27. April 2022

26. April 2022

[Reportage] 180 Meter unter dem Kyffhäuser!

 

Vom Geist Barbarossas und Kaiser Wilhelms Glanzstücken, vom tiefsten Burgbrunnen der Welt und dessen ungelüftetem Geheimnis. Eine Reportage aus dem ungeheuren Schlund des Kyffhäusers.

Das eherne Nationalheiligtum in der Mitte Deutschlands: Der markante und wuchtige Bau des Kyffhäuserdenkmals reckt sich 81 Meter in den Himmel, weithin ist er sichtbar. Hunderttausende standen im Lauf der letzten hundert Jahre schon oben unter der fürstlichen Krone und blickten auf die Goldene Aue hinab, fern zum Brocken hin, zur markanten Abraumhalde Hohe Linde hinüber bei Sangerhausen; auf Finne und Schmücke, zum Fernsehturm auf dem benachbarten Kulpenberg. Geradezu unsichtbar dagegen ist der sagenhafte Wasserschacht direkt nebenan auf dem Felsenplateau, der immerhin mehr als doppelt so tief ist: 180 Meter! Der tiefste Burgbrunnen der Welt. Wer traut sich da hinunter, wie wenige waren es insgesamt? Vielleicht zwei Handvoll im Laufe eines ganzen Jahrtausends? Und 180 Höhen- oder Tiefenmeter, wie stellt man sich das am besten im Vergleich vor? Das ist beispielsweise so hoch wie heute die höchsten deutschen Windräder an der Spitze ihrer Propellerblätter, oder auch fast so hoch wie die Besucherplattform des Berliner Fernsehturms! (Nur ist der unten 42 Meter breit, und der Turmschaft selbst oben immerhin noch an die 9 Meter im Durchmesser; dieser Höllenhals hier dagegen unten nur gute zwei Meter – und oben genauso. Geradezu eine Nadel!

Die eigentliche „Befahrung“ – wie der Bergmann sagt – dauert für mich nur etwa eine dreiviertel Stunde. Von der Idee dazu bis zur Tat dagegen vergingen etwa vier Jahre. Dazwischen lagen langer Atem, etliche Telefonanrufe, eine einwöchige Industrieklettererausbildung, der papierreiche Abschluß einer speziellen Berufsgenossenschaftsversicherung, eine umfängliche Haftungsfreistellungs-Erklärung und nicht zuletzt zwei alles in allem ziemlich dürre Corona-Jahre. Und wie eigentlich immer: Das alles wäre nicht nötig gewesen. Es genügt nämlich in der Praxis eines: Mut! 

Den habe ich offenbar – oder jedenfalls keine Angst. Würden Sie Angst haben, auf eine knapp einen Quadratmeter kleine, schaukelnde Aluminiumplattform mit Geländer zu steigen, die über den Brunnenrand bugsiert wird, dann an einem endlos langen Stahlseil knapp 180 Meter über der Tiefe baumelt, und dann rund 15 Minuten hinabgondelt in die geräuschtote, doch hallige Finsternis? Während oben einer am Brunnenrand mit der Fernbedienung den Kran professionell steuert (hoffentlich!), und der zweite Mann im Korb immer mal wieder mit seinen Händen das Metallgehäuse von der Wandung wegdrückt oder etwas eindreht? Während es einerseits stiller und stiller wird, weil die Außenwelt nach oben verschwindet, der Berg einen nach und nach verschluckt wie ein Riese, der sich einen guten Happen genüßlich in den Schlund gleiten läßt – und es andererseits immer mal wieder tüchtig rumpelt und poltert, wenn das schaukelnde Kabinchen oder der darunter angehängte Steinekorb an den Felsen donnernd anschlägt? Während das bißchen Tageslicht, welches überhaupt an der Brunnenhaube vorbei hineindringt, hoch droben verschwindet, und das anfangs saftiggrüne Moos rundum kärglicher wird, und bald nur noch der nackte, tote Sandsteinfelsen mit seinen roten Klüften von allen Seiten hineingafft, und unten die Tiefe gähnt?

