16. Januar 2025

[Mystische Erzählung] FEUERTAUFE



Ein Scheit wurde in die Feuerschale nachgelegt. Ich nahm noch einen Schluck vom Steinbier. Die Turmglocke des kleinen Kirchleins unterhalb des Gartens läutete. Ich zählte halbbewußt in Gedanken mit und erwartete erst vier höhere, dann noch mal eine Anzahl tiefere Schläge. Nach den vieren ging es aber gleich weiter, ich war irritiert – und fiel dadurch aus dem Gespräch. Ich schnappte das Wort „Verschwörungstheorie“ auf, und sogleich schien die Gesprächsrunde deutlich lebendiger zu werden – zählte einen, zwei Schläge weiter – wunderte mich, und versuchte gleichzeitig, den Gesprächsfaden wieder durch mein Ohr laufen zu lassen. Ich nahm an, jetzt würden wir gleich so oder bei einer gewissen Katastrophe mit zwei Flugzeugen landen, die seltsamerweise mit dem Einsturz von drei Häusern einherging. Und dazu gedachte ich auch etwas Kerniges beizutragen! Beispielsweise, daß unabhängig von jeder Geschwindigkeit immer das weichere, oder vielmehr, das weniger Dichte zuerst kaputt gehen muß. Eindeutig das Flugzeug! Physik 8. Klasse. Genau wie damals bei diesem Unfall in …

Derweil schlug die Kirchturmuhr schon das sechste Mal, dann das siebte, und dann stob mir mit einem heftigen Zischen im Feuerholz ein Funken entgegen und anscheinend nah rechts am Hals vorbei; puh, das hätte auch leicht ins Auge gehen können, stob mir der passende Gedanke dazu nur wenig oberhalb jenes Funkens durchs Haupt! Offenbar war das Holz nicht genug abgelagert. Ich gab mir Mühe, das Zählen nicht zu vernachlässigen, und gleichzeitig die in der milden Nachtluft schwebenden Worte nicht zu verpassen. Aus dem aufgeschnappten Begriff „Esoterik“ entnahm ich, daß es doch in einer anderen Richtung weiterzugehen schien, und ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit mit einem „Aber was ich noch zum Vorigen sagen wollte“ dem Gespräch wieder eine Wendung zu geben und ihm mit meiner hübschen Theorie einen saftigen Drall zu verpassen.

Unterdessen – ich hatte bereits auf zehn Schläge gezählt, immer noch verdutzt – zog ein nicht sehr starkes, aber doch deutlich wahrnehmbares, anschwellendes Hintergrundrauschen meine Auf-merksamkeit auch noch an sich. Eigentlich kein Rauschen, mehr ein, äh, vielleicht leises Grollen, Rumpeln, hm, wie soll man es richtig beschreiben? Ein Dröhnen? Nein, so laut ist es nicht … dröhnen klingt ungeheuer laut! Es war nicht laut – wohl doch mehr ein Rauschen. Aber nicht wie am Meer, natürlich nicht, wie sind ja mitten im Zentrum des Landes! Auch nicht wie vom Wind, nicht so zart, sondern eben doch mit rumpelnden, tockenden Elementen, ungleichmäßiger als Naturgewalten. Schwer zu beschreiben in seinem Klang, aber leicht vermittelt nach der Identifizierung: Die Eisenbahn. Offenbar der letzte Zug, der etwa 2 Kilometer entfernt auf einsamen Gleis am Dorf vorbeifuhr, nicht mal bremsend an dem Bedarfshaltepunkt, dem nun wieder gleichmäßig abnehmendem Geräusch nach, weit außerhalb vom Ortskern …

Die anderen hatten es, vertieft in ihr Gespräch, gar nicht wahrgenommen. Und ich hörte nun endlich nichts mehr vom Kirchturm her, nach elf Schlägen. Da es nur um Elf sein konnte, mußte ich die 4 Schläge zur vollen Stunde völlig verpaßt haben; ich konnte mich auch nicht erinnern, 15 oder 30 Minuten vorher wenigstens den Dreiviertel- oder Halbstundenschlag gehört zu haben. Oder sollte der Kirchturm nur eine einzige Glocke besitzen (immerhin nur ein kleines Dorf), die sowohl Stundenschlag als auch Stundennachschlag zählt? In anderen Teilen Europas ist das wohl allgemein so üblich, in Italien etwa – ich hatte das bei Urlauben beobachtet, aber bei uns halte ich das für unwahrscheinlich. Vielleicht tickte die Uhr auch nur einfach nicht richtig im Oberstübchen.

