Es gibt um den Globus nur eine Handvoll ähnlich lange Untertagewege:
Unter den Alpen hindurch für Autos, in Peking für die U-Bahn, in Finnland für
die Trinkwasserversorgung. Die meisten zwischen 50 und 60 Kilometer lang (etwa die Luftlinie München-Augsburg, Dresden-Bautzen, Düsseldorf-Köln),
alle aus den letzten Jahrzehnten. Der „Rothschönberger Stolln“ bei Freiberg in
Sachsen dagegen mit seinen insgesamt 50 Kilometern Länge wurde schon vor 1878 aufgewältigt - in rund 300 Metern Tiefe! Damit ist er, Tiefe und Länge zusammen betrachtet, nach
wie vor der längste Wasserlösestollen der Welt. Notwendigerweise durchgehend mit
Minimalneigung: eine technische Großmeisterleistung in Vermessung und Bau. Das
unvorstellbar niedrige Gefälle: Durchschnittlich eine Handspanne auf 100 Meter,
fast nichts! Zur ungefähren Anschauung: Stellen Sie sich eine vor Ihnen auf dem
Tisch liegende große Torte vor; nun fädeln sie von links und rechts
gleichzeitig zwei Stricknadeln nach innen gerichtet so ein, daß die Spitzen in
der Kuchenmitte möglichst direkt aufeinandertreffen. Und das mit geschlossenen
Augen! Denn die Erbauer, die von mehreren Lichtschächten erst senkrecht in die
Tiefe bohrten und von dort aus aufeinander zugruben, im Schein von Rüböl- oder
auch schon Benzinlampen, sahen ja das Ganze nicht im Überblick. Sie hatten
unter Tage nur Hängekompaß und Gradbogen als Neigungsmesser, neben den
Vermessungskarten vom oberirdischen Gelände und teilweise bereits vorliegenden
Grubenrissen der Markscheider. Noch geringer geneigt als geplant, nämlich die
bereits angesprochenen 2-3 mm durchschnittlich pro Meter, darf der Stollen nicht
sein, sonst fließt nichts mehr; vorsichtshalber etwas abschüssiger bauen geht
aber auch nicht, sonst kommt man am weit entfernten Ziel über der Höhe des Tals
heraus, in dem der entwässernde Fluß fließt. Es hat geklappt: Nach Unterquerung
von zwei anderen Tälern, unter anderem auch der Freiberger Mulde, ergießt sich
das Grubenwasser aus den viel weiter südlich gelegenen Bergbaurevieren punktgenau
in die Triebisch. Wen wundert´s eigentlich, wenn einer der ersten Planer des
Stollens ein Sohn unseres großen Gottfried Herders war?

Wathose an, Helm mit eingeschaltetem
Geleucht aufgesetzt, in den Fahrkorb rein und Gittertür zu. Dann rund 10
Minuten in die „Teufe“ rumpelnd, fast 300 Meter. Nicht nur senkrecht, sondern
teilweise deutlich schräg: Die Schwerkraft drückt einen minutenlang heftig an eine
der beiden Wandungen. Dann Stahlschieber wieder auf, und da steht im engen Gang
schon eine Art Grubenfahrrad für 2 Personen, auf Schienen. Mit Spurkranzrädern
aus Kunststoff. Olsenbandengefühl! Der hintere Mann, etwas höher positioniert,
tritt stramm in die Pedale und zieht den Kopf vorsichtshalber etwas ein, wenn
er von großer Statur ist; der Vordere braucht nur geradeaus schauen und sich am
„Lenker“ festhalten. Nein, es ist natürlich kein Lenker, sondern nur eine feststehende
Stahlstange – die Spur zu halten besorgen ja die Schienen, wie in der Geisterbahn
brettert das Gefährt fast gespenstisch im Schein der Stirnlampen voran: rechts,
links, geradeaus, dadummdadumm rattattatt. Tempo etwa 15 km pro Stunde,
gefühlt eher doppelt soviel. Die Stollenwände leuchten beidseits rötlich auf, das
sind die rostigen Spuren des Eisenerzes. Nach wiederum rund 10 Minuten Fahrt
hören die Schienen plötzlich auf, ebenso die darunter liegenden, steingrauen
Gitterplatten aus glasfaserverstärktem Kunststoff, und der Gang ist mit einem
mal noch einen Meter tiefer, unten läuft das klare Grubenwasser. Eine Handvoll quer
eingezogene Stahlprofile
müssen noch mühsam überstiegen werden, dann wird mit
den Wathosen im Wasser zu Fuß laufend weitergepatscht.