Ach was, alles übertrieben! Die Handwerkstüftler der Erfurter Spezialfima Bennert machen das seit über 20 Jahren durchschnittlich zweimal im Jahr, alles Routine. Autokran anfahren und 18 Meter neben dem Brunnen aufstellen, Schutzgitter über dem Brunnen abschrauben und beiseite legen, eine Klappe in der Brunnenhaube entfernen, Seil durchfädeln, Plattform anhängen. Einsteigen – los geht’s! So ungefähr, so theoretisch. In Wirklichkeit kommen eine Menge Nebenhandgriffe dazu, dann das Ausbessern an manchem Schalter und manchem Draht, des Reparieren schadhafter Holzstellen, Prüfen von Leitungen, Abschleifen einiger Metallteile und mehr. Doch das alles ist ja nicht der eigentliche Zweck! Nein, es geht um etwas viel Grundlegenderes, im wahrsten Wortsinne: All die Steinchen, welche Besucher im Laufe der Saison in den Brunnen werfen, wieder hinaufzuholen! Damit der ungeheuerliche Bergrachen, der erst in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder freigelegt wurde, nicht  allmählich wieder zukieselt. Und das Ganze hat wahrhaft gründliches deutsches System: Die normierten Sandsteinmurmeln kauft der erlebnishungrige Amateurbrunnenforscher und Tourist am Automat neben dem Mundloch für einen Euro, und läßt ihn durch ein eigens dafür angebrachtes Rohr zielgenau in die Tiefe des Schachts fallen.   
 
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … etliche Sekunden vergehen, bis unten der winzige, helle Fleck verschwindet, weil die Wellen des aufschlagenden Felsbällchens die Lichtstrahlen des starken Scheinwerfers am oberen Rand brechen und in alle Richtungen verteilen. Unterdessen hat der schwindlige Hineinschauer aber das Zählen vielleicht schon vergessen, weil der hiesige Brunnengeist mit tiefer, schauriger Stimme aus der Tiefe herauf drohend poltert: „Was bewirfst Du mich, Elender? Gleich komme ich hinauf und ziehe Dir die Ohren so lang, daß Du sie als Hosenträger nutzen kannst!“. Ja, er hat schon Witz, der sprachgewaltige Wassertroll, und donnert einem auch jedesmal was anderes um die Ohren. Vieltausend Steinchen purzeln so hinab, und ebenso viele müssen dann wieder an die Oberfläche bugsiert werden. Unten haben die Bennert-Männer nämlich rundum ein Fanggitter angebracht, welches alles Hereinfallende listigerweise zur Mitte in einen unter der Wasserlinie hängenden Stahlkorb eintrichtert. Und den hängt  Frank Sieglitz, der jedesmal furchtlos in die Tiefe fahren darf (oder muß!), an seine schaukelnde Plattform. Dann geht’s wieder hoch, und der Kübel wird mühsam seitlich gekippt und ausgeschaufelt. Und nun eitel Freude auch bei den anderen beiden Beteiligten!

Auch Kranfahrer Roland Schmidt und Organisator Ralf Schwenkenbecher freuen sich jedesmal ein bißchen (freilich ohne es offen zuzugeben), denn zwischen den vielen Schmodderkieseln finden sich noch allemal etliche Handvoll kleine und mittlere Münzlein, die zu finden und zu begutachten deutlich mehr Entdeckerfreude macht, als den nebenstehenden Steinchen-Selbstverkäufer mit dem schnöden Mammon zu leeren – auch wenn Letzteres deutlicher ergiebiger ist. Und obwohl das Schwarzgeld, zumindest hier, wirklich stinkt! Nach Schlamm und Faulgasen. 
 
Aber ist vielleicht doch ein ungewöhnliches Kupferstück dabei oder ein seltener Silberling? Nein, diesmal nicht, aber dafür ein blinkender Ring. Und ein geheimnisvoll irisierender Glaskiesel. Die Aberdutzenden Centstücke, einige Groschen, Fünfziger und negriden Euros sind dagegen ziemlich unansehnlich. 

Macht nichts, die werden dann zu Hause, im Firmengelände bei Erfurt, eh noch geduscht. Oder vielmehr mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt, ebenso wie vor allem die Steinchen. Denn die guten kommen ins Töpfchen, zur Wiederverwertung und Weiternutzung. Die schlechten werden durch neue ersetzt. Immerhin sind sie tatsächlich aus echtem, roten Kyffhäusergestein.