Ich nahm mir noch vor, darüber eine Bemerkung in die Runde zu machen, zum Nachteil meiner Geheimdiensttheorie in Sachen Hochhauseinsturz, doch mittlerweile ging es um etwas ganz anderes. Und zwar etwas, was meine Aufmerksamkeit mehr noch fesselte. Ich hatte mir dazu noch keine richtige Meinung gebildet, und einer der Anwesenden schien zumindest ureigene Erfahrungen mit dem Thema „Tischerücken“ vorweisen zu können. Das versprach, spannend zu werden. Ich griff wieder zu dem guten Bier, die Flasche und sein Inhalt waren leider durch die Nähe zum Feuer nicht mehr kühl genug, dennoch appetitlich, und hörte hin. Alle konnten etwas beitragen, jeder hatte zumindest davon schon gehört oder kannte jemanden, der seinerseits schon Erfahrungen mit Geistern gemacht hatte oder gemacht haben wollte. Einmal waren tatsächlich Tisch oder auch Gläser wie von selbst gerückt, überraschende Antworten scheinbar aus dem Jenseits (oder sonstwo) gegeben worden, ein andermal kam nur Unsinn dabei heraus oder derjenige, der sich als (vom Geist inspiriertes?) Medium ausgab, erzählte und tat nichts, was nicht auch jeder andere hätte tun können. Die Freundin des Gastgeberpärchens äußerte entschieden, so oder so mache ihr die Sache Angst, und bei allem Interesse dafür würde sie ein solches Experiment keinesfalls bei sich zu Hause durchführen wollen, um einen gewissen Abstand zur Sache zu haben, oder, wie sie sich ausdrückte, „die Geister nicht wieder loswerden“ zu können. Ich brachte vor allem Skepsis in den lebhaften Austausch ein mit dem grundsätzlichen Gedanken, daß eh jeder sieht und hört, was er zuvor schon glaubt, und war ein wenig über das Unfruchtbare des Gehörten enttäuscht. Man muß am Ende eben doch alles selbst ausprobieren, wenn man es genau wissen will, sonst kommt man zu nichts, sagte ich mir mal wieder, und äußerte das in der Art auch so.

Das schien in das nun ohnehin kraft der Holzscheite auflammende Feuer ein Schwapp Öl gewesen zu sein. Mir wurde entschieden widersprochen, immerhin gäbe es sowas wie eine objektive Realität und auch die realen Erfahrungen anderer, auf die man durchaus vertrauen könne und auch müsse – schließlich könne man nun mal nicht alles selbst überprüfen, dazu sei die Welt eben zu groß – und so kamen wir die nächste Viertelstunde wieder in eine schwungvolle, anregende Diskussion, zu der jeder das Seinige lebhaft beitrug. Es ist wohl immer so: Je mehr es um die Dinge geht, die man unmittelbar persönlich erleben, die man leicht überprüfen kann, desto entschlossener und hartnäckiger werden unterschiedliche Meinungen dazu vertreten, wird um den „richtigen“ Standpunkt gewetteifert: Ob man Holz so oder so richtig behandelt oder ob der Staat nun noch sinnvoll und leidlich stabil ist oder ob völlig marode, morsch und überfällig; bei Dingen hingegen, die noch nie auch nur ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat, desto einhelliger der Glaube daran! Daß es irgendwann mal Phönizier mit Tontafeln gegeben hat und der Mensch vom äthiopischen Affen abstammt und daß es unsichtbare Strahlung, Millionen Jahre alt, aus dem Weltraum gibt …

„Leute, jetzt erzähle ich Euch mal eine Geschichte!“,

hörte ich plötzlich jemanden sagen, mitten in meine Denkturbulenzen hinein, und erkannte darin mich selbst. Der Flammenschein warf rötliches Licht auf drei Gesichter, die mich anschauten.