Etwa bis zur Endstelle der neu
eingezogenen Platten mit den Schienen sind Firste und Wandung schon teilweise
mit grauem Beton ausgespritzt. Das ist der Hauptsinn der Sanierung, die hier
seit 2020 wörtlich „im Gange“ ist: Jene Schäden, die während des
Jahrhunderthochwassers 2002 im südlichen Sachsen vielerorts entstanden, dauerhaft
zu tilgen. Den Gang zu stabilisieren. In jenem Jahr nämlich stand der Stollen
mit Wasser voll, teilweise war er vollkommen verstopft! Weder das aus den drei Freiberger Bergbau-Revieren noch eindringendes Oberflächenwasser konnte
abließen, an manchen Stellen wurden Teile der Firste des 124 Jahre alten Gangs
zur Triebisch mitgerissen. Die Flutkatastrophe im Bergland hatte nicht nur
überirdisch gewütet und Häuser mit ins Tal gespült, sondern auch unter Tage
schwere Schäden angerichtet – dort allerdings unsichtbar. Bergbau-Spezialfirmen
aus Thüringen kleiden den Gang nun neu aus, wo es notwendig ist. Derzeit wird
an drei Abschnitten geschuftet, in 10-Stunden-Schichten, teilweise mithilfe polnischer
Kumpel. Täglich von 7 bis 17 Uhr, mit einer Stunde Mittagspause oben. Mann und
Material fahren mit dem neu eingebauten Fahrkorb ein, dann teilweise mit dem
Grubenrad oder elektrischer Minigrubenbahn.
Die Lichtschächte, also die in
Abschnitten von einigen Kilometern von übertage in die Tiefe greifenden Schlünde
mit ihrem „Huthaus“ obenauf mußten dafür erst „ertüchtigt“ werden. Drei von
ehemals 8 sind noch vorhanden. Am hiesigen wurde dafür extra neue Fördertechnik
eingebaut: Stahlschienen rechts und links im Schacht über die ganze Länge, neue
Förderkörbe, die an diesen längs mit kleinen Rollen fahren; darüber das
Stahlseil und eine Doppel-Umlenkrolle an mächtigem Stahlgerüst, für das
wiederum eine neue Betonplatte als Standfundament eingegossen wurde. In der
Nebenbaracke eine elektrische Haspel mit Stahlseil*, dort sitzt der
Maschinenmeister und bedient den quasi halbmobilen Lift mit Hebeln und Knöpfen,
dabei den manuellen Seillängen- oder Tiefenmesser sowie einen kleinen Monitor
im Blick. Der zeigt aber nur den oberen Einstiegsbereich. Für die Verständigung
mit den jeweils herab- oder herauffahrenden Kumpeln nutzt er ein Funkgerät, wahlweise
ein kabelgebundenes Grubentelefon. Denn die Funkstrecke reicht gerade noch bis
zum unteren Ende des Schachts – sobald man dort nur wenige Meter seitwärts in
den Stollen einfährt (der Bergmann sagt stets ja fahren, auch wenn´s per Pedes
geht), ist natürlich Dauerfunkloch! Kein Wunder, zumal bei Eisenerzumgebung.
Deswegen gibt es unter Tage sogar noch ein drittes, nunmehr neu eingebautes
Streckentelefon für einfahrende Bauleiter, Vermessungsingenieure und Arbeiter.

Hier, am „Dreibrüderschacht“
südlich Freibergs, gab es obendrein, nein, eher untendrein!, das erste Kavernen-Wasserkraftwerk
der Welt, seit 1912. Die Kraftwerksturbinen befinden sich in sagenhaften 270
Metern Tiefe, wurden mit im Bergwerk selbst aufgestautem Wasser betrieben. Ein
weiteres „Felsenkraftwerk“ folgte kurz danach im Oberharz; ein paar Jahre
vorher schon gab es einen ähnlichen Untertagebau zur Stromerzeugung in den USA,
allerdings oberflächennah in einer Höhle an einem Wasserfall; gebaut vom ausgewanderten
Deutschen Carl Crämer. Das elektrodynamische Prinzip war just um 1880 entdeckt
worden von Wernher von Siemens, der erste Generator von ihm gebaut. Ebenso wie
die erste Straßenbahn der Welt, der erste Oberleitungsbus, der erste elektrische
Aufzug. Strom wurde also zunehmend gebraucht und populär, die bequemeren
elektrischen Motoren lösten bald die gewaltigen Dampfmaschinen-Ungetüme ab. Die hiesigen
Pelton-Turbinen, tosend angetrieben von rauschender Strömung aus 140 Metern (!)
unterirdischer Wassersäule brachten 4 Megaatt pro Jahr: heute genug, mehrere
Tausend Haushalte mit Strom zu versorgen. Ähnliche Leistung bringen große,
moderne Windräder; doch nur bei Wind – und arg störend in der Landschaft. Das
gestaute Wasser dagegen unsichtbarer Kraftquell rund um die Uhr.