Als der Brunnen vor 900 Jahren gegraben wurde, ging´s zweifellos beschwerlicher und vor allem langsamer zu. Waren es Profikumpel, die sich auf der Reichsburg zu Zeiten des Stauferkaisers Barbarossas händisch in die Tiefe buddelten, über 40 Jahre lang, von 1140 bis 1180? Ein ganzes Hauerleben lang also? Oder waren es vielleicht eher Zuchthäusler, die hier schuften mußten, im Schein von rußigen Kienspänen und „Fröschen“, uralten einfachen Talglämpchen, womöglich tage- oder wochenlang unten am Grund, jeden Tag ein kleines Stückchen tiefer, und die nur selten das Tageslicht wiedersahen, oder nimmermehr? Es fällt der Einbildungskraft leicht, sich üble und beängstigende Geschichten auszumalen: Auf Holzgerüsten und wackligen Leiterfahrten absteigen, 10 Stunden lang im Düstern am Grund auf Knien pickern oder schwere Steinsäcke auf dem Rücken hochbuckeln, irgendwann dazwischen einen Kanten Brot und eine Kruke Wasser. Im besten Fall dann erschöpft und müde hochkraxeln, mit je noch einer zentnerschweren Holzkiepe voller Sandsteinklamotten auf dem Rücken hinauf zum Schichtende; im schlechteren Fall unten bei Feuchte und Kühle im Dunklen übernachten müssen auf einer Handvoll Lumpen, womöglich nach Belieben und Tagesform der Schildwache? Wie viele mögen abgestürzt sein oder ihr Leben eingebüßt haben durch herabfallende Felsbrocken?

Und wie war das 1934, als der Brunnen nach jahrhundertelanger Verschüttung innert dreier Jahre mühselig erneut ausgebuddelt wurde, von den Männern beim Reichsarbeitsdienst? Knufften sie freiwillig für ein paar harte Reichsmark und vielleicht mit einer gewissen Wiederentdeckerfreude – denn immerhin kann man ja schon einiges erwarten in all dem Schutt, der in Hunderten von Burgjahren so in einem Brunnen verschwindet – oder plagten sie sich auch eher zwangsweise bei schmalem Taler und dünner Suppe? Immerhin, elektrisches Geleucht gab es da längst, und die robusten und hellen Stirnlampen der weltberühmten Zwickauer Firma „Fricke und Wolf“ leuchteten schon an etlichen Hauerhelmen – längst geradezu Sinnbild des Bergmanns, neben Schlegel und Eisen.

Trotzdem liegt hier vieles in der dunklen Tiefe der (Ge-)Schichten. Eines aber steht fest, ebenso fest wie das monumentale Bauwerk zum Ruhme des zweiten deutschen Reiches nebenan: Der Brunnen birgt heute noch, oder wieder, ein solides Geheimnis. Das Geheimnis eines Schatzes nämlich! Nein, geheim ist eigentlich weder die Sache noch der Schatz selbst: Es existiert ja sogar eine genaue Aufstellung jener Effekten, die hier zum Kriegsende „in einem zugeschnürten Stoffbeutel“ versenkt wurden aus Furcht vor plündernden Siegersoldaten. Dazu sollen unter anderem drei kostbare Jagdflinten und ebenso viele, immerhin mit Brillanten besetzte Schwerter gehören, die das seinerzeitige Staatsoberhaupt, Kaiser Wilhelm, von ausländischen Diplomaten geschenkt bekommen haben soll. Ferner tatsächlich Geschmeide und Schmuck aus purem Gold. Diese Dinge lagerten hier damals wohl bereits seit einiger Zeit, wahlweise versteckt oder auch teilweise museal ausgestellt, als „der Russe vor der Tür stand“ (mal wieder, ja, ja) – wie man so munkelt … 