„Eine Geschichte, die wirklich unklar ist, seltsam, aber von der ich aus erster Hand weiß. Oder sagen wir, ich hab einiges davon überprüft, es stimmt!“

Was ich vorzutragen gedachte, weil es mir eben eingefallen war von sonst wo, handelte von einem Händler in … nun, lassen wir besser mal die Namen weg – die Welt und die Branche ist ein Dorf, und man kann allzu leicht Rückschlüsse ziehen auf die wahren Personen, und ich will weder Ärger kriegen noch jemandem Unmut machen – also einem Händler in einer größeren Thüringer Stadt, der schon zu Ostzeiten ein privates Geschäft betrieb, im technischen Bereich. Stand wohl damals sehr gut da, weil er mit seinen Produkten eine Nische ausfüllte, und weil noch so viel selbst repariert wurde. Aber auch nach der Wende konnte er sich mit seinem Fachgeschäft gut über Wasser halten, mangels Konkurrenz. Allenfalls hätte man die Teile, die er vorhielt und anbot, über Kataloge oder später das Internet bestellen können, oder in einer Handvoll großer Läden, aufgeteilt in zwei, drei großen Städten, direkt kaufen können.

„Also jedenfalls eine ziemlich unglaubliche Geschichte“, sagte ich noch vorab, „und ich kann mir keinen Reim drauf machen. Ich würde sie auch nicht glauben, wenn ich, wie gesagt, nicht selbst wüßte, daß sich das so abgespielt hat – jedenfalls das, was ich selbst sehen kann. Ob nun Geister oder nicht“

setzte ich noch hinzu, grammatikalisch fragwürdig, um den Anschluß zum Thema zu verdeutlichen. Die Gesichter wurden noch fragender.

„Vor drei oder vier Jahren kam ein Mann in das Geschäft und wollte etwas zurückgeben oder reklamieren, was er zuvor gekauft hatte. Es funktionierte wohl nicht korrekt. Der Verkäufer … doch halt, ich muß noch vorausschicken, also, das Geschäft lief sehr gut, wie gesagt, auch weil der Ladeninhaber eben eine treue Stammkundschaft hatte, und weil er sich bestens auskannte in seinem Metier, gute Tips und Ratschläge geben konnte … vielleicht nicht der Typ überschwenglich-freundlicher Vertreter, der einem Komplimente macht und beschwatzt und  für alles und jedes eine Lösung zu haben vorgibt, aber eben doch wirklich kompetent und ernsthaft, ehrlich, na ja, sagen wir, grundsolide. Integer.“

Ich unterbrach mich, weil mir eben der Gedanke kam, daß die anwesenden Zuhörer den Mann, das Geschäft, ja womöglich kennen konnten, und ich erfragte das. Aber nein, mein Freund, der Gastgeber,  war ja vor wenigen Jahren erst zugezogen, und die Damen sowieso auf diesem eher technischen Feld nicht unterwegs.

„Es war eben auch der gute Service, den er – oder sie – boten: Er hatte einen Mitarbeiter, oder sogar zwei. War ja nicht ganz klein, das Geschäft. Gut. Also da wollte ein Kunde was zurückgeben, was er vorher gekauft hatte. Der Händler weigerte sich aber ausnahmsweise, weil er sicher annahm, daß das beanstandete Teil beim Käufer selbst durch Unachtsamkeit kaputtgegangen war. Er kannte sich wirklich gut aus, man konnte ihm nicht so leicht Geschichten erzählen. Der Kunde beharrte aber auf seinem Rückgaberecht, einerseits wegen des Defekts, andererseits wegen angeblich allgemeiner Umtauschmöglichkeit – ich weiß gar nicht, ob das bei solchen Dingen eigentlich auch gilt, und in kleinen Geschäften …“

„Doch, zwei Wochen kannst Du alles zurückgeben, auch ohne Begründung!“

 

sagte die rechts neben mir sitzende Gastgeberin, und ich wollte dagegen etwas einwenden, und auch meine Partnerin, die vierte der Runde, schickte sich an zu einem Widerspruch; doch mit einem weisen Hinweis meines Freundes kamen wir diesmal nicht auf einen gesprächlichen Nebenpfad der Geschichte, sondern ich setzte direkt fort.

