29. April 2018

[Erzählung] Das Geschenk


Das Geschenk 

Der Mann erzählte viel. Viel erzählte er. Er erzählte viel, und nur von seiner Frau. Hier läge sie, und er komme seit zwei Jahren täglich her. Nicht einen Tag habe er ausgelassen.
„Hier?“, fragte ich überrascht, denn wir waren inmitten eines schönen Waldes. Ja, das sei doch der Friedwald. Der Wald, wo man die Asche der Verstorbenen verstreue, anstelle des Friedhofs.

Nach meinem Erkennen kam er gleich wieder auf sein Thema zurück. Was er und seine Verschiedene früher alles miteinander getan hätten. Was für ein schönes Lachen sie gehabt habe. Die schönen Haare, die dunklen Locken. Welche Sanftmut ihr eigen gewesen sei und doch auch Esprit. Wie liebevoll sie mit ihm umgegangen sei, und wie liebevoll er mit ihr. Was für eine wunderbare Frau sie gewesen sei. Und dann, einfach weggegangen sei sie von ihm, am Ende der bösen Krankheit – mußte ihn alleinlassen, nichts habe man tun können, auch er nicht …

Er hob seine verstorbene Frau und seine Zeit mit ihr in den Himmel, in seinen Gedanken und mit seinen Worten. Von Einsamkeit und Niedergeschlagenheit sprach er nicht. Dafür war er zu vornehm, mit seiner Trauer wollte er niemanden behelligen. Nicht mit Worten jedenfalls. Doch seine Haltung, die Sprechweise, seine vage Ideenflucht sprachen rege, und die Augen erzählten alles.
„Wollen Sie weiter trauern?“, frage ich sanft. Irritiert unterbrach er seine Geschichten. Am seinem Blick erkannte ich eine schwache Hoffnung auf ein Ende des Leids, vielleicht nur ein zartes Interesse der Überraschung.
„Wenn sie Jemandem etwas schenken, das sie in Ruhe und mit Sorgfalt ausgesucht oder gefertigt haben: Welche Reaktion wünschen sie sich vom Beschenkten? Sie hoffen, daß er sich freut – damit sie sich mitfreuen können, nicht?“
„Ja … ja.“

„Viele Jahre lang war deine Frau für dich da. Teilte Freud und Leid mit dir, gab sich dir hin. Ist das nicht das größte Geschenk, das ein Mensch einem anderen bereiten kann?“ Er nickte stumm.

„Doch es gibt noch ein größeres Geschenk. Dazu braucht man alles an Liebe, was man in sich tragen kann. Es kostet viel Mühe und Kraft, völlige Selbstlosigkeit, und absolutes Vertrauen in den anderen. Indem deine Frau von dir gegangen ist, hat sie dir dieses größte aller Geschenke gemacht. Die Gabe, das Loslassen lernen zu können. Das Loslassen des Geliebten. Die schwerste Übung von allen! Jemandem zeigen, daß er auf eigenen Beinen stehen kann, für sich allein völlig glücklich sein kann. Und etwas einfach annehmen kann ...“

Er schaute zu Boden, ich folgte seinem Blick. Wir schwiegen einen Moment.

„Sieh, mein Lieber, dir hat sie dieses Geschenk gemacht, und hat das Höchste dafür gegeben. Nimm es in Liebe an. Öffne es. Würdige es. Indem Du es würdigst, es wertschätzt, dich daran freust, ehrst du die Liebe zu ihr noch mehr als mit deiner Trauer.“