Gemunkel her oder hin, versenkt wurden die Sachen, und gesucht wurde auch danach. Vor 7 Jahren erst, 2015, viele Tage lang. Großer Kran, Spezialpumpen, Wasser rauf, Männer runter, kubikmeterweise Schutt und Schlamm wieder rauf. „Wir konnten anhand der gefundenen Münzen zeitlich klar die Schlamm- und Zeitschichten einteilen“, erinnert sich Frank Sieglitz, der am Grund schaufelte und schuftete, in Wathose und Gummistiefeln. „Schließlich waren wir gerade fast in der Kriegsszeit angekommen, da wurde die Aktion gestoppt. Ich bin ziemlich sicher, nur wenig später hätten wir den Schatz gefunden!“   

Und warum wurde, beim Klabauterbergmann!, die Findungsaktion dann abgebrochen? Lag es an dem Fund einer Panzergranate, wie Sieglitz vermutet, der den finsteren Brunnen bei der Gelegenheit gute vier Meter tiefer ausgeschaufelt hat? Oder lag es daran, das den beteiligten Firmen Geld und Geduld ausgingen? Oder lag es an Unstimmigkeiten zwischen den Spezialisten für die Tiefe des Berges und einem Initiator der Schatzsuche, dem Spezialisten für die Tiefe des Ozeans: dem Meeresbiologen Professor Hans Fricke? Oder daran, daß man bereits etwas gefunden hatte – und sich damit zufrieden gab? Ein zugeschnürter Beutel wurde nämlich tatsächlich gefunden, mit einigen schmucken Dingen wie einem kleinen (Dorf-) Prinzessinnenkrönchen darin, und manch geschichtlichem Tand, der heute im Denkmalmuseum nebenan ausgestellt ist. Tand? Nun, der Beutel war dummerweise eindeutig aus Dederon, also aus robuster DDR-Synthesefaser, und die Dinge schon deswegen wasserklar nicht die eigentlich Gesuchten aus des Regenten Epoche. (Wenn, ja wenn es denn bei allen Beteiligten zu allen Zeiten mit rechten Dingen zuging. Aber wer würde dafür seine Hand schon ins Feuer legen, oder seine Füße in den kalten Brunnensumpf stellen?)

Der schwere und starke Magnet, den ich mit hinabgenommen habe, um irgend etwas herauszufischen aus möglichst alten Jahrhunderten, zieht leider auch nichts ans Licht der Taschenlampe. Herabgelassen an einer dünnen Schnur, nur wenige Meter über dem Wasserspiegel hängend, dringt er nicht durch das Edelmetallgitter und den unten vertäuten Fangkorb. Natürlich nicht. Da müßte man schon mal eine neue, wahrlich gründlichere Suche starten mit Ausbau dieser ganzen Neuzeit-Technik. Doch wer investiert dafür und für die alten, nassen Büchsen noch mal sein trockenes Pulver? Immerhin, einen anderen Schatz, der auf lange Sicht wahrscheinlich viel nützlicher ist, konnte ich dann doch mit heraufziehen. Eine gute Wasserprobe, zunächst ebenfalls an der Schnur in einer Bügelverschlußflasche weit unten eingefüllt. Ganz hervorragend ist das Tiefenwasser, wenngleich nach all dem Korb-Auf-und-Abgewühle  momentan von leicht erdigem Geschmack. Sauberes, glasklares Bergquell- oder Brunnenwasser notfalls reichlich vorrätig zu haben – ist das denn nicht gut zu wissen, für künftige Durststrecken gleich welcher Art? Oder als etwaiges Mitbringsel aus dem tiefsten Burgbrunnen der Welt, für Touristen aus aller Welt? Zweifellos mit dem guten Geist Kaiser Barbarossas wird es wohl durchtränkt sein, der doch irgendwo dort drunten im Bauch des Berges noch immer harrt auf bessere Zeiten in deutschen Landen … 


 

 

6. April 2022

[Kurzfilm] Verlassen im Bergwerk!

Drei junge Leute riskieren nach einem spannenden Kinofilmerlebnis selbst ein kleines Abenteuer an einem „lost place“ – und bezahlen dafür ordentlich, wenn auch keinen Eintritt … Der besondere Kurzfilm! SUJET: Klaustrophobie. ORT: Aufgegebenes Bergwerk. HANDLUNG: Realitätsnah & unangenehm authentisch. Beim Bundesfilmfest preisgekrönt.

