6. Dezember 2022

[Gedicht] Das Glück

    

Man wird sich, ach!, gewöhnen müssen:

das Glück läßt sich nicht binden.

Zwar suchen wir´s, doch hoffnungslos;

wir können es nur finden.

 

Und welche Karte nötig sei?

Das bleibt uns ganz verborgen.

(Das Glück hat flotte Schwingen!)

Nach seinem Sinne schwebt´s herbei, 

kommt heute oder morgen.

Ob Tag, ob Nacht – ganz einerlei!

Wir können´s nicht bezwingen.

1. Dezember 2022

30. September 2022

[Konzept] Spektakuläre Einfälle für die Thüringer Oberlandbahn



Stillgelegt, doch nicht entwidmet. Rostig und verwildert, doch nicht vergessen. Geduldig und still, doch immer wieder Trubel verursachend: So dämmert die berühmte „Thüringer Oberlandbahn“ mit traumhaften Felsklüften, Geländeeinschnitten, Tunneln, verwunschenen Haltepunkten und grandiosen Viadukten vor sich hin. Stellenweise längs zur den herrlichen Saalestauseen, von der Orla-Senke bei Triptis bis hinunter ins fränkische Hölltal, wo sich Fuchs, Waldtrolle und schwarze Eichhörnchen „Guten Morgen“ wünschen und sich uralte Fichten einander zuraunen.

Ja, ein Verein kümmert sich rege um die vor Jahrzehntfrist stillgelegte Bahnstrecke, und wunderbare Draisinenfahrten sind möglich. Ja, ein kleiner Teil wird noch berollt, von Güterzügen zum Holzwerk. Ja, über die Wiederbelebung des winzigen Zipfels am südlichen Ende wird gerungen: überwiegend aus knallharten wirtschaftlichen Gründen, die immerhin gut grün besprüht sind …

Würde aber die ganze Oberlandbahn nicht selbst eine sensationelle Attraktion sein können, sich wirtschaftlich selbst tragen können, und obendrein noch späterhin Nutzen einer Verkehrsbahn für Güter und Passagiere in sich vereinigen können?

 

 

Wie könnte das gehen?

Reden wir Klartext. Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geht es nach dem alten System, im alten System: Mit regelversessenen Bürokraten in fernen (Eisenbahn-?)Bundesämtern, denen erst 12 Stempel auf 12 Durchschlägen vorgelegt werden müssen; mit verantwortungsängstlichen Streckenverwaltern, mit nach der Wirtschaft schielenden, nostalgischen Hobby-Eisenbahnern a.D.; und es geht nicht allein mit gutmeinenden, braven Bahnliebhabern, welche hier oder dort schon mal ein paar Meter Gleis mit Vereinskollegen auf eigene Kosten von Freitag bis Samstag vom Grün befreien und ansonsten auf wohlgesonnene Bürgermeister, eine geneigte Öffentlichkeit, Fördermittel vom Land sowie eine bessere Zukunft hoffen.  Fördermittel? Die wollen erstens alle, die hat zweitens keiner mehr, die sind drittens das Geld anderer Leute zugunsten eigener Partikularinteressen – also recht unehrenvoll – und nutzen viertens auch nur, so lange sie da sind. Sie wirken also nicht nachhaltig. Sind aber nicht Langfristigkeit und Nachhaltigkeit angestrebt? 

 

NEUE IDEEN!

 

Was wäre, wenn wenige Leute die anderen so begeistern, daß diese freiwillig kommen und ihr Geld bringen? Wie wäre das, wenn man touristische Glanzpunkte setzte, die deutschlandweit ausstrahlen? Das man also keine Werbung machen muß, sondern die Werbung von allein geschieht – durch persönliche Empfehlung und durch Journalisten, die ihre Beiträge darüber schreiben und filmen, weil sie selbst begeistert sind? Wenn also Öffentlichkeitsarbeit statt Werbung die Kunde in die Lande bringt, und das wie von selbst?