„Na, jedenfalls, der Verkäufer hatte ihm dann wohl noch, mehr aus Kulanz, angeboten, das Geld zu verrechnen oder eine Gutschrift auszustellen: Aber der Kunde wollte unbedingt sein Geld zurück und sonst nichts! Daß das so war, weiß ich sicher, daß habe ich später selbst gehört. Ich stand nämlich in dem Geschäft, als der Verkäufer das jemandem erzählte. Übrigens gar nicht etwa aufgebracht oder wütend oder eben sehr einseitig aus seiner Sicht, sondern durchaus abwägend, vielleicht etwas verklärt oder betrachtend … jedenfalls eher kühl. Wie gesagt, es war auch wirklich nicht etwa Hitzkopf, sondern eher so ein technischer Typ, vielleicht ein bissel in Richtung bürokratisch, rational … jedenfalls unaufgeregt und korrekt.

 

Er muß wohl in dem Gespräch – also in dem Disput mit dem Kunden, der wenige Tage vorher das Teil reklamierte – auch mal von gerichtlicher Klärung gesprochen haben oder von der Möglichkeit, der Kunde könne sich ja an einen Anwalt wenden oder sowas, dann würde sich das eben so klären. Da hätte dieser Typ, eben noch ziemlich aufgebracht, nur komisch gelacht, ich glaube, er hat sogar das Wort „zwielichtig“ oder, nein, halt, „undurch-sichtig“ war das Wort, genau!, undurchsichtig, gebracht, und gesagt: `Ja, ja, das wird ein höheres Gericht entscheiden, mein Freund! Wenn ich jetzt das Geld nicht zurückbekomme, dann werden Sie hier kein einziges Geschäft mehr machen. Dann kommt hier kein Kunde mehr rein!´ Dafür wolle er sorgen.

Der Händler wußte das nicht zu deuten, sagte nur etwas Unbedachtes darauf, sah sich auch weiter im Recht, und der Kunde verließ den Laden in einer Absatzwendung, sozusagen. Einerseits erleichtert, daß es nicht in Schlimmeres ausgeartet war, andererseits unbehaglich über die kuriose Drohung, wandte er sich dem nächsten Kunden zu – der indes nur etwas bestellen wollte.“

Ich stand von der dicken Holzrolle auf, auf der ich saß, und machte zwei Schritt zu dem improvisierten Tischlein, neben dem die Flaschen standen. Griff nach einem neuen Bier, möglichst kühlem diesmal, fand ein Radler. Während ich es öffnete, platzte mein Freund in die Stille:

„Na, und?“,

während mich alle anschauten, befremdet und neugierig.

Ich setzte mich wieder hin und wußte nicht, ob sie mich richtig verstanden hatten; ob das Interesse meiner Gegenüber der Geschichte galt oder meinem Erzählstil und gar einem bassen Unverständnis entsprang. Von vorn wärmte das Feuer und die üppige Glut ganz enorm. Von hinten schlich sich kühle Nachtluft entschieden an den Rücken. Ob ich mich mal umdrehen sollte, dachte ich?

„Na ja. Das war vor vier Jahren. Oder, mindestens drei. Den Händler gibt es nicht mehr. Er hat wirklich seinen Laden geschlossen, kurz danach. 4 oder 5 Wochen nach dieser Sache – also, der Typ kam nich wieder, ja! – hat er seinen Angestellten entlassen und wollte es noch allein weiter versuchen. Personalkosten sind ja auch nicht unbedeutend, im Gegenteil, und immer gleichhoch, Sozialkram und so weiter … Aber es kam eben keiner mehr. Wirklich keiner! Jedenfalls keiner, der was gekauft hätte. Mal ein Stammkunde, bissel plaudern, mal jemand mit einer technischen Frage, mal irgend ein Tourist – das Geschäft lag ja dort vorn am XXX, ziemlich zentral – ein Tourist, der nach dem Weg oder dem Bahnhof … aber es kaufte eben wirklich niemand mehr was! Also, allenfalls so allerkleinsten Kleinkram, für ein paar Cent vielleicht. Exakt seit diesem Tag, als der Typ dagewesen war.