Zechstein - der spannende Kurzfilm von Tobias Mindner und Karsten Köhler

26. März 2022

10. März 2022

[Geschichte] Sensatorium

 

 

Die Spiegelkugel des ICHs

 

Weil sich das einfach keiner vorstellen konnte! Weil sich das einfach keiner vorstellen konnte, daß man von so was ernsthaft verrückt wird. Deswegen hat es so lang gedauert. Deswegen haben sie so lang damit weitergemacht. Es war ja auch zu seltsam – geradezu ungeheuerlich.

1996 hatten sie dieses Ding entwickelt. Einer Idee vom Mittagstisch folgend. Es wurde gebaut, etwa 2 Monate, kostete nur 7 000 Euro: weniger als gedacht. Schon während der Fertigung, oder genauer: ganz kurz danach, gab es einen kuriosen Zwischenfall. Einer der beiden Glasmechaniker, bis dato ein bodenständiger und zuverlässiger Mann, trennte sich am Ende der Produktionszeit überraschend von seiner Frau, bekam eine schwere Depression, wurde behandelt und kündigte 2 Wochen später von einem Tag auf den anderen in der Firma. Na gut, dergleichen ist eher Privatsache. Aber die beteiligten Kollegen orakelten, es habe etwas mit diesem Auftrag zu tun gehabt.

Als der erste Entwickler – gleichzeitig Chef der Physik- und Optikabteilung des „Sensatoriums“, dem „Abenteuerspielzeugland für Erwachsene – Neues sehen, alles neu sehen“ (so der Werbespruch), in die Kugel trat und die Tür hinter ihm geschlossen wurde, hörten seine Kollegen genau 15 Sekunden später einen fürchterlichen Schrei. (Bei jedem Test stoppten die Mitarbeiter die Zeit, um herauszufinden, wie lange sich  ein Besucher an den jeweiligen Attraktionen aufhielt.) Der Schrei klang nicht nach Genuß und begeisterter Verzauberung. Sondern nach Verzweiflung. Sie öffneten verdutzt und erschrocken die Luke, die kaum verschlossen gewesen war, und sahen ihren Chef bewußtlos am Boden; hatten Mühe, ihn herauszuziehen. Er mußte gestürzt sein und sich den Kopf angeschlagen haben – mit schlimmen Folgen. Der Mann sprach kein Wort mehr, kein sinnvolles. Einzig „endlos, endlos“ murmelte er wieder und wieder vor sich hin, auf dem Weg ins Krankenhaus. Wochenlang wurde er in der Nervenklinik behandelt mit der Diagnose „postraumatische Epilepsie“, da er als Kind einmal einen entsprechenden Anfall gehabt haben sollte. Man hielt allerdings den Sturz für die eigentliche Ursache.

