2. Mai 2018

[Tagebuchnotizen WK II] "Tretet den Ausländern in den Arsch ..."



Der Zweite Weltkrieg aus der unmittelbaren Sicht eines betroffenen Familienvaters
(Dipl.-Ing. Heinz Mendrin, Gotha, 1908-2004) - Tagebucheinträge aus der Zeit

[Einige Anmerkungen für Historiker/Wissenschaftler/Interessierte 
am Schluß, detailliertere bei MEDFUX auf Nachfrage. - Die Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Sohn Dr. Gerd Mendrin aus dem Jahr 2010, Chronist in Thüringen. Einige wichtige Namen sind aus Datenschutzgründen nachträglich geändert oder abgekürzt.]

20.9.1939
Inzwischen haben wir Krieg bekommen. Außer den Unbequemlichkeiten der Verdunkelung und der Kartenwirtschaft und daß ich nun viel mehr arbeiten muß, merken wir eigentlich recht wenig vom Krieg. [Verdunkelung: Alle Fenster mussten nachts mit vollkommen lichtdicht schließenden Rollos so versehen sein, so dass kein Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Da natürlich auch keine Straßenbeleuchtung brannte, war es beim Fehlen von Mondschein stockdunkel draußen. Auf diese Weise sollte es feindlichen Bombern unmöglich gemacht werden, in der Nacht die Städte zu finden. Damit sich Passanten auf der Straße gegenseitig erkennen konnten, gab es Leuchtplaketten zum Anstecken, die nach vorheriger Belichtung so leuchteten, dass man sie auf wenige Meter Entfernung gerade erkennen konnte. – Kartenwirtschaft: Lebensmittel und Kohlen wurden rationiert, und dies war so organisiert, dass jede Familie monatlich Lebensmittelkarten erhielt, auf denen einzelne Abschnitte (Marken) für Brot, Fett, Zucker usw. mit einer aufgedruckten Mengenangabe waren, die dann beim Einkauf vom Verkäufer abgeschnitten und einbehalten wurden. Es gab Karten verschiedener Gruppen: Schwerstarbeiter erhielten Gr.1, Schwerarbeiter Gr.2 usw., Lehrer Gr.3 usw. bis Gemeinderat.4, anfangs sogar 6. Da auch Tabakwaren ratio­niert waren, erwies es sich als großer Vorteil, dass unsere Eltern nicht rauchten und ihre Rauchwaren zum Tausch gegen wichtige Lebensmittel einsetzen konnten, besonders in der Notzeit nach dem Krieg. Die Kartenwirtschaft dauerte in der DDR noch bis in die 50er Jahre, und jeder Verkäufer von Lebensmitteln oder Kellner mußte nicht nur Geld kassieren, sondern auch mit der Schere eine Marke aus der Karte herausschneiden. Als Student habe ich das in Jena noch erlebt, wenn ich auf dem Holzmarkt eine Rostbratwurst gekauft habe.]

7.7.1940 [Eintrag von Mutter]
Neun Monate lang tobt nun schon der Krieg: Norwegen und Dänemark, Holland und Belgien, ja sogar auch Frankreich, alle sind sie schon besiegt. Zu aller­erst war ja Polen besiegt. Und wie! Nun kommt noch England dran. Gebe es der Himmel, daß wir auch hier so siegreich sind wie bisher! – In unserem Thüringen hier spürt man nicht viel vom Krieg, nur daß man die Lebensmittel alle auf Karten be­kommt. Da wir 2 kleine Kinder haben, ist die Menge für uns sehr reichlich. Und in unserer Familie spürt man überhaupt nichts vom Krieg.

