22. Juli 2022

[Reportage] Die Deutschland-Aufstellung

 

Ein wahrer Bericht von tatsächlichen, aber fast unglaublichen Geschehnissen am Beginn des Jahres 2021 in Berlin. Aufgeschrieben von einem Teilnehmer der fast irrealen Ereignisse, für die es zudem 11 lebende Zeugen gibt.

 


Wissen Sie, was eine Familienaufstellung ist? Falls ja, dann überspringen sie einfach die folgenden Zeilen bis zum Absatz „Eine Deutschland-Aufstellung also!“; allen anderen will ich es kurz erklären.

Eine Familienaufstellung ist ein diagnostisches Verfahren in der Seelen- und Gesellschaftskunde, anders gesagt der Psychologie und bisweilen Soziologie. Es soll Konflikte zwischen Menschen erkennbar machen und daraufhin Störungen im Miteinander lösen. Der Therapeut hört sich in wenigen Worten und Sätzen das vom Klienten geschilderte Problem an. Daraufhin stellt er einige Teilnehmer des Verfahrens als sogenannte Stellvertreter auf bestimmte Positionen im Raum, oder läßt diese sich selbstwählend in den Raum stellen (ggfs. auch setzen oder liegen). Diese Personen markieren dann stellvertretend bestimmte Energien, die von Dingen, Personen oder Ereignissen ausgehen. Wenn es um persönliche, individuelle Seelensorgen und körperliche Nöte geht, finden sich fast immer die maßgeblichen Familienmitglieder  ­­wieder, daher der Name „Familienaufstellung“: Mutter, Vater, Oma, Opa, Kinder, Geschwister. Auch Tante, Onkel, Mitbewohner, Kollegen und Freunde, nicht zuletzt Lebenspartner. Es können auch Ahnen sein, die längst verstorben sind. Daneben spielen abstrakte Konstrukte wie „Angst“ oder „Lust“ eine Rolle und können markiert werden, ein Ereignis wie die „Scheidung“ eines Gatten oder der „Tod“ einer Person oder Sache als solcher. 

Alles kann stellvertretend aufgestellt werden. Es geht dabei darum, manifest sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar wirkt. Wenn beispielsweise der Klient seine Bezugspersonen, etwa Vater und  Mutter, aufgestellt hat und sich zu ihnen im Raum positioniert, kann man bereits vieles ablesen: Wie weit steht er von diesen entfernt? Steht er zu- oder abgewandt? Wie stehen diese zueinander? Durch Fragen des Therapeuten angeregt, agieren und reagieren die Stellvertreter dann gemäß der von diesem „energetischen System“ ausgehenden Schwingungen und Impulse: nicht in erster Linie rational und überlegt, sondern intuitiv. Das kann erstaunlich gut funktionieren, insbesondere, wenn die Teilnehmenden geübt sind und sich der Sache ohne allzu große Individualität - sagen wir besser: ohne Ego - hingeben. Selbst wenn die Kritik stimmte, das Ganze sei ein Einbildungstheater der Beteiligten, würden doch schon bestimmte Muster erkennbar für den Betroffenen, der sie dann gemäß seinem Innenleben deuten kann – ähnlich wie bei Tarot-Karten, Wahrsage-Ritualen oder jeder anderen Form der Selbstausspiegelung.

Tatsächlich aber scheint die Familienaufstellung, im Wesentlichen entwickelt von dem Philosophen und Priester Bert Hellinger, ein wirkmächtiges Instrument zu sein, welches die Beteiligten deutlich in Bann ziehen kann. Man kann als sogenannter Stellvertreter einer solchen Aufstellung Dinge wissen und sagen, die zweifellos aus einem sozusagen "höheren Feld" kommen müssen, weil sie individuell und rational nicht erschließbar sind. Manche sprechen vom „morphogenetischen Feld“, manche nennen es das Über-Ich, manche „transpersonales Bewußtsein“, und manche schlicht Gott.

