30. März 2022
26. März 2022
10. März 2022
[Geschichte] Sensatorium
Die Spiegelkugel des ICHs
Weil sich das einfach keiner vorstellen konnte! Weil sich das einfach keiner vorstellen konnte, daß man von so was ernsthaft verrückt wird. Deswegen hat es so lang gedauert. Deswegen haben sie so lang damit weitergemacht. Es war ja auch zu seltsam – geradezu ungeheuerlich.
1996 hatten sie dieses Ding entwickelt. Einer Idee vom Mittagstisch folgend. Es wurde gebaut, etwa 2 Monate, kostete nur 7 000 Euro: weniger als gedacht. Schon während der Fertigung, oder genauer: ganz kurz danach, gab es einen kuriosen Zwischenfall. Einer der beiden Glasmechaniker, bis dato ein bodenständiger und zuverlässiger Mann, trennte sich am Ende der Produktionszeit überraschend von seiner Frau, bekam eine schwere Depression, wurde behandelt und kündigte 2 Wochen später von einem Tag auf den anderen in der Firma. Na gut, dergleichen ist eher Privatsache. Aber die beteiligten Kollegen orakelten, es habe etwas mit diesem Auftrag zu tun gehabt.
Als der erste Entwickler –
gleichzeitig Chef der Physik- und Optikabteilung des „Sensatoriums“, dem
„Abenteuerspielzeugland für Erwachsene – Neues sehen, alles neu sehen“ (so der
Werbespruch), in die Kugel trat und die Tür hinter ihm geschlossen wurde,
hörten seine Kollegen genau 15 Sekunden später einen fürchterlichen Schrei.
(Bei jedem Test stoppten die Mitarbeiter die Zeit, um herauszufinden, wie lange
sich ein Besucher an den jeweiligen
Attraktionen aufhielt.) Der Schrei klang nicht nach Genuß und begeisterter
Verzauberung. Sondern nach Verzweiflung. Sie öffneten verdutzt und erschrocken
die Luke, die kaum verschlossen gewesen war, und sahen ihren Chef bewußtlos am
Boden; hatten Mühe, ihn herauszuziehen. Er mußte gestürzt sein und sich den
Kopf angeschlagen haben – mit schlimmen Folgen. Der Mann sprach kein Wort mehr,
kein sinnvolles. Einzig „endlos, endlos“ murmelte er wieder und wieder vor sich
hin, auf dem Weg ins Krankenhaus. Wochenlang wurde er in der Nervenklinik
behandelt mit der Diagnose „postraumatische Epilepsie“, da er als Kind einmal
einen entsprechenden Anfall gehabt haben sollte. Man hielt allerdings den Sturz
für die eigentliche Ursache.
Die zuvor nur provisorisch eingelegten Matten wurden ausgetauscht und das Gerät mit neuer, tadelloser Rutschsicherung belegt, die dreimal vom TÜV geprüft wurde. Dann stellte man es in die Besucherräume. Der Gesamtdirektor und vor allem der PR-Mann wollten das neue Gerät endlich der Öffentlichkeit präsentieren; dennoch wurde es in den ersten Wochen noch nicht besonders beworben. Tatsächlich kam es in der Folgezeit zu allerhand unüblichen Vorfällen, bei denen jedoch niemand genau sagen konnte, wodurch verursacht? Manche Gäste beklagten sich über Übelkeit am Ausgang, oder besser: stürmten in die Toiletten. Man glaubte, das heiße Wetter sei die Ursache und drehte die Klimaanlage hoch. Vereinzelt lallten Leute vor sich hin; bisweilen wurden Sachen gestohlen, auch ganz wertlose. Einer der Aufseher brachte das mit dem Besuch zweier Gruppen von Lernbehinderten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Verbindung, wiewohl es mindestens an vier Tagen von mehreren Personen bemerkt wurde; man gab dennoch mit dieser Erklärung zufrieden. Oft brach zwischen Paaren und innerhalb von Familien heftiger Zwist aus. Einmal tappten Eltern völlig wortlos und scheinbar die Sprache verloren habend neben ihrem