15.9.1940    [Nach einer 2-tägigen Radtour im Thüringer Wald]
Als ich abends zuhause ankam, berichtete Mutti, daß auch in Gotha Alarm und arge Schießerei war. Inge Frihe [Fritze?] aus Hamburg und Mutti allein mit den Kindern im Keller! Die Armen! Aber in der nächsten Nacht gings dann wieder los, bis jetzt insgesamt 10-mal, in einer Woche davon 5-mal. Wir haben aber jetzt den Keller ganz wohnlich eingerichtet und alles ganz gut organisiert: Jeden Abend trage ich einen größeren Koffer mit Kissen, Decken, Trainingsanzügen, Filmapparat in den Keller, oben wird für Gerd alles zurechtgelegt, ein kleines Handköfferchen mit Proviant und unserer Geldkassette zurechtgestellt. Wir ziehen dann bloß schnell die Mäntel über, tragen Paulchen in seinem Stubenwagen runter, meist kommt dann Onkel Spittel schon entgegen, um Gerd in Empfang zu nehmen. Im Keller ziehen wir uns dann fertig an und kriechen in die Schlafsäcke, Gerd kommt mit in Muttis, und dann liegen wir in unseren Liegestühlen und versuchen zu schlafen. Paul wird leider meist wach und fängt an zu schreien. Dann stelle ich seinen Wagen neben meinen Liegestatt und rolle ihn eine Viertel- bis eine halbe Stunde hin und her. Ist er dann endlich eingeschlafen, kommt die Entwarnung und wir ziehen wieder in den ersten Stock.
Gerd spielt am Tage mit Begeisterung Sirenenheulen, Alarm, In-den-Keller-gehen und von seinem Flugzeug lässt er Bomben fallen. Zum Glück ist jetzt schon eine Woche Ruhe, die Engländer machen nachts ihre Großangriffe auf Berlin.


20.10.1943
Am  4.9. war ich mit Tilde nach Offenbach gefahren um die Schwiegereltern zu besuchen. Man weiß ja heute nie, ob man sich noch mal wieder sieht, denn jede Nacht oder sogar jetzt jeden Tag kann das Verhängnis über eine Stadt hinweg brausen und einen Trümmerhaufen aus dem machen, was vorher Häuser, Kirchen und Türme waren. Unter diesem Gesichtswinkel sahen wir uns auch noch mal die Altstadt von Frankfurt an. Es war ein beklemmendes Gefühl, all diese traulichen und bekannten Gässchen und Winkel zu sehen und dabei denken zu müssen: wie lange steht das alles noch? Und richtig, wenige Wochen später kam der Großangriff, der auch Offenbach stark in Mitleidenschaft zog. Nach dem Bericht von Oma Fuhr fiel ein Phosphorkanister aufs Dach, rollte aber ab und fiel in den Hof. Sein Inhalt wurde in den Nachbarhof geschleudert und dort abgelöscht.
Wir rechnen auch jeden Tag damit, dass Gotha angegriffen wird. Weisungs­gemäß haben wir viele Sandtüten und Behälter mit Wasser aufgestellt. Und Abend für Abend schleppen wir unser Luftschutzgepäck, einige Koffer und Rucksäcke in den Keller. Wir haben schon an verschiedene Leute geschrieben, unter anderem auch an unseren Onkel Gustav Adolf Mendrim in Bernsdorf, ob sie Tilde mit ihren Kindern aufnehmen können, wenn unser Haus zerstört werden sollte. Aber alle haben abgesagt. Na, da müssen wir uns eben von der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] betreuen und verschicken lassen.
Es ist jetzt bei uns auch häufig Tagesalarm oder öffentliche Luftwarnung, wenn nur einzelne Flugzeuge das Gebiet hier anfliegen. Dann geht das Leben seinen gewohnten Gang weiter. Wenn nachts Alarm ist, reißen wir die armen Kinder aus dem Schlaf und ziehen sie erst einmal an. Ist und bleibt es ruhig, legen wir sie aufs Sofa, brummt es aber verdächtig, oder fängt die Heimatflak gar an zu schießen, dann spritzen wir in den kalten Keller.
Die Kinder haben jetzt auch jedes ihre Gasmaske. Margrit allerdings noch nicht. Ab und zu machen wir einen Gasmaskenappell. Glücklicherweise sperren sich die Kinder nicht gegen das Aufsetzen. Im Gegenteil muß man aufpassen, dass sie keinen Unsinn anstellen.

23.11.1943
Wir haben jetzt auch allerhand Vorbereitungen getroffen: eine Holzkiste mit einer Garnitur Kleider für jeden und einigen weiteren für den Notfall unentbehrlichen Sachen habe ich zu einem Herren meines Betriebsbüros, Herrn Reich, nach Georgenthal geschafft. Des weiteren habe ich mir eine angeblich luftdicht schließen­de Stahlblechkiste von Meister Weisheit bauen lassen, in welche wir nun die 2. Gar­nitur Wäsche und Kleider verstaut haben. Diese Kiste kam in den Keller, damit man jederzeit noch ran kann. Auch Film- und Fotoapparat befinden sich darin, weitere Fotoalben und 3 Bücher.