Ist das schwierig? Nein. Leicht ist es. Man braucht eben nur neue Ideen. Unabhängig, frei, und ein paar Parameter mehr ändernd. Diese Ideen sind da.

Beispielsweise! Wie wäre das, wenn zumindest an Wochenenden offene Pritschenwagen mit einigen Bänken, brennendem Grillrost und einigen kühlen Radler- und Limoflaschen fröhliches Publikum langsam durch die herrliche Landschaft zuckeln ließen? DAMPFGRILL MIT RAUCHIGEM FREI-BIER könnte das Spektakel heißen. Voran ein „Schienenkleinfahrzeug“ SKL, mit Halt am Stahlviadukt und informativem, unterhaltsamen Vortrag über dessen Erbauung und die Geschehnisse dabei? Mit mild grusliger Tunnelquerung im Schein einiger Fackeln und echtem Dampflokgeruch? 

 


 

Mit Badehalt an der Saale bei heißem Sommerwetter, mit Saunahalt bei kühlem Herbstklima? Vielleicht steht ja eine bald gebaute, einfache Finnensauna am Haltepunkt Liebschütz; vielleicht fährt auch eine Faß-Sauna auf dem letzten Wagen mit? STRECKENSAUNA FÜR BERG-UND-BAHN-FANS. Im Winter gibt es in geschlossenen Raumwaggons Filmvorführungen an den schönsten Stellen über alles, was eben mit diesen und der Eisenbahn zu tun hat. Oder mit dem zu tun hat, was die betreffende Reisegruppe sich eben gerade wünscht. Und im Frühling …

 

Ach, das geht nicht, denken Sie? Schöne Idee, aber schon allein das Eisenbahnbundesamt wird dem niemals unter halbwegs menschenmöglichen Bedingungen zustimmen, von den nötigen Gebühren für reguläre Halte und Netzeinbindung ganz abgesehen? Ist denn das EBA als oberste Behörde nicht zuständig und zwingend zustimmungsnötig für befahrene Eisenbahnstrecken? Ja, genau. Aber wer sagt denn, daß das Ganze noch Eisenbahn heißen muß, nur, weil es auf alten Gleisen stattfindet?

Dann wird die Strecke eben zunächst regulär entwidmet! Und prompt ist das EBA nicht mehr zuständig, und ein findiger Unternehmer oder ein engagierter Verein kann organisieren, was er will. Dann braucht man mit einem Mal keine geprüften Lokführer und zertifiziertes Sperrpersonal mehr, braucht keine Wegekreuzungspunkte aufwendig doppelt absichern, keine mindestens einjährige Vorplanung wegen langer Antragsfristen bei Fahrgastverbänden, keine horrenden Gebühren für Unterschriften … Geht nicht, gibt’s nicht!

Oder die Strecke wird nicht entwidmet, nur stillgelegt, doch es findet etwas ganz anderes darauf statt, was nichts mit der herkömmlichen Bahnbeamtenlogik zu tun hat und so heißt? Wenn zum Beispiel gar kein „gleisbezogener Kraft(fahrzeug)betrieb“ stattfindet, sondern streckengebundene Erlebnisgastronomie auf manuell betriebenen Vehikeln, längs eines ungenutzten Verkehrswegs? Ja, das ginge. (Da könnte sich allenfalls noch ein Förster für zuständig erklären. Da man aber örtliche Jagdvereine so zu ungewöhnlichen Naturpunkten kutschieren kann, Naturburschen durchaus auch Geselligkeit und ein Halali im Tunnel zu schätzen wissen, und man ferner vor Ort im Zug lokales Wild verkaufen kann an weitgereiste Touristen, dürfen solche eher leicht zu überzeugen sein.) 