zwölfjährigen Widerborst durch das Ausgangskreuz, legten abwesend 100 Euro auf den Tresen, und waren nicht dazu zu bewegen, das Geld wieder anzunehmen. Ihr Sohn war beim Hereinkommen ein zappeliger, zorniger und hyperaktiver Streithahn gewesen, der alles anfaßte, überall zog und bog, lärmte und tobte, sich nichts sagen ließ und unentwegt quengelte. Heraus ging er still, innerlich selig und mit in die Ferne gerichtetem Blick, ohne ein einziges Wort. Nein, er ging nicht: er schwebte. Das Ereignis sorgte für Aufsehen und wurde im Aufenthaltsraum noch viele Tage besprochen; die hauseigene PR-Abteilung nahm es sogar zum Anlaß für eine Pressemeldung; darin wurde unter anderem von „beruhigender Lehrsamkeit“ des Abenteuermuseums gesprochen. Aber wiederum war keinem aufgefallen, das die neue Spiegelkugel die Ursache für die seltsame Wandlung des Jungen gewesen war. Von all dem Übel, das sich bei den in die Tausende gehenden Besuchern Stunden, Tage und Wochen nach dem Besuch des Hauses abspielte und einstellte, erfuhr hier niemand: von ungezählten kleineren Leiden wie innerer Unruhe, Magengeschwür und Nervenzusammenbruch bis zu größerem wie Krebs und Depression.
Erst als das neue Gerät, die
Spiegelkugel, einem bedeutenden Journalisten gezeigt wurde – der Mann mit
verdrehten Augen herauskam, zitternd am ganzen Leib, tonlos das Haus
verlassend, unansprechbar – fiel die Aufmerksamkeit wenig darauf endlich auf das
neue Glanzstück. Und zwar, als ein Kollege jenes Mannes nachforschte, was man mit
seinem Vorgänger gemacht und was er genau zu sehen bekommen habe? Im „Sensatorium“
erfuhr man auf diese Weise, daß jener Schreiberling, bis dato spitzfedriger
Sarkast, Nietzsche-Anhänger und gefürchteter Kritiker von allem und jedem, sich
nichts anderem mehr als Spiritualismus und persönlicher Erleuchtung widmete;
daß er milde lächelnd allem zustimmte. Sogar seiner eigenen Kündigung, die kurz
nach diesem Vorfall ausgesprochen wurde, noch dazu ohne nennenswerte Abfindung
– die ihm unbedingt nach 15 recht erfolgreichen Berufsjahren zugestanden hätte.
Die Kugel! Von außen ein Gittergestell aus lauter kurzen, blank gebürsteten Stahlträger-Oktaedern mit etwas darinnen, das diese trugen: ja richtig, einer Kugel eben. An einer Seite eine Luke, 70 mal 70, zum hineinklettern, von außen zu schließen, von innen wieder zu öffnen. Durchmesser der Kugel innen: etwa 2,90 Meter. Innen nichts als ein geschickt und äußerst unauffällig eingearbeitetes Fußgestell, eine Art Rost aus verchromten Stahlrohren mit hachdünner durchsichtiger Silikonbeschichtung: zum sicheren stehen oder sitzen, ohne zu rutschen. Sonst: Nichts! Nur makellose, lupenreine und hochfeine Verspiegelung, blitzblank und höchstglanzpoliert (in Wahrheit kein Spiegel, sondern eine auf Kunststoff aufgedampfte, hochfeste und dampfabweisende Metallegierung). Unauffällig in die Streben des Rostes auf der Unterseite leuchtende LED-Leisten eingefügt.
Man stieg in die Kugel, sie wurde
geschlossen. Und man schaute sich um. Es war hell – doch man sah nichts. Dann
wurde man wahnsinnig. Wenn man nicht genervt und unbewegt wieder ausstieg nach
höchstens einer halben Minute, auf die sich die dickhäutigeren und
stumpfsinnigeren Besucher nicht zum Mindesten besinnen konnten, nachher. Die
anderen sahen: Sich selbst! Rechts, links, oben, unten. Zehnfach, hundertfach,
tausendfach, unendlich! Vergrößert, verzerrt. Ein Universum, bestehend aus – Ich.
