stichworten auf wenigen Zeilen?
„kleine runde bei
freunden, zu viert geschichten erzählen … dann bastelgeschäft und düstere
esoterische kundendrohung erzählen, wie bei E. … keinerlei käufe mehr! … kann
das wahr sein?“
Ich schaue nach. Völlig fassungslos. Die
Datei stammt offenbar vom September 2020 … ah, Gott sei Dank! Das
war immerhin ungefähr 2 Jahre nach diesem Treffen an der
besagten Freundestreffen mit der Feuerschale. Dann hatte ich das wohl irgendwie
vergessen, verdrängt, hatte mir nur das Stichwort „Fragmente“ eben gemerkt,
wollte es noch einmal aufgreifen. Neu erzählen. Oder so.
Ich schaue noch einmal genauer hin. Prüfe das Datum,
weil ich mich überhaupt nicht erinnern kann, das einerseits völlig vergessen zu
haben – und andererseits dann doch wieder irgendwie neu angelegt hatte. Ominös!
Die realen Vorgänge aus der Geschichte hatte ich ja wenige Jahre zuvor tatsächlich
erlebt. Aaaahhh! Da! Alle anderen Dateien im gleichen Ordner zeigen das gleiche
Datum. Verdammich! Das ist nur das Datum der Übernahme von einer alten
Festplatte auf den neuen Rechner. Oder das Datum, an dem ich die Datei dann auf
dem neuen Rechner noch einmal geöffnet hatte.
Ich muß nachsehen, ganz genau nachsehen … irgendwo muß es
doch in den Metadaten stehen, wann ich das zum wirklich ersten Mal
aufgeschrieben habe? Einigermaßen desparat suche ich mir die alten Festplatten
heraus, krame in der Kiste. Finde die älteste: sie ist allermindestens 10 Jahre
nicht mehr genutzt worden, und die ältesten Daten darauf gehen eher auf 20
Jahre zurück. Oder mehr. Schließe sie an …
Nichts passiert.
Zwei
Stunden später
Endlich! Ich habe sie doch zum Laufen
gebracht! Ein zusätzliches Netzteil war nötig. Eilig krame ich in den alten
Ordnern, die mir nur noch zum Teil vertraut sind. In vielen Fällen hatte ich
völlig umsortiert, andere Namen verpaßt, und vieles ist wirklich uralter
Schrutz, der längst hätte gelöscht werden können, und sollen. Prompt ist alles
viel zu viel, um halbwegs schnell etwas zielgerichtet zu finden. Ich muße mich
durch Dutzende Ordner und Unterordner quälen, finde so viel Mist, aber auch
manches Spannende und Interessante. – Meine Güte, was habe ich schon alles
aufgeschrieben, was alles bildlich gebastelt, wie viele Einfälle in garer oder
ungarer Form niedergeschrieben, und was für eine Fülle alter, unsortierter und
völlig vergessener Fotos. Unfaßbar. Aber das Gesuchte findet sich nicht. Besser
so?
Dann fällt mir die SUCHFUNKTION ein. Ja,
ich kann doch einfach nach Namen suchen. Also …
Nein, eine Datei des Namens „Fragmente“ gibt es nicht,
auch nicht „Fragmente bZ“. Fast bin ich erleichtert. Moment! Ich kann ja auch
nach ganzen Wortgruppen suchen, mittlerweile jedenfalls, und jedenfalls dann,
wenn die Suchfunktion entsprechend eingestellt ist. Also, probieren. Geht das
denn auch mit externen Festplatten?
47
Minuten später
Tatsächlich, es geht. Oder vielmehr, ich
habe einen einfachen Trick genutzt. Der ist so einfach, daß man sich einen
Dummkopf schelten muß, wenn man offenbar mehr als eine gute halbe Stunde
braucht, um den Einfall zu haben: Einfach alles, was in Frage kommt, noch mal
kopieren auf den aktuellen Rechner, logisch, und dort geht das ja so. Also. –
Und dann, tatsächlich: Ich finde mithilfe der Wortgruppe „bastelgeschäft
und düstere esoterische kundendrohung“ die Datei wieder! Unglaublich.
Sie heißt zwar im Original „Merolan“, aber ist sonst identisch. Warum habe ich
den Namen geändert? Was soll überhaupt der kuriose Kunstname – was, um Himmels
Willen, habe ich mir dabei gedacht?!
Egal, das Datum ist wichtig, das habe
ich gesucht. > Rechter Mausklick, das Aufklappmenü: > Eigenschaften, > Vorgängerversionen? Nein! Also unter > Details schauen. Da steht
es, unter > Ursprung und > Inhalt erstellt: „30.12.2001, 00.32
Uhr“. Unfaßbar! Nicht zuglauben! Über 20 Jahre ist das her! Und dann auch noch
fast an Silvester, wiederum! Dabei hatte ich das Erlebnis mit dem Mann und dem
Verkäufer erst ungefähr 2014 oder 2015 gehabt, meinetwegen auch noch ein oder
zwei Jahre früher. Das zumindest weiß ich ganz genau, denn an
die Begebenheit an sich erinnere ich mich wenigstens gut – ob die mir später
erzählte Geschichte von dem Verkäufer nun stimmte oder nicht. Und früher kann es
nicht gewesen sein, weil ich erst 2009 in diese Stadt gezogen war und den Laden
dort vorher noch gar nicht kannte …
Mir ist ernsthaft schwindlig. Ich muß
nachdenken. Einige Sachen prüfen. Was ist da los? Was könnte „wie bei
E“ bedeutet haben? Warum habe ich mir diese Aufzeichnungen gemacht,
was habe ich mir dabei nur gedacht? Was soll das „bZ“ in dem ersten Dateinamen
bedeuten? Konnte ich etwa irgend etwas voraussehen, oder ist das alles nur ein
unglaublicher Zufall? Eine irre Koninzidenz? Wie ist das alles überhaupt
möglich? Spinne ich, drehe ich jetzt langsam durch?
Jetzt
Ich muß mich hinsetzen, das alles noch mal
in Ruhe durchdenken. Klaren Kopf behalten. Nicht verwirren lassen, nicht in
Panik geraten. Am besten alles nach und nach noch mal geordnet aufschreiben!
Ich beginne am besten sofort damit, während sich mir der Kopf dreht:
„Ein Scheit wurde in die Feuerschale
nachgelegt …“