Meine Freundin schaute in die Glut, schweigend, sinnierend. Die beiden anderen starrten mich an. Sie mit großen Augen. Er skeptisch. Ungläubig sagte er:


„Das kann ich mir nicht vorstellen! Er muß doch irgendein Geschäft gemacht haben. Irgendwas kauft doch immer mal jemand! Oder … oder es war eben Zufall. Kann schon sein, daß mal ein paar Tage nichts passiert, das ist normal, in allen Branchen. Ich kenne das von uns auch, manchmal hat man Wochen gar nichts, und dann …“

 

„Ja. Aber der Mann hat vorher über 30 Jahre, in ganz wechselnden Zeiten, immer von seinem Geschäft gelebt. Natürlich gibt es Flauten. Er hatte sogar einen Systemwechsel, quasi um 180 Grad, erlebt. Alles war neu nach der Wende! Aber daß er überhaupt nichts, also ÜBERHAUPT nichts mehr verkauft hat, seit genau diesem Tag …“

 

„Na, das sagt man doch so. Woher weißt Du das denn genau? Vielleicht hat er auch nur keine Lust mehr gehabt und redet sich jetzt selber sowas ein, um bequemer in Rente …“

 

„Nein, nein, daß weiß ich sicher! Er hatte, also … ich weiß, daß er noch wenigstens eine Handvoll Jahre das Geschäft betreiben wollte. Es lief ja auch sehr gut. Er war genau der richtige Typ dafür, das war sozusagen seine Berufung. Der hat dann auch noch versucht, das Geschäft von zu Hause aus weiter zu betreiben, als Versandhandel, nur online, um Kosten zu sparen, die Miete und so. Aber das ging auch nur noch ein halbes Jahr – in dem er quasi von der Hoffnung gelebt hat. Es muß überhaupt nicht funktioniert haben! Er hat dann völlig das Handtuch geworfen, weil selbst die letzten Reserven aufgebraucht waren und einfach nichts Neues mehr kam. Das hat er mir selbst mal erzählt! Ich hatte ihn nämlich, das ist jetzt etwa ein halbes Jahr her, mal in der Stadt getroffen und angesprochen.“

 

„Ich weiß nicht. Willst Du uns etwa erzählen, daß sowas wie ein böser Fluch über der Sache liegt, daß der Kunde Voodoo betrieben hat oder sowas?“, lachte mein Freund überlegen. „Es wird ja heute auch nichts mehr repariert. Alles weggeworfen. Alles immer neu gekauft. Chinakram. Ist doch in anderen Branchen auch so, wie gesagt, bei uns …“

 

„Nein, nein“,


fiel ich wieder ins Wort,


„das völlig Verrückte ist, der Mitarbeiter, der, den er damals entlassen hat, hat kurz danach ein eigenes Geschäft aufgemacht, genau das gleiche, also genau die gleiche Branche, vom Angebot her, der kannte sich ja auch aus, die hatten beide jahrelang oder jahrzehntelang zusammengearbeitet … hat zwar sein Angebot ein bißchen kleiner gehalten, weniger Lagerkosten, etwas weniger Miete, auch keine Mitarbeiter weiter, aber sonst also das gleiche: Und der Laden läuft! Trägt sich völlig! Ich bin selbst schon ein paarmal dort gewesen, ist meist was los. Und habe mir das auch schon bestätigen lassen von dem Herrn. Der ist ja noch da …“

 

„Wie: da?“

 

„Na, er hat sein Geschäft noch. Das gibt es noch.“ 

Jetzt wurde eine Weile geschwiegen.