Anfang der 70er Jahre wurde das
Kraftwerk dann stillgelegt vor dem Hintergrund gewaltiger Braunkohleverstromung:
Auch, weil die Wartung in so großer Tiefe aufwändig und schwierig ist. Immerhin
wurden die Anlagen vorausschauend gut konserviert, und so überstand die 2002 ebenfalls
komplett überflutete Maschinenhalle in düsterer Tiefe das füchterliche
Hochwasser gut – sie wäre grundsätzlich noch oder wieder nutzbar. Einzelne Zahnradgestänge
für Schieber beispielsweise sind so gut gefettet, daß sie sich mühelos mit der
Hand bewegen lassen; die nach oben führenden Leitungen sind allerdings gekappt.
Der geheimnisvolle „lost place“ schläft derzeit schlicht als nicht betretbares „Technisches
Denkmal“ in der Tiefe. Auch wenn ein ortsansässiger Verein die Anlage pflegt
und mit einer Wiederinbetriebnahme liebäugelt, wird kaum ein Schatzsucher
verlorener Orte ihn je zu Gesicht bekommen. Nicht absichtsvoll, schon gar nicht
zufällig. Denn die ganze Anlage samt Entwässerungsstollen ist nicht für die
Öffentlichkeit zugänglich, schließlich hat sie weiterhin allein dem Wasser zu
dienen. Und das auch die nächsten Jahrhunderte – es ist ein echtes
Ewigkeitsbauwerk.

Im Durchschnitt des Jahres strömen
etwa 680 Liter Wasser hindurch ab, knapp ein dreiviertel Kubikmeter – je
Sekunde! Natürlich schwankt das in Wirklichkeit stark, je nach Jahreszeit und
Wetter. Während der Sanierungsarbeiten ist es während der Arbeitsschichten
höchstens ein Zehntel, es wird einerseits abgepumpt und umgeleitet.
Andererseits wird in höher gelegenen Bereichen des verzweigten Grubensystems auch schlicht durch eingebaute
Barrieren angestaut – und während der arbeitsfreien Zeit an Wochenende
geflutet zum Abbau der Wassersäule. Im Höchstfall tosen bis zum 15fachen der
Durchschnittsmenge durch den Stollen, so war es bei dem erwähnten Hochwasser.
Obwohl die nunmehr neu eingezogene Fußbodensohle mit dem Grubengleis eigentlich
nur für die Neuauskleidung unmittelbar notwendig ist, soll sie letztlich doch
dauerhaft eingebaut bleiben – auch die regelmäßige Wartung wird sie
erleichtern. Fürderhin werden Grubeninspekteure bei gelegentlichen Wartungen also
nicht mehr mit dem Kahn fahren, so wie bisher. Sondern mit dem Grubenfahrrad.
Allerdings auch nur bei geringerem Wasserstand.
Stichwort Kahnbefahrung: Gleich
nebenan ruht sich ein anderes Bauwunder von fast 250jähriger Strapaze aus. Am
oberirdischen Churprinzer Bergwerkskanal, Fertigstellung 1788, befindet sich das erste Schiffshebewerk der Welt! Denn ein solches ist das Kahnhebehaus in
Halsbrücke, unweit des 7. Lichtlochs, dessen gut erhaltene Fundamente von
jedermann durchaus jederzeit bestaunt werden können. Sieben Meter sind es auch,
die dereinst einige starke Männer per Muskelkraft und mittels Flaschenzügen
ihre bis zu 3 Tonnen schweren Erzkähne hoben oder senkten, das Gewicht zweier
heutiger Mittelklasselimousinen also. Das im Kanal zufließende Wasser wurde
prompt beim Bau der Bauschächte für den ungeheuren Entwässerungsstollen mit
genutzt, als Aufschlagwasser zum Antrieb der Lastkräne und verschiedenen
Fahrkünste. Selbstverständlich gehört alles zusammen zum UNESCO-Weltkulturerbe
„Montanregion Erzgebirge“.
* Auch das Stahlseil als solches eine deutsche Erfindung wie so vieles, unmittelbar aus dem Bergbau und zunächst für diesen: Der Harzer Bergrat Friedrich Schell aus Clausthal hatte damit endlich eine lange schon beastehende Schwachstelle bei Grubenbauten gefnden, im wörtlichen Sinn, und den ganzen Bergwerksbetrieb quasi revolutioniert. Denn die bis dahin genutzten zentnerschweren Ketten waren längst mit zunehmender Tiefe viel zu schwer geworden – und überaus gefährlich! Bekanntlich ist die beste Kette nur so stark wir ihr schwächstes Glied. Ein verdrilltes Seil, deutlich belastungsfähiger gemessen am Eigengewicht, spleißt allmählich auf, bevor es final reißt ...