20.1.1944
Vor 8 Tagen war Mutti im Kino. Als sie nach Hause kam, sagte sie, es wird gleich Alarm geben, „ich hörte eben, dass der Deutschlandsender abgeschaltet hat.“ Die Kinder waren gerade von Hedi [dem Pflichtjahrmädchen] ins Bett gebracht worden. Mutti lüftete noch mal und sah dabei vom Fenster aus am Horizont ein dauerndes Aufblitzen. Ich ging auf den Boden, da sah ich schon in nordöstl. Richtung den Himmel rot, und dann kamen nacheinander Leuchtbomben, aber noch in weiter Ferne. Nun zogen wir aber fix die Kinder an, trugen alles in den Keller, zuletzt auch noch das eben fertig gewordene Abendessen, Bratkartoffeln in der Pfanne und Kohlrüben. Dann kam erst der Alarm.
Wir hatten diesmal auch viele Kleider runtergeschleppt und es war sehr eng. Schnell wurde der Ofen angezündet, denn es ist auf die Dauer doch unangenehm kalt. Zum Überfluss musste Margrit auch noch 2-mal ganz fürchterlich brechen. Als alles aufgewischt war, Margrit mit warmem Wasser gesäubert und wieder im Wagen eingepackt war, konnten wir endlich die auf dem Ofen im Keller wieder ange­wärm­ten Bratkartoffeln essen. Die Kleider hingen an den Haken, der Kinderwagen, Waschschüssel und Windeln, Kisten und Koffer, Decken und Kissen, das alles veranlasste Tilde zu der Bemerkung, es käme ihr vor wie in einer Hafenkaschemme.

24.2.1944
Seit Sonnabend haben wir jeden Tag und jede Nacht Alarm  oder zumindest öffentliche Luftwarnung. Gerd wird bald jeden Tag vorzeitig aus der Schule nach Hause geschickt. Wie lange soll das noch so weiter gehen? [An anderer Stelle erwähnt Vater, dass in letzter Zeit jeder Theater- und Kinobesuch infolge eines Alarms vorzeitig abgebrochen wurde.]

7.6.1944
[Bei einem Ausflug zur Freundwarte, als es beim Mittagessen Alarm gab] Als die Vorwarnung kam, zogen wir mit unserer Karawane los und lagerten auf der „Igelwiese“ in der Nähe der Mehlishütte. Plötzlich hörten wir wieder „Meiers Wald­horn“ (Hermann Göring, Reichsmarschall, Chef der Luftwaffe, sagte einmal am Anfang des Krieges, er wolle Meier heißen, wenn ein feindliches Flugzeug zu uns herein­käme!), als die Sirenen Vollalarm gaben. Da in letzter Zeit auch in unserer Gegend Personenzüge und Passanten von engl. Tieffliegern beschossen worden waren, traten wir etwas unter dichte Tannenbäume. Nach ein paar Minuten kommt Gebrumm auf uns zu, und als es gerade über uns ist, fängt die Flakbatterie unterhalb der Freundwarte an zu schießen. Gerd und Paulchen fingen gleich an angstvoll zu schreien, aber nur die ersten Augenblicke. Über uns hörte ich dann noch die dumpfen Explosionen der krepierenden Flakgranaten. Und was ich sofort befürchtete, trat dann auch bald ein. Ich ließ alle dicht an dicke Bäume treten, jeder Erwachsene hatte ein Kind vor sich. Dann ertönte ein feines hohes Surren und eine Menge Flaksplitter flogen uns um die Ohren. Ab und zu knackte es in den Ästen und Kronen der Bäume, und dann fiel etwas auf den Boden. Tilde hatte geglaubt, dass nun „Matthäi am Letzten“ sei und der Flieger Phosphor und sonstwas auf uns herunterwarf.
Aber auch wenn man wusste, dass es „bloß Splitter“ sind, war es keine sehr angenehme Lage. – Hinterher waren wir aber doch noch sehr vergnügt und tollten mit den Kindern umher, spielten Ringtennis und Kasperletheater.
Am 16. Juni hörten wir nun die so lange erhoffte Nachricht: die Vergeltung hat begonnen durch Beschießung von Südengland und insbesondere von London. Nur einen Wunsch haben wir: Möge sie gründlich sein und den Krieg mit entscheiden zu unseren Gunsten.