Eine Deutschland-Aufstellung also! Eine diagnostische Runde zu Politik und Gesellschaft, mit besonderem Blick auf das eigene Land. Ort: Berlin, Zeit: Februar 2021. Faktoren der äußeren Lage: Vor dem Hintergrund der „Coronakrise“; Wirrwarr, Angst, steigende Preise und Panikkäufe   erstmals seit Jahrzehnten gibt es Beschränkungen beim Kauf bestimmter Dinge, und Alltagsgegenstände wie banales Toilettenpapier oder Standardmehl und Trockenhefe sind über viele Tage nicht mehr zu kaufen. Bürgerliche Spaltung, persönliche Verinselung und Einsamkeit; mehrere „lockdown“ genannte Komplettabschließungen jedes bürgerlichen Lebens liegen bereits hinter uns, sozusagen vollzogene Kriegszustände wegen nicht ausgesprochenen Bürgerkriegs. Immer mehr Propaganda und Hetze in den Massenmedien, die völlig gleichgeschaltet sind. Massendemonstrationen, gewaltige Polizeieinsätze hochgerüsteter Polizeikrieger gegen das eigene Volk, ein immer weiter ausgehöhltes Grundgesetz und völlig gelähmte Justiz. In der politischen Diskussion, die allenfalls zum Schein besteht, geht es mehr denn je fast nur noch um die Frage, wer wem als erstes vorwirft, „Nazi“ zu sein. Wahlweise „Verschwörungstheoretiker“, „Querdenker“ „Schwurbler“ oder „Putin-Versteher“. Die kleine und mittelständische Wirtschaft in schweren Nöten. Und so weiter, und so weiter …  


Nicht wenige glauben jetzt erstmals zu verstehen, wie es 1933 im Deutschen Reich angefangen hat mit der Diktatur. Der internationale Druck, gerade auf Deutschland, ist enorm. Beispielsweise versuchen die US-Amerikaner seit Jahren, das deutsch-russische Energieprojekt „Nordstrom 2“ zu torpedieren, die neue Gasröhre unter der Ostsee: Sie wollen unter anderem ihr eigenes Erdgas in Europa, mit Schiffen angeliefert, verkaufen. Als Ukraine-Krise wird spätestens die „Annexion der Krim“ (westlicher Duktus) oder wahlweise die „Rückkehr der Krim zu Russland“ (östliche Darstellung) bezeichnet, wobei der eigentliche Hintergrund das Vorrücken der NATO nach Osten ist – Russland fühlt sich bedroht und verraten, auch angesichts unentwegter antirussischer Propaganda im Westen. Und vieles mehr …

Die Aufstellung beginnt. 12 Leute zwischen 20 und 60 nehmen teil, die überwiegende Mehrzahl Frauen. Die Grundfrage, das formulierte Problem  lautet singemäß: „Was ist hier eigentlich los? Und wie geht es weiter?“ Als erstes wird DEUTSCHLAND aufgestellt. Ein Mann legt sogleich seine dafür geltende kleine Matte etwa in die Mitte des Raums, stellt sich darauf. Eine Teilnehmerin moniert umgehend, sie hätte doch DEUTSCHLAND spielen wollen! Da die Rolle jedoch nun besetzt ist, schlägt die Leiterin vor, noch als zusätzliche Rolle DIE DEUTSCHEN ins Spiel zu bringen. Gesagt, getan. Die Teilnehmerin legt ihre Matte – DIE DEUTSCHEN – in den Raum, mindestens 4 Meter entfernt vom Land, stellt sich darauf und blickt fast in die entgegengesetzte Richtung. In dieser Richtung steht wenig darauf eine junge Teilnehmerin, noch ein Stück weiter entfernt, die ihrerseits US-AMERIKA spielt. Innerhalb weniger Minuten sind alle Teilnehmer im Spiel, und zwar als: RUSSLAND, DIE WESTALLIIERTEN, EUROPA, POLEN, DIE VERGANGENHEIT, DIE BESSERE ZUKUNFT, DIE SCHULD, DIE FREIHEIT, DIE VERANTWORTUNG und  später ein paar weitere. 

Das ist die Ausgangssituation. Jeder steht irgendwo, alle schauen irgendwohin, absolutes Durcheinander. Chaos! Wirrwarr! Keinerlei Harmonie. Niemand ist zufrieden, alle fühlen sich herzlich unwohl. Nun stellt die Leiterin – mit ihrem guten Blick von außen – die erste, naheliegendste Frage: Warum stehen DIE DEUTSCHEN nicht auf ihrem Land? Die Stellvertreterin antwortet: „Ich kann nicht dahingehen.“ Warum? Offenbar stört die auf halber Strecke fast dazwischenstehende SCHULD. Diese offenbart, daß sie keineswegs Schwierigkeiten mit dem Land selber habe, aber mit dessen Bewohnern. Fehlt es ihr etwa an Aufmerksamkeit? Nein, das sei nicht die Hauptsache. Es wären da viele verschiedene Dinge aus dem Ruder gelaufen, völlig unrichtig; vieles ist schlicht fehl am Platz, das empfinden alle, die hier überall im Raum verteilt sind. Jeder nimmt es auf seine Weise und aus seiner Perspektive genau so wahr.