 



 

  

Äh, wie bitte? Manuell betrieben? Ja, das könnte gerade der große Clou sein, die einzigartige Heraus-forderung! Gibt es nicht noch echte Männer, die ihren geliebten (und staunenden) Gattinnen gern Gleise vor die Füße legen würden? Ja, die gibt es. Und es gibt Männer, die am Wochenende freiwillig Steine schleppen in Bergwerken, um mal was richtig Kerniges zu tun; Männer- und Frauengruppengruppen gibt es, die halbe oder ganze Marathons freiwillig abschwitzen oder auf dem Radel strampeln, gegen strammes Startgeld und für eine Bratwurst plus ein halbes Radler als Lohn; Tausende, die sich am Samstag in Triathlons abplacken und dafür weit auf eigene Kosten anreisen. Zehntausende, die in immer das gleiche Fitneßstudio rammeln, um 35 oder 55 mal die Fußpresse bedienen – und denen sollte es nicht mehr Spaß machen (und gesundheitliche Befriedigung geben), mal mit einigen Gleichgesinnten an einem Strang zu ziehen und damit das Leichtvehikel über die Gleise? (Der Rollwiderstand von Stahl auf Stahl ist übrigens erstaunlich gering – jeder technisch Versierte weiß es, es begründet die Erfolgsgeschichte der Eisenbahn.) Ja, ein regulärer Eisenbahnwaggon ist tonnenschwer, gewiß; aber wer redet von regulären Eisenbahnwaggons? Wir zumindest haben nicht davon gesprochen. Es können auch zusammengeschweißte Altfahrräder oder Lastenfahrräder mit kleiner Plattform sein, etwa Mehrpersonen-Draisinen – nur einige hundert Kilogramm schwer, mit Personen gerechnet! Und sie müssen nicht unbedingt gezogen werden, auch schieben tut´s. SCHIENENFITNESS FÜR ABENTEURER! Oder kurbeln. Oder treten. Oder je nachdem Windkraft. GLEISSEGELN?! Haben Sie noch nie gehört? Wir auch nicht. Eben deswegen wäre es ja eine völlig neue Idee, und eben deswegen würden Leute von überall kommen, nachdem Journalisten von überall da waren. GLEISSEGELN am Thüringer Meer – am jeweils ersten Wochenende des Monats von Mai bis Oktober, Männer gegen Frauen. Ziemlich abgefahren, finden wir.

Ach so, es ist ja nicht immer Wind. Aber die Strecke hat Gefälle, nach Ziegenrück hinab von beiden Seiten. Also DRAISINENWETTRENNEN – welches Phantasiegebilde ist am schnellsten auf dem Gleis, wer baut die flinkste Seifenkiste auf Gleisen? Hierbei ist Antrieb regelrecht verboten! Aber wer rollt, der rollt.

 


 

Oder doch mit Antrieb, aber ganz alt- und zugleich neumodischem? Eine ganz kleine Dampflok, nicht systemrelevant und ohne reguläre Zulassungsnummer, hintendran für schwierige Passagen – diesmal spezialgefertigt – welche die Reisenden selbst mit Holz befeuern müssen? Wer wollte nicht schon mal Lokführer sein oder Heizer auf seiner eigenen Landpartie mit Freunden oder im Kollegenkreis? Wenn der Druck nicht reicht, muß eben noch mehr Holz rangeschafft werden, oder etwas von Hand geschoben … HANS-DAMPF-AUF-ALLEN-STRECKEN. Oder sollte man etwa gleich einen Bastlerwettbewerb für solarbetriebene Schienenfahrzeuge ausschreiben im ganzen deutschen Sprachraum, um zu sehen, wie man MIT SONNE IN DIE ZUKUNFT zuckelt, um Nachwuchsingenieure, Garagen-Tüftler und Maschinenbauer in spe anzu-locken, in Kooperation mit einer Technischen Universität?