„Mir ist kalt“,

sagte meine Freundin, stand auf und ging ohne weitere Erklärung ins Haus. Die Partnerin meines Freundes starrte mich mit großen Augen an, sagte dann:

„Mir ist auch kalt! Und wenn ich so etwas höre, wird mir noch kälter!“

 

Siebeneinhalb Jahre später 

 



Ich sitze vor meinem Rechner und lese die Aufzeichnungen. Vor kurzem erst habe ich die Freunde nach langer Zeit mal wieder getroffen, mit denen dieses Gespräch seinerzeit stattgefunden hatte. Es war ein anderer Ort, es war eine andere Zeit: Doch es war wieder eine dörfliche Atmosphäre, wir standen wieder um eine Feuerschale hinterm Haus im Garten – diesmal in der Silvesternacht. Es war kalt, es lag etwas Schnee, die letzten Böller krachten noch entfernt, vereinzelt blitzte eine Rakete am Himmel auf oder man hörte ein Pfeifen in der Nachbarschaft. Die beiden Freunde, jenes Paar, welches ich mit meiner neuen Lebenspartnerin besuchte in der Silvesternacht, hat seither vieles erlebt, neue Horizonte kennengelernt, ist etliche Male umgezogen. Sie erinnerten sich beide leider nicht mehr an die Geschichte von damals, haben andere Eindrücke parat. Und meine Freundin von damals war diesmal nicht dabei – denn es gibt sie nicht mehr in meinem Leben. Sie ist einfach weg. Zwar wohnt sie noch an der gleichen Stelle wie damals, nur wenige Fahrminuten von mir entfernt: doch kein weltlicher Weg führt noch zu ihr, weder durch Raum noch Zeit. Sie kann ich also auch nicht mehr fragen, ob es so stattgefunden hat oder anders; ich bin der einzige, der sich daran erinnert.

Und deshalb bin ich mir selbst nicht mehr ganz sicher, ob es so war oder nicht. Oft fallen mir einzelne Formulierungen genau ein, leuchten einige Szenen und einige Sätze glasklar vor meinem inneren Auge auf, also ob gerade jemand ein paar lose Zeitungen in die Feuerschale gelegt hätte, die sofort auflodern und alles erhellen; anderes dagegen verliert sich in der Dunkelheit wie die Schemen der Bäume und Büsche, die einige Meter abseits stehen, heute wie damals, oder verliert sich wie die kräuselnden Rauchschwaden, allmählich blasser werdend, über dem Feuer im Nachthimmel.

Ich versuche mich zu erinnern, wie wir damals das Gespräch beendet hatten? Waren die beiden Frauen einfach im Haus verschwunden, und B. und ich hatten einfach weiter spekuliert und diskutiert, während sich die Argumente allmählich in der zunehmenden Bierseligkeit verdünnten? Kamen wir auf ein anderes Thema? Hatte uns die Änderung der Gesprächssituation, nämlich der Ortswechsel unserer beiden Freundinnen, vom Thema ganz abge-bracht?

Mittlerweile, in der Jetzt-Zeit, sind für uns andere Dinge aktuell. Der Niedergang und Verfall des Landes, die Endzeitstimmung, irgendwelche Ansichten über politische Akteure und deren Hintermänner, die eine oder andere Gesellschaftstheoerie, viel angelesenes Wissen und alternative Sichtweisen. Doch wieder Verschwörungstheorien, nur andere? Sind es überhaupt Verschwö-rungstheorien, oder nicht etwa Verschwörungspraktiken? Man kann wuderbar spekulieren, man kann sich vieles einreden oder glauben, man kann für alles Indizien finden. Oder auch dagegen. Ich gebe allerdings zu, daß mittlerweile die zugespitzte Scherzfrage „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wirklichkeit?“ tatsächlich mit „Ungefähr ein Jahr!“ beantwortet werden kann, jedenfalls bei einigem: das ist offensichtlich. Ich denke bloß an die düstere „Corona“-Zeit. Aber die Frage, ob es nun wirksamen Voodoo-Zauber oder Ähnliches tatsächlich gibt, bleibt für mich unbeantwortet. Wahrscheinlich ist es wirklich eine Glaubensfrage. Ich glaube normalerweise nur noch an das fest, was ich wirklich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe. (Obwohl, selbst da bin ich mittlerweile vorsichtig geworden, denn die Erinnerung kann furchtbar trügen.) Aber immerhin, das mit diesem seltsamen Mann in dem Geschäft und die Folgen daraus hatte ich ja doch selbst erlebt! Etwa nicht?