Viele Fragen an viele Teilnehmer. Manche wechseln den Standort, bisweilen allmählich, bisweilen abrupt, manche wechseln sogar mal die Rollen, es kommen noch zwei weitere Charaktere zwischenzeitlich dazu. Doch es bleibt ein ungreifbares Dysplasma. Dann irgendwann die Frage an DEUTSCHLAND: „Warum stehen deine Leute nicht bei Dir?“. Die Antwort: „Weiß ich auch nicht. Ich habe mit ihnen kein Problem. Sie dürfen doch gerne herkommen.“ Die Leiterin hat spitze Ohren! Und gibt die Bitte vor: „Sag das noch mal, direkt zu deinen Leuten gewandt. Vielleicht so: ´Komm doch her`, mit einer freundlichen Geste. Oder sag: „Komm nach Hause“.


Plötzlich ist alles ganz still. Plötzlich ist eine andere Energie im Raum.  Eine unheimliche Stille. Eine innere Bewegung! Hier und da beginnen Tränen zu fließen. DIE DEUTSCHEN wenden sich ihrem Land zu, kommen ein Stück näher. Mit einem Mal ändert sich alles, beginnt alles in Fluß zu kommen! Von nun an ist es nur noch eine Frage der Zeit, denn die Dinge kommen ins Rollen: Allmählich, einige Fragen und Antworten später, einige Umgruppierungen danach, einige Entschuldigungen und Umarmungen darauf steht die Stellvertreterin DER DEUTSCHEN bereits fast auf ihrem Land. Blick in den Raum, Rücken zu ihrem Land. Und spricht gerührt „Jetzt kommen alle heim! Lebende wie Tote. Die Lebenden aus dem Ausland, sie kommen zurück. Die Toten, die ungeliebten und verjagten und mißachteten, sie kommen auch zurück, sie finden ihre Heimat wieder. Wir versöhnen einander.“ Es ist eine ungeheuerliche Energie im Raum zu spüren! Stille und stilles Brausen und Toben zugleich. Harmonisches Beben und gefühliges Grollen. Allmählich gruppiert sich alles um einen Punkt herum, konzentrisch, gleichmäßig, in übersichtlichem  Strukturen. Der Vertreter für DEUTSCHLAND tritt aus dem Spiel zurück, er fühlt sich hier als Rollenspieler nicht mehr gebraucht: Denn seine Landsleute sind zurück auf seinem Feld, besiedeln es fast komplett. Er setzt sich zufrieden als Beobachter an den Rand und schaut weiter interessiert zu. 

Was er endlich sieht von außen, ebenso wie die Leiterin, ist folgendes Schlußbild: DEUTSCHLAND steht als einziges inmitten des Raums. Alle anderen, die abstrakten wie die konkreten Zuordnungen, sitzen, knien oder liegen reihum, mit Blick zur Mitte. Es ist eine harmonische und stimmige Ordnung im Ganzen, und das aus jeder Perspektive. Und tatsächlich, jeder – Beobachter wie Teilnehmer – empfindet es als stimmig. Als richtig. Als gut, als heil. Vielleicht als vollendet.

Vollendet? Wird hier das Ende einer Epoche gezeigt, und zugleich der Anfang einer neuen? Beginnt so das dritte Jahrtausend der (symbolischen) Menschheitsgeschichte? 

 

--> Anmerkung: Leider gibt es keine Bild- oder Tonaufzeichnungen der Deutschland-Aufstellung, obwohl sie möglich gewesen wären und naheliegend waren. Die Leiterin der Aufstellung hätte nichts dagegen gehabt, einigen wenigen Teilnehmern jedoch war das diesbezügliche Ansinnen des hinzugekommenen Beobachters zu weit eingreifend in die doch recht persönlichkeitsnahen Verwicklungen – nicht unverständlich, weiß man vorher doch nie, wie intim die Sache endlich würde? Doch es gibt für diese Aufstellung, die an einem Mittwoch Ende Februar 2021 in einem Einfamilienhaus in Berlin-Reinickendorf stattgefunden hat, 11 lebende Zeugen, wie gesagt.