 

Gewiß: Man fängt nicht gleich an mit einem Luxusliner á la Orientexpreß – mit Kaffee und französischem Cognac und Kriminalrätsel im Tunnel – auf der vorab fertig vorgehaltenen Strecke über 68 Kilometer! Man fängt an mit dem ersten Schritt. Und zwar mit einem organisierten TRASSENDAUERLAUF für Jogger und Läufer. Ebenfalls weltweit einmalig! Da gibt es nicht viel vorzubereiten, außer einem geschmückten Startbahnhof in Knau und girlandenumflorten Zieleinlauf in Remptendorf. (Die Wirte dort sind bestimmt schon ungefragt mit von der Partie.) Auf die Schwelle, fertig, los! Und Samstag drauf das gleiche erneut, diesmal im Dunklen – Startzeit ist 22.00 Uhr. Hier wird die Stirnlampe nicht nur im Tunnel gebraucht. FINSTERLAUF OHNE SCHWELLENANGST. Können Sie sich das Bild, vom Bergipfel oder aus Drohnensicht, vorstellen? Eine kleine, sich selbst bewegende Lichterkette im Tal da unten? Die Bilder kommen mit Sicherheit im Abendjournal, und haben Kultstatus auf Youtube! Danach wird nicht mehr über das „Ob“ einer zu reaktiviertenden Oberlandbahn gesprochen, sondern nur noch über das „Wie“ …

Ach ja, und die ganze Verwaltung, der Aufwand, der Geldkram! Wer wollte das schon machen? Was für ein Ärger! Kaum einer will das allzu gern machen – alle wollen am liebsten nur fahren. Na dann, lassen wir sie doch. Wir nehmen kein Geld, sondern nur Spenden. Dann müssen wir auch kein Gewerbe anmelden, keine Steuern zahlen, keine Bücher führen, keine Kontrollen über uns ergehen lassen … Jeder fährt mit auf eigenes Risiko, unterschreibt schlichtweg vorab eine Haftungsfreistellungserklärung, wie im Kletterwald etwa. Alles ganz

einfach. Und, glauben sie nur, die begeisterten Leute werden nicht nur kommen, sie werden auch mittun. So oder so. Schon beim Aufbau und der Organisation – weil das Ganze in jedem Fall ein echter Knüller ist. Ein Abenteuer, ein einmaliges Erlebnis, eine echte Erfahrung im wörtlichen Sinn: Sozusagen mit erstklassiger Grafikanimation, 3D-Effekten vom Feinsten und Raumklang ungekannter Güte in der realen Matrix.  Je weniger vorher steril und allseitig überorganisiert und hochglanzbeworben ist, desto mehr und desto begeisterter strömt das kernige Publikum von überall. Zuerst eingefleischte Bahnfans, harte Naturburschen und Genießer des Außergewöhnlichen. Später (Ruhm-)Trittbrettfahrer und Trassengucker, dann Nachzügler und breites Wochenendpublikum.

 

Und so weiter, und so weiter. Sagen Sie nicht, es ginge nicht. Wo ein Wille, da auch ein Weg. Erst recht, wenn der Weg schon da ist – und sogar Schienen drauf liegen!

 





 


 

 

 

      
                     
                                                                           
               

22. September 2022

14. September 2022

[Reportage] Die geheime Zeitschleuse unter der Osterburg

Wer in die Zukunft reisen will, muß sich seine eigene Phantasie zu Hilfe nehmen. Oder sich auf die Vorstellungskraft von Künstlern, Schriftstellern und Utopisten verlassen. Dann kann er vielleicht durch Romane oder Filme eintauchen in eine Zeit, die möglicherweise dergestalt kommen wird. Wer in die Historie reisen will, hat es etwas einfacher, zumindest für die jüngeren Epochen – bisweilen reicht da eine Reise ans Ende der Welt: Dahin, wo die Schuhe noch aus Holz geschnitzt werden, Sensen von Hand gedengelt und Teigfladen in Steinöfen gebacken. Man kann aber auch mitten im Deutschland des Jahres 2022 satte 170 Jahre in die wirkende Vergangenheit reisen. In die Zeit, in der unsere Ur- und Ur-Urgroßväter mit Kopf, Hand und Herz schufteten und unseren heutigen Wohlstand erschufen. Wo das gehen soll? Nun, in Ostthüringen.