Hatte ich es wirklich? Oder hatte ich es mir nur eingebildet und das gehört, was ich hören wollte, was in mein damaliges Weltbild gerade paßte? Hatte mich der Händler vielleicht doch mit einer Geschichte, die einfach spannender klang als die schnöde Wirklichkeit, ein bißchen verschaukelt? Oder vielmehr: Sich selbst wichtig gemacht?  Oder schlichtes kaufmännisches Unvermögen, meinetwegen auch schwierigere Zeiten und Umstände, für sich selbst geheimnisvoll kolorieren wollen – mit einer guten Portion Übersinnlichem? Hm. Möglich.

 

5 Tage später


Mir ist schwindlig! Die letzten Tage, vielmehr Nächte, habe ich an zwei Bildcollagen und einer Kurzgeschichte gearbeitet; alle drei Werke sind ungewöhnlich düster ausgefallen, hier und da kafkaesk. Gerade will ich, gelangweilt, angeödet und trister Laune, noch an einem der Bilder etwas abrundend arbeiten, kann mich aber nicht wirklich aufraffen. Ich bin völlig uninspiriert. Also suche ich in irgendwelchen alten Aufzeichnungen herum, stöbere in einigen Tagebüchern von vor Jahren. Ablenkung oder Suche nach sinnvoller Arbeit? Keine Ahnung. Da plötzlich öffne ich eine Datei auf meinem Rechner mit dem mir nichts sagenden Namen „Fragment bZ.doc“. Eigentlich wollte ich sie gerade schon, überdrüssig des ganzen alten Krempels, einfach löschen, doch dann habe ich sie doch noch einmal kurz geöffnet: Man weiß ja nie. Fast trifft mich der Schlag! Was steht da in Stichworten auf wenigen Zeilen?

„kleine runde bei freunden, zu viert geschichten erzählen … dann bastelgeschäft und düstere esoterische kundendrohung erzählen, wie bei E. … keinerlei käufe mehr! … kann das wahr sein?“

Ich schaue nach. Völlig fassungslos. Die Datei stammt offenbar vom  September 2020 … ah, Gott sei Dank! Das war immerhin ungefähr 2 Jahre nach diesem Treffen an der besagten Freundestreffen mit der Feuerschale. Dann hatte ich das wohl irgendwie vergessen, verdrängt, hatte mir nur das Stichwort „Fragmente“ eben gemerkt, wollte es noch einmal aufgreifen. Neu erzählen. Oder so.

Ich schaue noch einmal genauer hin. Prüfe das Datum, weil ich mich überhaupt nicht erinnern kann, das einerseits völlig vergessen zu haben – und andererseits dann doch wieder irgendwie neu angelegt hatte. Ominös! Die realen Vorgänge aus der Geschichte hatte ich ja wenige Jahre zuvor tatsächlich erlebt. Aaaahhh! Da! Alle anderen Dateien im gleichen Ordner zeigen das gleiche Datum. Verdammich! Das ist nur das Datum der Übernahme von einer alten Festplatte auf den neuen Rechner. Oder das Datum, an dem ich die Datei dann auf dem neuen Rechner noch einmal geöffnet hatte.

Ich muß nachsehen, ganz genau nachsehen … irgendwo muß es doch in den Metadaten stehen, wann ich das zum wirklich ersten Mal aufgeschrieben habe? Einigermaßen desparat suche ich mir die alten Festplatten heraus, krame in der Kiste. Finde die älteste: sie ist allermindestens 10 Jahre nicht mehr genutzt worden, und die ältesten Daten darauf gehen eher auf 20 Jahre zurück. Oder mehr. Schließe sie an …

Nichts passiert.