Die zuvor nur provisorisch eingelegten Matten wurden ausgetauscht und das Gerät mit neuer, tadelloser Rutschsicherung belegt, die dreimal vom TÜV geprüft wurde. Dann stellte man es in die Besucherräume. Der Gesamtdirektor und vor allem der PR-Mann wollten das neue Gerät endlich der Öffentlichkeit präsentieren; dennoch wurde es in den ersten Wochen noch nicht besonders beworben. Tatsächlich kam es in der Folgezeit zu allerhand unüblichen Vorfällen, bei denen jedoch niemand genau sagen konnte, wodurch verursacht? Manche Gäste beklagten sich über Übelkeit am Ausgang, oder besser: stürmten in die Toiletten. Man glaubte, das heiße Wetter sei die Ursache und drehte die Klimaanlage hoch. Vereinzelt lallten Leute vor sich hin; bisweilen wurden Sachen gestohlen, auch ganz wertlose. Einer der Aufseher brachte das mit dem Besuch zweier Gruppen von Lernbehinderten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Verbindung, wiewohl es mindestens an vier Tagen von mehreren Personen bemerkt wurde; man gab dennoch mit dieser Erklärung zufrieden. Oft brach zwischen Paaren und innerhalb von Familien heftiger Zwist aus. Einmal tappten Eltern völlig wortlos und scheinbar die Sprache verloren habend neben ihrem zwölfjährigen Widerborst durch das Ausgangskreuz, legten abwesend 100 Euro auf den Tresen, und waren nicht dazu zu bewegen, das Geld wieder anzunehmen. Ihr Sohn war beim Hereinkommen ein zappeliger, zorniger und hyperaktiver Streithahn gewesen, der alles anfaßte, überall zog und bog, lärmte und tobte, sich nichts sagen ließ und unentwegt quengelte. Heraus ging er still, innerlich selig und mit in die Ferne gerichtetem Blick, ohne ein einziges Wort. Nein, er ging nicht: er schwebte. Das Ereignis sorgte für Aufsehen und wurde im Aufenthaltsraum noch viele Tage besprochen; die hauseigene PR-Abteilung nahm es sogar zum Anlaß für eine Pressemeldung; darin wurde unter anderem von „beruhigender Lehrsamkeit“ des Abenteuermuseums gesprochen. Aber wiederum war keinem aufgefallen, das die neue Spiegelkugel die Ursache für die seltsame Wandlung des Jungen gewesen war. Von all dem Übel, das sich bei den in die Tausende gehenden Besuchern Stunden, Tage und Wochen nach dem Besuch des Hauses abspielte und einstellte, erfuhr hier niemand: von ungezählten kleineren Leiden wie innerer Unruhe, Magengeschwür und Nervenzusammenbruch bis zu größerem wie Krebs und Depression.

Erst als das neue Gerät, die Spiegelkugel, einem bedeutenden Journalisten gezeigt wurde – der Mann mit verdrehten Augen herauskam, zitternd am ganzen Leib, tonlos das Haus verlassend, unansprechbar – fiel die Aufmerksamkeit wenig darauf endlich auf das neue Glanzstück. Und zwar, als ein Kollege jenes Mannes nachforschte, was man mit seinem Vorgänger gemacht und was er genau zu sehen bekommen habe? Im „Sensatorium“ erfuhr man auf diese Weise, daß jener Schreiberling, bis dato spitzfedriger Sarkast, Nietzsche-Anhänger und gefürchteter Kritiker von allem und jedem, sich nichts anderem mehr als Spiritualismus und persönlicher Erleuchtung widmete; daß er milde lächelnd allem zustimmte. Sogar seiner eigenen Kündigung, die kurz nach diesem Vorfall ausgesprochen wurde, noch dazu ohne nennenswerte Abfindung – die ihm unbedingt nach 15 recht erfolgreichen Berufsjahren zugestanden hätte.

Die Kugel! Von außen ein Gittergestell aus lauter kurzen, blank gebürsteten Stahlträger-Oktaedern mit etwas darinnen, das diese trugen: ja richtig, einer Kugel eben. An einer Seite eine Luke, 70 mal 70, zum hineinklettern, von außen zu schließen, von innen wieder zu öffnen. Durchmesser der Kugel innen: etwa 2,90 Meter. Innen nichts als ein geschickt und äußerst unauffällig eingearbeitetes Fußgestell, eine Art Rost aus verchromten Stahlrohren mit hachdünner durchsichtiger Silikonbeschichtung: zum sicheren stehen oder sitzen, ohne zu rutschen. Sonst: Nichts! Nur makellose, lupenreine und hochfeine Verspiegelung, blitzblank und höchstglanzpoliert (in Wahrheit kein Spiegel, sondern eine auf Kunststoff aufgedampfte, hochfeste und dampfabweisende Metallegierung). Unauffällig in die Streben des Rostes auf der Unterseite leuchtende LED-Leisten eingefügt.