8.8.1944
Nach dem wahnsinnigen Attentat auf unseren Führer am 20.7.44, das uns alle furchtbar erschüttert und bestürzt hatte, betrachtet man die augenblickliche Lage sehr ernst. Die Russen an den Toren Ostpreußens, in Italien die Amerikaner in Florenz, im Westen die Bretagne in Gefahr abgeschnitten zu werden oder bereits abgeschnitten, dasselbe Schicksal den Armeen im baltischen Raum drohend. Wenn nicht bald eine entscheidende Wendung kommt, was uns kürzlich Dr. Goebbels ankündigte, dann sehe ich für die Zukunft schwarz.
Unsere Vergeltungswaffe hat uns ja allen wieder neuen Mut gegeben, wenn man sich die Auswirkungen auch viel gewaltiger vorgestellt hatte. Aber der „V1“ soll ja V2 usw. folgen. Hoffentlich verzögert der anglo-amerikanische Bombenterror nicht den Einsatz. Denn es geht ja doch allerhand kaputt dabei. Am 20.7. war auch wieder ein neuer Luftangriff auf die Waggonfabrik und besonders auf den Fliegerhorst. Wir fuhren 8 Tage später vorbei nach Gierstädt zum Johannisbeeren pflücken und waren wiederum erschüttert über die furchtbaren Löcher und Zerstörungen. Und die Abschüs­se halten sich jetzt auch wieder in bescheideneren Grenzen von 20 bis 40 Flugzeugen.

30.8.1944
Opa’s 76. Geburtstag und mein letzter Ferientag. Heute Nachmittag wollen wir drüben mit Kaffee und Kuchen feiern. Man darf bloß nicht an die augenblickliche Lage, die geradezu niederschmetternd ist, denken: Paris gefallen, die Amerikaner an der Marne, Yonne [linker Nebenfluss der Seine] und Seine, Rückzug das Rhonetal hinauf, Abfall Rumäniens, die Truppen dort bei Ploesti eingeschlossen, die Rumänen nehmen feindliche Haltung an, verstärkter Luftterror über dem Reichsgebiet. Als wir neulich in Luisenthal waren und es gab gerade Alarm, gingen wir mit den Kindern in den öffentlichen Luftschutzraum bei unserem Sägewerk. Er besteht aus einer 20 – 30 m tiefen Höhle, kalt und sehr naß. Ich stand draußen und zählte 300 feindliche Flugzeuge, die unbehelligt am Kamm nach Osten flogen. Ab und zu Flakfeuer von Eisenach und Gotha. Es ist deprimierend, so zuzusehen. Erst nachmittags gingen wir dann ins Schwimmbad.
Am 25.8. erschien in der Zeitung ein Aufruf von Dr. Goebbels, wonach der Urlaub gesperrt würde. Alle diejenigen, die gerade im Urlaub sind, sollten sofort ihre Arbeitsplätze aufsuchen, sofern sie noch mehr als eine Woche Urlaub hatten. Ich hatte glücklicherweise nur noch 5 Tage, sodaß ich mich nicht betroffen fühlte, wenngleich mir diese Bestimmung mit der einen Woche auch recht sonderbar und eigentlich ungerecht vorkam. Sicherheitshalber rief ich K. A. Maelzer [den Firmenchef] noch an, daß ich bereit wäre zu kommen, wenn er mich brauchte. Und meinen Urlaub habe ich mir wohl auch redlich mit hunderten von Überstunden verdient, oft kam ich abends erst um 8 oder ½ 9 aus der Fabrik und habe dabei bereits um ¾7 früh angefangen.
[Mittlerweile ist der totale Krieg proklamiert worden, wo Theater und Schulen geschlossen werden, Post und Eisenbahn aufs schärfste eingeschränkt werden. In einem Rundbrief (als Lagebericht bezeichnet) schreibt Vater: „Wir haben auch eine ganze Reihe Bühnenangehöriger in unseren Betrieb bekommen. In meinem Büro ist ein „Seriöser Bass“ als Zeichner tätig, außerdem eine junge Opernsängerin als Stenotypistin. In der Fertigung selbst war ein Kapellmeister, ein Ballettmeister und einige Musiker bei mir beschäftigt. Den meisten ist bereits ein Arbeitsplatzwechsel ins Tintenkleckserische geglückt. Vereinzelt arbeiten noch ein paar Sänger und Sängerinnen in der Montage und das Ballett arbeitet in einer Presserei mit seinen Händen statt mit seinen schönen Beinen.“]