 

Zwei Stunden später

 

Endlich! Ich habe sie doch zum Laufen gebracht! Ein zusätzliches Netzteil war nötig. Eilig krame ich in den alten Ordnern, die mir nur noch zum Teil vertraut sind. In vielen Fällen hatte ich völlig umsortiert, andere Namen verpaßt, und vieles ist wirklich uralter Schrutz, der längst hätte gelöscht werden können, und sollen. Prompt ist alles viel zu viel, um halbwegs schnell etwas zielgerichtet zu finden. Ich muße mich durch Dutzende Ordner und Unterordner quälen, finde so viel Mist, aber auch manches Spannende und Interessante. – Meine Güte, was habe ich schon alles aufgeschrieben, was alles bildlich gebastelt, wie viele Einfälle in garer oder ungarer Form niedergeschrieben, und was für eine Fülle alter, unsortierter und völlig vergessener Fotos. Unfaßbar. Aber das Gesuchte findet sich nicht. Besser so?

Dann fällt mir die SUCHFUNKTION ein. Ja, ich kann doch einfach nach Namen suchen. Also …

Nein, eine Datei des Namens „Fragmente“ gibt es nicht, auch nicht „Fragmente bZ“. Fast bin ich erleichtert. Moment! Ich kann ja auch nach ganzen Wortgruppen suchen, mittlerweile jedenfalls, und jedenfalls dann, wenn die Suchfunktion entsprechend eingestellt ist. Also, probieren. Geht das denn auch mit externen Festplatten?

 

47 Minuten später

 

Tatsächlich, es geht. Oder vielmehr, ich habe einen einfachen Trick genutzt. Der ist so einfach, daß man sich einen Dummkopf schelten muß, wenn man offenbar mehr als eine gute halbe Stunde braucht, um den Einfall zu haben: Einfach alles, was in Frage kommt, noch mal kopieren auf den aktuellen Rechner, logisch, und dort geht das ja so. Also. – Und dann, tatsächlich: Ich finde mithilfe der Wortgruppe „bastelgeschäft und düstere esoterische kundendrohung“ die Datei wieder! Unglaublich. Sie heißt zwar im Original „Merolan“, aber ist sonst identisch. Warum habe ich den Namen geändert? Was soll überhaupt der kuriose Kunstname – was, um Himmels Willen, habe ich mir dabei gedacht?!

Egal, das Datum ist wichtig, das habe ich gesucht. > Rechter Mausklick, das Aufklappmenü: > Eigenschaften, > Vorgängerversionen? Nein! Also unter > Details schauen. Da steht es, unter > Ursprung und Inhalt erstellt: „30.12.2001, 00.32 Uhr“. Unfaßbar! Nicht zuglauben! Über 20 Jahre ist das her! Und dann auch noch fast an Silvester, wiederum! Dabei hatte ich das Erlebnis mit dem Mann und dem Verkäufer erst ungefähr 2014 oder 2015 gehabt, meinetwegen auch noch ein oder zwei Jahre früher. Das zumindest weiß ich ganz genau, denn an die Begebenheit an sich erinnere ich mich wenigstens gut – ob die mir später erzählte Geschichte von dem Verkäufer nun stimmte oder nicht. Und früher kann es nicht gewesen sein, weil ich erst 2009 in diese Stadt gezogen war und den Laden dort vorher noch gar nicht kannte …

Mir ist ernsthaft schwindlig. Ich muß nachdenken. Einige Sachen prüfen. Was ist da los? Was könnte „wie bei E“ bedeutet haben? Warum habe ich mir diese Aufzeichnungen gemacht, was habe ich mir dabei nur gedacht? Was soll das „bZ“ in dem ersten Dateinamen bedeuten? Konnte ich etwa irgend etwas voraussehen, oder ist das alles nur ein unglaublicher Zufall? Eine irre Koninzidenz? Wie ist das alles überhaupt möglich? Spinne ich, drehe ich jetzt langsam durch?

 

Jetzt

 

Ich muß mich hinsetzen, das alles noch mal in Ruhe durchdenken. Klaren Kopf behalten. Nicht verwirren lassen, nicht in Panik geraten. Am besten alles nach und nach noch mal geordnet aufschreiben! Ich beginne am besten sofort damit, während sich mir der Kopf dreht:

 

„Ein Scheit wurde in die Feuerschale nachgelegt …“