 

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Nachbetrachtung vom Berichterstatter:

Mir kommt ein Bild nicht aus dem Sinn. Das Bild von Musikern, die zusammen eine großartige Sinfonie aufführen wollen. Ist die Welt denn nicht ein gewaltiges Orchester, bei dem alle ihr Instrument spielen -  einzig der Komponist und Dirigent derzeit partout nicht auf sein Pult steigen will, dafür an allen Ecken und Enden im Graben abtauchen und mitfideln möchte? Überall hockt er sich mit dazu, krümmt sich über die Partitur des Oboisten, dreht bald hier, bald dort an einem Wirbel, zupft links an der Harfensaite und plaudert rechts mit dem Paukisten, witzelt mit dem Bratscher und hält dem Bläser ein neu entwickeltes Mundstück hin und tadelt gleichzeitig dessen ungeputztes Horn? Ist zugleich verdrossen, verzweifelt und ergrimmt über das grauenhafte Stimmengeknarze und disharmonische Getute und Gekreisch, hört er doch ganz genau jede einzelne Stimme und kennt das gesamte Oratorium inwendig? Warum weigert sich der kindliche Narr unterdessen, endlich aufzustehen und den Ton anzugeben, alle zu höherem Klange zu vereinen? Warum duckt er sich, krümmt sich, will als Riese dringlich den Zwerg spielen? Ängstigt sich vor der Verantwortung? – Liebe Landeskinder, muß ich es noch deutlicher sagen?


22. Juni 2022

[Geschichte] Große Sterne hinter kleinen Gittern

 

Es ist ein ungewöhnliche Geschichte. Es ist eine seltene Geschichte. Und es ist eine schöne Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der den größten Teil seines (täglichen) Lebens freiwillig hinter Gitter geht, ganz nach unten - im doppelten Sinn. Um dort etwas zu tun, was seine Kollegen ausschließlich am anderen Ende der Gesellschaft vollbringen, ganz oben. Warum tut er das? "Ich wollte etwas ganz Neues ausprobieren und was lernen, und dabei möglichst was Sinnvolles tun", sagt der Mann wie nebenher, ohne aufzuschauen. Das hat geklappt. Größer als der Nutzen für ihn ist der Nutzen für die unfreiwillige Gemeinschaft vor Ort. Dafür ist er dort seit Jahren Held und gefeiertes Vorbild. Es dürfte weltweit keinen Menschen geben, der so viele echte Freunde unten den harten Jungs hat. Den richtig harten.