 
Sind Sie bereit für den Eintritt in das Jahr 1860? Die erste Nationalrevolution liegt schon wieder 12 Jahre zurück, doch die Einigung ihrer deutschen Lande konnten die ungefähr 600 ehrbaren Standesvertreter, Gelehrten und gut patriotisch Gesinnten nicht erwirken. Lange hatten sie wohlfeil und rechtschaffen disputiert in der Frankfurter Paulskirche, doch von Außenpolitik hatten sie allesamt keine Ahnung: Ohne die umliegenden Großmächte zu betören, zu beschwichtigen, zu zwingen oder zu bestechen konnte es nicht gehen, denn jede von denen hatte ihre eigenen Interessen – und bereits einen zentralen Kopf. Trotz vieler Handelsgrenzen, Zollschranken, verschiedener Normen und Maßen im deutschsprachigen Raum – „deutsches Reich“ ist es nicht mehr und noch nicht wieder – wird das Leben behutsam reicher; die Handwerker sind fleißig, die Bürger tugendsam, die Obrigkeit je nach Region erträglich bis aufgeschlossen, die Studenten aufgeweckt und fortschrittlich. Neue Erfindungen drängen in die Wirtschaft, die Grundlaugen der Fotografie sind längst gemischt und in Kürze werden kompakte Kameras für jedermann erhältlich sein; eine Stimme schnarrt durch den Draht eines Holzkästleins, das Philipp Reis als ersten „Fernsprecher“ der Welt vorstellt; Johann Göbels Glühbirne leuchtet schon seit Jahren gleißend hell an einer Batterie, nur wartet Werner von Siemens dies begünstigende Erfindung des Dynamos als Stromgeber noch auf seinen erstmaligen Bau. Einige Chemiker an Oder, Spree und Rhein experimentieren zäh und ausdauernd am in Massen vorhandenen Steinkohlenteer, und werden ausgerechnet aus dem düsteren, schwarzen Abfallprodukt in Bälde Farbstoffe zaubern, die schon ihren Kindern nicht weniger als den ganzen Globus vielfältig und billig bunt machen wird. 
 
Derweil wandern massenweise Geplagte, Gepreßte und Geächtete aus dem dichtbesiedelten und engen Europa aus in die „Neue Welt“, mit nichts begütert als ihrer Hoffnung, Verzweiflung und Tatkraft. So oder so: Es geht tüchtig voran, überall in deutschen Fürstentümern wird gekurbelt und geschleift, gehobelt, gefeilt, gehäckselt und gesägt, gesegelt und gebetet. 
 
 
Doch halt! Das war erst die Vorrede! Pur décor. Jetzt geht’s erst richtig hinein ins Jahr 1860! (Denn grau ist alle Theorie, und grün des Lebens gold´ner Baum. Weimars Meisterkopf-Zitat aus dem Faust hat auch schon wieder 58 Jahre auf dem Buchbuckel, jeder Bildungsbürger kennt das dichterisch-mystische Oeuvre jetzt fast auswendig, doch die große Romantik-Renaissance steht noch bevor.)
 