Man stieg in die Kugel, sie wurde geschlossen. Und man schaute sich um. Es war hell – doch man sah nichts. Dann wurde man wahnsinnig. Wenn man nicht genervt und unbewegt wieder ausstieg nach höchstens einer halben Minute, auf die sich die dickhäutigeren und stumpfsinnigeren Besucher nicht zum Mindesten besinnen konnten, nachher. Die anderen sahen: Sich selbst! Rechts, links, oben, unten. Zehnfach, hundertfach, tausendfach, unendlich! Vergrößert, verzerrt. Ein Universum, bestehend aus – Ich. Einzig und allein „Ich“. Schräg, spitz, widerlich, wild, schrill, tosend, wütend, donnernd, krachend, wirr. Erschreckt! Entsetzt! Fratzenhaft grimmassierend, düster eingefallen, fett und schwabblig, rosa aufgedunsen, picklig und eitrig; ohne Haare am Hinterkopf oder mit wirren grauen Kräuseln da, wo man Haare erwartet hatte; grotesk hochgerissene Augenbrauen, irrlichternde Augenfragmente, walzige Nasen voller Haare, gigantisch vergrößerten Warzen an den widersinnigsten Stellen; fetten Hälsen, verdrehten Gurkbeinen und fetten, ungelenken Hüften und Ärschen. Aber das Allerschlimmste, das Allerentsetzlichste, das fürchterlichste Grauen war etwas anderes. Etwas, das ein sich jeder Beschreibung entziehender Wahnsinn war, der sich wie ein widerborstiger Stahlstachel ins innerste Hirn bohrte, spitz und dreieckig, zuckend, unter Tausenden Volt stehend: Der unendlich blöde Gaffen tausender Gesichter, nein, Fratzen! Widerliche Larven, peststinkenende Augenhöhlen, unfaßbar wechselnde Figuren, in frühere menschliche Schädel mit Hautüberzug gegossen, sich bewegend, zerfließend, die Zähne fletschend, die ekligen Münder mit gelbfaulen Zähnen aufreißend; die sich reckenden, verdrehten Hälse. Und die greifenden Hände! Die von allen Seiten greifenden Hände! Die abwehrenden und zugleich zupackenden Hände mit den langen dünnen, spitzigen Fingern, die gleichzeitig wurstig und schwülstig waren, unförmig wabernd fett, dreckig an den verkrusteten Fingernägeln, schorfnarbig an den Hautfetzen, vergrindet und rotztriefend. Aus allen Richtungen kommend, einen an allen Seiten packend, an jede Stelle fassend – Millionen von grabschenden eklen Händen an Millionen greifender, ekler Arme! Das Universum der Hölle, das Arsenal des Schreckens. Alles gierte, alles, alles riß, alles zog und zerrte, schrie gleichzeitig aus tausend Kehlen in tausend Ohren, den Verstand erdrückend und zerpressend, das Bewußtsein zerhackend in millimeterkleine Fetzchen, den Geist umschlingend und quetschend wie eine Qualle in der geschlossenen Faust, der Kopf wie in einer Kartoffelpresse, das Gehirn in einer Passiermühle durchgedreht, das Ich zermalmt, oder nein! Vielmehr zerrrissen und unendlich viele, winzige kleine Teile, von denen ein jedes an einer anderen Stelle schwamm und schwirrte, jedes in sich selbst abermals unendlich vielfach gefaltet und sich widerspiegelnd, jedes einzelne davon wiederum denkend und sich fragend, wo es sei, wer es sei, was es sei – und vor allem: warum es sei? Wozu es nütze? Wer es geschaffen habe? Wo sein Anfang, wo sein Ende? Zu was gehörend? Wovon abstammend? Wie sich jemals wieder findend, kittend, aneinanderpuzzelnd? Ein ganzes Orchester, eine gigantische Orgie von sinnlos aneinandergereihten Tönen plärrend, pfeifend, polternd und paukend, fiedelnd, knarzend, zischend und zupfend, tosend; ein bestialisches Disharmonium aller Urschreie des Universums, gebündelt in einer Satansposaune, die einem direkt an die Ohrmuschel gehalten wurde, ja, erbarmungslos in den Gehörgang getrieben!

Und dann! Und dann! Und dann: Ein letzter Paukenschlag von so ungeheuerlichem, dimensionslosem Ausmaß, daß jedes Trommelfell zerriß, bevor er überhaupt richtig angeklungen hatte. So unbeschreiblich laut, daß alles dagegen verstummen mußte, ein jedes Ding Form und Inhalt verlor, sämtliche Farben erloschen und jeglicher Sinn verschwamm.

Dann – Stille.

Dann – Seligkeit.

Dann – Ende …