"Nadrizdov Kompleks" heißt die ausgedehnte Justizvollzugsanstalt nördlich von Preßburg. Sie ist regulär für 970 männliche Häftlinge ausgelegt, und überwiegend ist sie ausgelastet. Deutlich kleiner angelegt im Jahr 1844 für den gleichen Zweck, zu Zeiten der Donaumonarchie: damals für 400 Personen. Nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit lang von Zigeunern als Unterkunft genutzt, ab 1930 Hilfskaserne für slowakisches Militär. Nach 1945 wieder Gefängnis, vorübergehend vollgestopft mit weit über 1000 überwiegend deutschen Männern und Frauen: die meisten kurz danach vertrieben. Einige arme Teufel blieben noch jahrzehntelang hinter den düsteren Mauern. Ab 1958 Militärgefängnis als auch reguläre JVA der Tschechoslowakei, mit großen Erweiterungsbauten endlich ab 1970. Der alte, aus Backsteinen gebaute und großteils verklinkerte Zellentrakt von 1844 steht allerdings ebenso noch wie die Verwaltungsgebäude aus Feldsteinen. Beides wurde in den späten Neunzigern saniert und wird in unseren Tagen noch immer genutzt. Die Küche, im Keller des neueren Langhauses gelegen, etwa 5 mal 15 Meter groß, ist ein lang gezogenes Rechteck: grau gekachelt bis zur Decke, fünf kleine Fensterluken auf einer Seite, vergittert wie hier alles. Vier Großwaschbecken, zwei lange Arbeitsplatten mit gewaltigen Holzbrettern als Unterlage, drei Herde, der größte achtflammig, und sechs gußeiserne Backöfen, die neben- und übereinander in die Wand eingelassen sind. Knapp unter der niedrigen Decke hängen im 2-Meter-Abstand üppige, schwarze Schalenlampen mit großen 150-Watt-Glühbirnen. Sie erinnern an die alten Reichsbahnlampen auf Bahnsteigen, und wahrscheinlich sind es auch genau solche. So sieht das bescheidene Reich von Sternekoch Jano Menkart aus, den sie hier alle "Šeffe" nennen  zu deutsch schlicht "Chefchen", aber anerkennend. Zuletzt hat er 12 Jahre in einem der besten Wiener Hotel-Restaurants gearbeitet – wo genau, soll ich nicht sagen, darum bat er mich als leitender Chefkoch. Seine Sterne-Ausbildung bekam er noch in der alten Heimat, an der halbstaatlichen slowakischen "Akademie für Küchen- und Hotelwesen" in Žilina (früher Sillein), und in der Slowakei hat er auch seine ersten Sporen verdient und Spitzensuppen gekocht, in einer Szenekneipe im Herzen Bratislavas. Sogar auf See ist er eine kurze Weile gewesen – ziemlich ungewöhnlich für einen Binnenstaatler: Unmittelbar nach seiner Lehrzeit eher ziellos für einen befreundeten Kollegen aus Travemünde einspringend, fand er sich unverhofft in Taiwan wieder, auf einem kleineren Frachter als Smutje.

Jetzt bläst keine warme, salzige Meeresbrise durch ein geöffnetes Bullauge mit blauem Himmel dahinter, und die große, weite Welt ist genauso fern wie das Duftflair der feinen Wiener Gesellschaft. Knoblauchige Kohldünste wabern durch den Keller, und durch die angekippte Glausbaustein-Luke dringt eine dünne Geruchsschwade mit Teer und verbranntem Tabak. Šeffe, der Küchenchef, hat keine 3 Hilfsköche und 4 "Schmorschurln" (gemeint sind „Bratenwender“ oder allgemein Küchengesellen) unter sich, dirigiert keine herein- und herausstolzierenden Kellner in Livree mit weißen Handschuhen. Ihm zur Seite stehen zwei halbtags angestellte, weibliche Küchen-Fachkräfte und ein Lehrling in spinatgrünen Küchenkittel sowie üblicherweise 6 Häftlinge im Anstaltsgrau mit Schürze; einer von ihnen hat schon mal als Koch gearbeitet, und ein anderer hat sich als "Kellner mit Küchenerfahrung" in diese gefragte Stellung … nun, sagen wir: selbst empfohlen. Der Rest hat irgendwas gelernt – oder gar nichts. Aber alle sind mit Feuereifer und höchster Disziplin, mittlerweile auch schon längst mit einigem Können, bei der Sache. Keiner der Männer käme auf den Gedanken, schlampig zu arbeiten oder gar seinen Küchendienst zu quittieren, bevor er entlassen wird. Und Milan, der lebenslängliche, wird für immer hier bleiben. Nicht nur, weil sie hier an der Quelle sitzen, am Fleischtrog und am Kuchenblech. Sondern weil er und die anderen hier viel lernen, weil sie Sinnvolles tun, weil manche von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Nützliches für die anderen, die Gemeinschaft, tun. Es ist auch wegen mancher kleiner Vorteile, klar. Man kann mal tauschen (etwas Backpulver zu Reinigungszwecken oder schwarzen Tee, den manche zum Rauchen nutzen). Aber in erster Linie, weil sie deswegen ungeheuer geachtet sind bei den anderen Männern da draußen. Oder vielmehr: da drinnen, aber draußen um die Küche. Die Küche mit dem Star.

Und Achtung, ja Achtung bedeutet viel im Knast. Vielleicht das meiste. In der allgemeinen Gesellschaft, wo jeder Einzelne bei aller empfundenen Gängelei und Einschnürung zumindest noch soviel Freiheit hat, daß er ungeliebten, womöglich gehaßten Mitmenschen aus dem Weg gehen kann, wenigstens zeitweise, ist Achtung eine Frage des Komforts. Eine Frage des gehätschelten Egos. Eine Frage des bequemer oder schwerer an-eine-gute Stelle-kommens oder von mehr oder weniger Trinkgeld; eine Frage des öfter oder seltener angelächelt oder bewundert werdens. Im Chládok, im Loch, wie sie es hier nennen, kann Achtung eine Frage des Überlebens sein. Nicht des seelischen Überlebens, sondern des körperlichen.