Pardon, Monsigneur, dafür muß ich Ihnen nun ein bißchen ans (Arsch-)Leder gehen, und Sie durch ein unscheinbares Tor schieben. Nicht in Paris, nicht in Berlin oder Wien, sondern in der Unteren Straße 6 in Weida. Und zwar im vormaligen Haus des Lohgerbers Friedrich Francke, seines Zeichens Ledermacher in der vierten Generation. Und schwuppdiwupp, schon sind wir drin. Aaaah! Oooh! Incroyable! Eine niedrige Holzkonstruktions-Halle mit angeschrägtem Sägezahndach oben, durch die reichlich handwerkerfreundliches Oberlicht fällt. Staubkörnchen tanzen in der Luft, in den Lichtstrahlen vor dem Hintergrund dunklen Buchenholzes und weit hinten im Ungewissen verschwindender Nebengelasse gut sichtbar. Jede Menge Eichenbottiche und mit Folie ausgeschlagene Zuber, in denen mühelos zwei bis drei stramme Lederergesellen gleichzeitig baden könnten. Im Fußboden eine kreisrunde Lohgrube neben der anderen, mannsbreit und mannstief, manche mit Holzbrettern zugedeckt, viele offen, einige mit dunkler Brühe darin. Eine hölzerne Einradkarre, ein Weidenkorb voller Fichtenrindenschrot, eine knorrige Sprossenstiege. 
 
 
Das mit Abstand Jüngste ist die moderne Beleuchtung mit Glühbirnen und Glasschalen aus der Zeit Siegmund Bergmanns und Otto Schotts. Ansonsten eine restlos originale Lohgerberei in ihrer Erstausstattung, gegründet 1844 von Johann Franckhe. Mit allem, was dazugehört: Wasserwerkstatt, verschieden dicken Gerberlaugen in Ansatzbehältern und Gruben, Ausststoßmaschine und Äscherbottich mit Langarmzangen, Schabebäumen und Scherdegen, Falzmaschine und tonnenschwerer Lederglättpresse; Trockenräumen im Dachstuhl, Dampfmaschine, Rindenbrecher, Elevator und Lohmühle (alles bestens geschmiert und voll funktionabel) sowie Borkentenne im Nebenhaus,  schließlich innenliegenden Spülkanälen plus vorbeirauschendem Fluß – über eine Pforte direkt zugänglich, zur Flußwasserentnahme und zum Auswaschen von Tierhäuten und Fellen. Und Ufersteg plus Fanghaken, damit dem Gerber nicht die Felle davonschwimmen. Das einzige, was fehlt, ist Gottseidank der Geruch, den man nahezu nie konservieren kann. (Der Gestank in einer Gerberei muß zu allen Zeiten infernalisch gewesen sein, vor allem in den heißen Monaten.) Was einzig sonst noch fehlt, ist der Gerber samt Gehilfen selbst; wäre er da, könnte das Walken, Wässern und Weißen sofort weitergehen. Vielleicht fehlt hier auch noch ein anderer verhuschter und linkischer Charakter, ein Jean-Baptiste Grenouille?
 

Erst 1992 hängte der letzte Tierfell-Francke hier die Pump-Riemen an der Treibscheibe aus und seine Handschuhe an den Nagel. Fast 150 Jahre lang (!) hatten er und seine Vorfahren an dieser Stelle aus Rinderhäuten sogenanntes „Kernleder“ durchgehend gegerbt, insbesondere für Sohlen, Hinter- und Vorderkappe von Schuh und Stiefel. Mit genau dem, was eine jahrhundertalte Handwerkszunft, tradiertes Wissen und die Maschinen-Erstausstattung aus Humboldts Zeit der kleinen Familien-Fabrik zu bieten hatte: nicht mehr, nicht weniger. Jeweils über ein Jahr dauerte es immerfort, bis aus den angelieferten Kuhkleidern, dutzend Kilogramm schwer, feucht, dick eingesalzen und gewiß abscheulich stinkend, eine saubere, trockene, stabile Ledertafel mit glatter Oberfläche wurde: Nahezu unendlich haltbar, sagenhaft zäh, markant und durchaus wohl riechend. Eiweißumwandelnde Stoffe aus Fichtenrinde haben es bewirkt, neben viel Zeit und viel Wasser. Und neben viel gut eingeübter, kerniger Handarbeit im Dreimannbetrieb. Bestes Leder, der Stoff für Schuster und Riemenschneider, Handschuhmacher, Schneider, Polsterer und Tischler.