Einzig und allein „Ich“. Schräg, spitz, widerlich, wild, schrill, tosend,
wütend, donnernd, krachend, wirr. Erschreckt! Entsetzt! Fratzenhaft grimmassierend,
düster eingefallen, fett und schwabblig, rosa aufgedunsen, picklig und eitrig;
ohne Haare am Hinterkopf oder mit wirren grauen Kräuseln da, wo man Haare
erwartet hatte; grotesk hochgerissene Augenbrauen, irrlichternde
Augenfragmente, walzige Nasen voller Haare, gigantisch vergrößerten Warzen an
den widersinnigsten Stellen; fetten Hälsen, verdrehten Gurkbeinen und fetten,
ungelenken Hüften und Ärschen. Aber das Allerschlimmste, das
Allerentsetzlichste, das fürchterlichste Grauen war etwas anderes. Etwas, das
ein sich jeder Beschreibung entziehender Wahnsinn war, der sich wie ein
widerborstiger Stahlstachel ins innerste Hirn bohrte, spitz und dreieckig,
zuckend, unter Tausenden Volt stehend: Der unendlich blöde Gaffen tausender
Gesichter, nein, Fratzen! Widerliche Larven, peststinkenende Augenhöhlen,
unfaßbar wechselnde Figuren, in frühere menschliche Schädel mit Hautüberzug
gegossen, sich bewegend, zerfließend, die Zähne fletschend, die ekligen Münder
mit gelbfaulen Zähnen aufreißend; die sich reckenden, verdrehten Hälse. Und die
greifenden Hände! Die von allen Seiten greifenden Hände! Die abwehrenden und
zugleich zupackenden Hände mit den langen dünnen, spitzigen Fingern, die
gleichzeitig wurstig und schwülstig waren, unförmig wabernd fett, dreckig an
den verkrusteten Fingernägeln, schorfnarbig an den Hautfetzen, vergrindet und
rotztriefend. Aus allen Richtungen kommend, einen an allen Seiten packend, an
jede Stelle fassend – Millionen von grabschenden eklen Händen an Millionen
greifender, ekler Arme! Das Universum der Hölle, das Arsenal des Schreckens. Alles
gierte, alles, alles riß, alles zog und zerrte, schrie gleichzeitig aus tausend
Kehlen in tausend Ohren, den Verstand erdrückend und zerpressend, das
Bewußtsein zerhackend in millimeterkleine Fetzchen, den Geist umschlingend und
quetschend wie eine Qualle in der geschlossenen Faust, der Kopf wie in einer
Kartoffelpresse, das Gehirn in einer Passiermühle durchgedreht, das Ich
zermalmt, oder nein! Vielmehr zerrrissen und unendlich viele, winzige kleine
Teile, von denen ein jedes an einer anderen Stelle schwamm und schwirrte, jedes
in sich selbst abermals unendlich vielfach gefaltet und sich widerspiegelnd,
jedes einzelne davon wiederum denkend und sich fragend, wo es sei, wer es sei,
was es sei – und vor allem: warum es
sei? Wozu es nütze? Wer es geschaffen habe? Wo sein Anfang, wo sein Ende? Zu
was gehörend? Wovon abstammend? Wie sich jemals wieder findend, kittend,
aneinanderpuzzelnd? Ein ganzes Orchester, eine gigantische Orgie von sinnlos
aneinandergereihten Tönen plärrend, pfeifend, polternd und paukend, fiedelnd,
knarzend, zischend und zupfend, tosend; ein bestialisches Disharmonium aller
Urschreie des Universums, gebündelt in einer Satansposaune, die einem direkt an
die Ohrmuschel gehalten wurde, ja, erbarmungslos in den Gehörgang getrieben!
Und dann! Und dann! Und dann: Ein letzter Paukenschlag von so ungeheuerlichem, dimensionslosem Ausmaß, daß jedes Trommelfell zerriß, bevor er überhaupt richtig angeklungen hatte. So unbeschreiblich laut, daß alles dagegen verstummen mußte, ein jedes Ding Form und Inhalt verlor, sämtliche Farben erloschen und jeglicher Sinn verschwamm.
Dann – Stille.
Dann – Seligkeit.
Dann – Ende …
18. Februar 2022
[Gedicht] Das Gewand
Das Gewand
I.