Doch der "Šeffe" wird nicht allein geachtet. Er wird hoch geschätzt, vereehrt, ja, bejubelt. Die Männer lieben ihn alle. Seit er hier ist, seit 2014, ist nicht nur das Essen um Klassen, um Längengrade, um Horizonte besser. Ach was, Essen! Feinste Speisen tischt er ihnen ja auf, allen, edle Gerichte, und bisweilen die ausgesuchtesten Köstlichkeiten an Wochenenden, wenn es die Lieferungen zulassen. Es wird mittlerweile geradezu geschlemmt in den Zellen, beinahe täglich! Früher gab es hier jahrzehntelang die übliche, magere Massenabspeisung, in der Nachkriegszeit war es schlicht Fraß. Schweinefraß. Später über Jahre Kantinenessen aus Krautsuppen, allenfalls zähem Hammelfleisch und angekeimten Kartoffeln. Vorgekochten Erbseneintopf aus Riesenbüchsen. Schlackwurst mit Senf und hartem, nicht selten angeschimmeltem Graubrot. Kohleintopf mit Schweinebauch, eine seltsam lila Fleischgrütze namens "tote Oma" (wie wohl in allen Knästen der Welt), versalzene Haluschki mit Magerquark statt Rahm (der alte Österreicher nennt es Bimsennockerln), zweimal im Jahr gesäuerten Hering und vereinzelt eine Mehlpampe, die Palatschinken hieß. Jetzt gibt es „in Butter und Schalotten geschwenkte Fettucine mit Kräutergirlande am Knusperrippchen“ oder „mild angeräucherten und zweimal gebratenen Fenchel mit Korianderkruste im eigenen Fond“ – und die Gerichte hören sich nicht nur appetitlich an, sondern sie sehen auch genau so aus und schmecken so. Natürlich, die Namen denken sich die Rühr- und Schneidhäftlinge zusammen mit dem Maitre-Boß aus, je nachdem, was Vorratskammer und Kochkünste gerade hergeben. Meist geben sie viel her. Nicht nur, daß ein so beschlagener Spitzenkoch wie Menkart „vieles aus allem zu zaubern“ vermag. „Das ja gerade macht das Kochen aus“, sagt der Meister ziemlich bodenständig, während er 52 Eier mit der linken Hand aufschlägt und trennt, in etwa anderthalb Minuten. (Natürlich, das ist für mich eine kleine Schauvorführung in praktischer Küchenkompetenz, die er allerdings bereits im zweiten Lehrjahr gelernt hat; mit der Arbeit eines Spitzenkochs hat es üblicherweise so viel zu tun wie rudern-können beim Käpitän eines Luxus-Liners.) Nicht nur, daß er den Anspruch hat, so viel wie möglich selbst und so viel wie möglich frisch zuzubereiten, und so oft wie möglich Neues, Ungekanntes und dennoch überaus Schmackhaftes zu kreieren. Nicht nur, daß er den Anspruch vor allem an sich selbst hat, sogar so große Mengen, wie sie hier nötig sind, liebevoll und immer wieder raffiniert und abwechslungsreich zu fertigen: zu pochieren, zu braten und garen und kochen und schmoren, zu dämpfen und dünsten, zu säuern und süßen, anzuflammen und abzuschwenken, anzuschwitzen und aufzuköcheln, zu flambieren und zu umrahmen, zu salzen, zu pfeffern, zu karamellisieren und aufzuschäumen. Sondern auch, daß er es mit seiner Kunst und vor allem seiner Liebe zur Arbeit geschafft hat, auch die mürrischsten und knorzigsten Schließer, Wärter und Anstaltsdirektoren (er dient nun schon beim dritten) zu überzeugen und für sich zu gewinnen. Längst bestellen sie nicht mehr von außerhalb ihre Käseschnitzel und Pizzen oder essen zu Hause. Längst bestellen sie in ihrer eigenen Anstaltsküche und erkundigen sich auch gerne schon mal vorher, was es morgen geben wird? Längst haben sie alle kapiert, daß es ihnen allen hier, Wärtern wie Knastis, in jeder Hinsicht besser geht, seit der Mann dort unten so gutes Essen kocht. Daß alle mit allen besser auskommen - man könnte schon fast sagen: harmonisch. Daß es kaum noch ernsten Streit gibt, geschweige denn handfeste Randale. Deswegen öffnen sie ihm Türen für das, was er braucht, versuchen ranzuholen, was seine Jungs in der Küche gerne hätten, finden Mittel und Wege, bisweilen sogar mal frischen Koriander oder Forellen herbeizuschaffen. Nicht bundweise oder in Pfund gemessen, sondern in (Frischhalte-)Säcken oder halb tonnenweise.