 
Vielleicht sind 1848 schon einige Revolutionäre mit hiesigen Brandsohlen unter ihren Füßen auf die Barrikaden getrampelt? Womöglich haben zwei Jahre später einige mitteldeutsche Abgeordnete in Frankfurt dieses gute, ein ganzes Jahr lang gereifte Güteleder unter ihren braunen Halbschuhen getragen? Wie viele tapfere thüringische Soldaten marschierten mit stramm genagelten Stiefeln aus diesem tierisch soliden und handwerklich aufwendig bearbeitetem Roh-Stoff durch das Elsaß zur Reichseinigung 1871? Wie viele schlesische Weber saßen damit an ihren ratternden Webstühlen, wie viele anhaltinische Rübenjunker stapften damit durch die Zeit und ihre altmärkischen Felder, wie viele Industriekulis standen damit bei BMW in Eisenach am Band der Geschichte und stiefelten später mit solch stabilem Rinden- und Rinderwerk in den volkeigenen Feierabend? Wie viele Barbiere haben am Leder ihre Rasierklingen gewetzt, um jahrhundertalte Bärte in knappe Stutzer zu kürzen, während der Strom der Zeit durch die Weida floß? Das weiß keiner, das geht auf keine Kuhhaut. 
 
Was wir aber wissen: Friedrich Francke war weitsichtig und geschichtssinnig genug, den historienträchtigen  Gerberbetrieb seiner Vaterstadt zu überlassen, ehe er selbst 2002 das Zeitliche segnete. Diese pflegt die Leder-Faktorei als „Technisches Schaudenkmal“, zusammen mit der ebenfalls mittlerweile  weit aus der Zeit gefallenen Wohnstube des Lederers im gleichen Haus. Und prompt ist eine Zeitreise in die Vergangenheit über vier Generationen hinweg möglich! Der kleine Elektromotor, der die vorkaiserliche Dampfmaschine unscheinbar unterstützt, macht´s möglich: Vermittels gußeinerner Schwungräder, schwerer Transmissionsriemen und offener Treibscheiben knattert und rattert der staunende Besucher in das betriebssame Arbeitsflair des vorvorletzten Jahrhunderts! 
 

Verdichtete und haltbar gemachte Geschichte, die verdichtete und handwerklich haltbar gemachte Häute zeigt, die alsdann Leder heißen. Wenige kennen den gemeinisvollen Ort, von Außen sieht das unscheinbare Fachwerk-Ensemble nur nach einer weiteren, verträumten Häuserzeile von irgendwann am Rand eines öffentlichen Raums aus, der nichts scheinen will und lieber vor sich hinträumt. Die Burg dort droben zieht doch sowieso alle Blicke auf sich ...
 
 

Sind Sie ein echter ABENTEURER? Ein Weltenbummler und Zeitenpendler? Ein den-Dingen-auf-den-Grund-Geher und Hinter-die-Kulissen-Schauer? Unerschrocken, wetter-gegerbt, mit dickem Fell und ein bißchen verwegen, einer, der mit allen Lohbrühen gewaschen ist, und dem man daher so leicht kein „made in X“ für ein handwerkliches U vormachen kann? Dann merken Sie sich also Weida, wenn Sie zum Ort Ihrer ersten Zeitreise fahren wollen und was über Handwerksgeschichte, deutsche Wertarbeit und Ledergerbung erfahren wollen. Apropos erfahren: Fast aus allen Richtungen kommend nimmt man an der Autobahn A9 in Ostthüringen die Abfahrt “Lederhose“. Und abgesehen davon: Auch sonst ist das Städtchen Weida, wo aus nicht wenigen Dächern Birken wachsen, in jeder Richtung besehen bestens geignet für eine Reise in die gute, alte Zeit …