Matt kritzelt und bläut das Pergament
der trockene Stift. Dann sinken die Händ´.
Es glimmet die Glut, das Holz duftet mild,
es hüllt mich die Wärme; dort draußen stürmt´s wild.
Da prasselt der Regen, es peitschet der Ast;
es fauchet der Wind. Hier Ruhe – dort Hast.
Drin ruh´n die Gedanken und schlummert das Herz. –
Wie´s Schwere grad leicht wird flammt unruhig die Kerz´.
Ein düsterer Meister mit glühendem Blick
stampft draußen durchs Tor mit grausiger Krück!
Es schmerzt mir im Haupte, so still wird´s darin.
Die Zeiger, sie stehen, von Uhr und von Sinn.
Dann poltert die Pforte: „Öffnet! Laßt ein!
Seid nimmer gelitten im widrigen Sein!“
Ich schwanke zur Tür, urgräßlich die Pein.
Ein torfiger Schwall von lebend´ Gebein!
Der Richter der Zeiten im ruhlosen Punsch
des Lebens haucht gnädig: „Dein letzter Wunsch?“
II.
Ich forsche nach Wissen – verwunschen der Tand!
Gepauktes, Gewußtes zerrieseln wie Sand.
Gefühl, liegst auch wund? Unstetiger Schund?
Tust auch mir nichts kund nun zur letzten Stund`?
Adé ... Muß ich weichen zur ewigen Ruh´?
Wer sollt´ sie betrauern: die eicherne Truh´?
Vergossen die Tränen, verflossen das Sehnen;
dahin fällt der Sturmdrang mit wehenden Mähnen.
Vernarbt schon die Ritzen von spitziger Kuf´.
Wes´ Geist konnt´s erhitzen, wenn Paroli geboten,
und „Kontra!“ der Ruf?
Vergilbet die Seiten! Verhallet das Wort!
Verklungen die Saiten! Verlassen der Ort …
III.
Da blitzt der Gedanke durchs müdige Hirn:
Dicht´ selbst die Geschichte, biet´ letztmals die Stirn!
„Laßt mich jene Zeilen noch schreiben zu Ende!
Auf daß man den Schluß auch geschlossen fände.“
Es nickt die Kapuze. Ich eile zum Pult.
Führ´ hastig den Griffel und buhl um Geduld …
IV.
Der Dichter entrücket, das Nachtgeleucht sinkt;
helldämmernd die Feder den Morgen erzwingt.
Neu fliegen die Rosse, ein Reiter mit Schild
im feurigen Wagen: welch kraftvolles Bild!
Die Nebel entfliehen, Vulcano tobt aus
das innerste Leben; ergötze Dich – schau´s!
Gefall´ner schleicht dunkel hinab von der Bühne –
im nächsten Akt ist er schon Hagen, der Hüne.
Im Graben braust´s auf –
wie´s war und gewesen,
was ist und wie´s komme
ist nun hier zu lesen.
V.
Und wie die Feder das erste Mal fällt –
die Glocke schon nach Acht hin schellt –
ist Niemandsfreund weg,
der´s Dasein vergällt!
Allein an der Wand
hängt noch sein Gewand,
als ob sich´s im Zimmer gefällt;
dem Zweifel die Treue hält ...
Mit Hast und voll Argwohn
rauscht´s in den Kamin.
Gebannt
schau ich hin:
Da stieben die Funken und hinauf durch den Schlot
entfleuchet ein Rauchpilz, dann löschet der Kien,
die Scheitkohle sackt, und das Feuer ist tot!
Versuch´s zu zerknüllen, zerfetzen, zerschneiden
das üble Gewirk; und kann´s doch nicht meiden!
Da packt mich die Wut, nun muß ich es wagen:
Ich krempel es auf und pack es am Kragen
und schwing´s mir kühn um!
VI.
Es schlägt mir das Herz, ich fühl mich gesunden;
der Geist wird freier denn je.
Sowie vom Sichtkreis ist verschwunden
der Rock ist ferne jedes Weh.
So hüll ich´s mir enger,
tret´ fest in den Wald.
Von Ferne ein klapperndes
Frieren erschallt.