„In Wien hatte ich gedacht, ich wäre bereits ganz oben angekommen, mit 35 Jahren“, sagt Menkart und schmunzelt kopfschüttelnd, kopfschüttelnd wohl über sich selbst. „Rein äußerlich, vom Lebensstil her betrachtet, hatte ich es 20mal besser als hier. Ich habe sechs Tage die Woche gearbeitet, hatte dann jeweils 5 Tage frei, und habe gut siebenmal soviel verdient.“ Er wohnte im westlichen Zentrum der Altstadt, im Ersten Bezirk, beinahe dem vornehmsten Quartier der Habsburgermetropole. Hatte gute Freunde in der feinen Gesellschaft, der sogenannten "hautevolee", und wurde schon mal zu Empfängen bei Ministerialdirektoren eingeladen und kochte einmal exklusiv für das Königshaus Ibn Sauds, zusammen mit zwei weiteren Grand-Cuisineurs. Jetzt ist er an 25 Tagen des Monats hier im Keller, täglich von Zehn bis Acht oder Neun abends, und wohnt dann nur knapp 400 Meter außerhalb von der hohen Betonmauer, die oben doppelt stacheldrahtbekrönt ist. (Nein, nicht bekrönt, sondern bekränzt das klingt schon eher nach der beabsichtigten "Begrenzung".) Der Dauerschein der grünlichen Quecksilber-Dampflampen an der Lichtgasse vor den Betonwänden leuchtet nachts bis in seine Zweieinhalb-Zimmer-Bude. Ziemlich bescheiden, möchte man meinen. Zumal für jemanden, der sich ein schickes Chalet in den Walliser Alpen leisten könnte, einen Leuchtturm auf Sylt oder zumindest eine Villa in Kühlungsborn. Ein schlimmer Abstieg, würden die meisten sagen. „Heute ist mir klar, eigentlich war ich damals ganz unten.“ Wie bitte? „Viel Show, viel Fassaden, und nicht wenige genauso arme Würstchen wie hier. Mit einem Unterschied: Die armen Würstchen hier freuen sich riesig auf ihr Essen, sie genießen es wirklich“. Spricht´s, dreht sich mit wehender Hüftschürze um zum Rezeptblock, kritzelt einige Einfälle darauf und eilt in die Kühlkammer.

Offensichtlich ist es was anderes, was den Mann hier hält. Nicht in erster Linie die Möglichkeit, ziemlich selbstbestimmt – im Rahmen der Möglichkeiten – zu kochen, zu rühren, echte Freude mit seiner Hände Arbeit zu schaffen und sich ein bißchen als Künstler und Kauz feiern zu lassen. Vielleicht eher das: Das Wissen, daß die Kumpels, die er hier in den letzten Jahren gewonnen hat, völlig ohne großspurige Versprechungen, feine Stöffchen oder üppiges Trinkgeld, ihm eigenhändig Kohlen aus brennendem Feuer holten, wenn er sie darum bäte. Bis zu seinem Lebensende. Und, viel besser noch, daß er aus einem Ort, der für viele die Hölle auf Erden darstellt, ein Stückchen Himmel zu machen imstande ist. Oder wenigstens etliche leuchtende Sterne dranhängen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14. Juni 2022

[Gedicht] Blondes Maid

 

 

 

Aufrechtes Bekenntnis im Liegen

 

 

Rückwärts schmust mich blondes Fräulein,

vorn kraul ich die schwarze Katz;

ehrlich sag ich´s Dir, mein Schatz:

Schwerlich fand ich nie das Treusein!

 

(An diesem oder jenem Platz.)