12.11.1944
Heute haben wir meinen Geburtstag gefeiert, merkwürdigerweise ohne Alarm bis jetzt. Denn ansonsten gehen wir ziemlich regelmäßig 1x am Tag und 1x abends zwischen 7 und 9 in den Keller. Jetzt auch immer ziemlich beflissen, nachdem am 10.11. (Freitag) um 19.45 drei Luftminen ins Stadtzentrum geworfen wurden. Die erste auch noch ohne Alarm oder Vorwarnung. Ich war bis ½ 8 in der Fabrik und fuhr mit meinem Rad nach Hause. Gerade stieg ich vor unserer Torein­fahrt ab, als es sehr stark brummte oder eigentlich mehr hohl dröhnte. Ich dachte an V2 oder etwas ähnliches, es wurde nämlich erzählt,  dass diese Geschosse in unserer Gegend abgeschossen würden. Und seit Dienstag oder Mittwoch wissen wir, dass seit einigen Wochen V2 fliegt. Ich starrte also gespannt in die schwarze Nacht, als schon ein kurzes Aufblitzen sich über den ganzen Himmel hinzog, einen Augen­blick später aus der Stadtmitte eine rote Feuerlohe mit schwarzen Brocken emporschoss und ein ohrenbetäubender Knall erfolgte. Ich ließ das Rad fallen und warf mich auf die Erde an das eiserne Tor unseres Nachbar­hauses. Als sich das Motorengeräusch entfernte, packte ich mein Rad und rannte in den Garten und in unser Haus. Tilde war mit den Kindern schon im Keller, natürlich sehr aufgeregt und außer Atem. Wir holten noch schnell ein paar Sachen, als es wieder brummte, krachte es zum 2. und 3. Mal. Und dann ging das Licht aus. Wir hatten glücklicher­weise Kerzen bei der Hand. Nachher sahen wir, dass zwei starke Brände entstanden waren. Ein paar 100 Soldaten marschierten mit Schaufeln aus den Kasernen an uns vorbei. Der Alarm war gegen 9 Uhr zu Ende.  Tilde und ich gingen erst ½12 ins Bett. Um 12 war bereits wieder Alarm. – Die Minen fielen zuerst neben die Landesbrand­versicherung gegenüber dem Schloß, dann auf den Neumarkt neben Kaffe Wollen­berger und dann gegenüber dem Capitol-Lichtspiel­haus in das Eckhaus Handels­schule Kaesgen, wo jetzt eine Karten-und Bezugscheinstelle ist. Alle Häuser der nächsten Umgebung wurden vollständig zerstört, die weiteren stark demoliert mit sehr vielen Dach- und Fensterschäden.  Es soll ca. 40 Tote gegeben haben. Die Schutt- und Trümmerhaufen sehen grauenhaft aus.

3.12.1944
Soeben kommen wir aus dem Keller, 1h öffentliche Luftwarnung, man ist jetzt sehr vorsichtig geworden und gibt bei jedem einzelnen Flugzeug Voralarm oder Alarm. Dafür haben wir beinahe jeden Tag 3 – 4-mal Alarm und nachts ebenso oft. Am Mittwoch dem 15.11. war auch wieder Alarm um etwa 19 Uhr, und dann kamen wieder diese Schweinehunde, die Moskitos und warfen ein paar Minen. Erst hörte man es brummen und röhren, dann dumpfe Detonationen. Das waren scheußliche Augenblicke, wo man so den heimtückischen Tod über sich spürte. Wieder wurden ein paar Häuser am Schloßhotel zerstört und viele stark beschädigt. Mehrere Minen fielen in den Park, eine davon ca. 80m vom Fabriktor entfernt. Als ich am Donnerstag früh in die Fabrik kam, sah es schaurig aus. Hunderte von Fenstern kaputt, fast alle Verdunkelungen zerstört, manche Innenwände herausgedrückt, viele Fensterrahmen herausgerissen, ebenso Türrahmen, Dächer beschädigt, beinahe alle Oberlichter durchgebrochen. Bei mir im Büro die Holz- und Glastrennwände verschoben, alle Fenster kaputt, eiserne Schränke umgefallen, im 2. Stock Teile der Decke herunter­gefallen. Am Dach über der Kantine mehrere schwere Simssteine herunter gefallen. Na, es gingen dann gleich die Aufräumungsarbeiten los. Die Nachtschicht fiel ein paar Tage aus, gearbeitet wurde von 7.30 bis 17 Uhr. Gleich am Donnerstag nachts hatte ich Luftschutzwache im Werk. Sehr ruhig habe ich natürlich nicht geschlafen. Tilde war auf mein Anraten nachmittags mit den Kindern nach Emleben gefahren. Viele Gothaer waren ausgerissen und fuhren in die Umgebung. Bei Zenkers [einem Vorarbeiter der Firma] fanden sie Aufnahme, trotzdem sie dort ganz unangemeldet hinkamen. Es gab natürlich ein tolles Umräumen. Tilde mit unseren 3 Kindern schlief in den Ehebetten, Fritz und Frau schliefen in einem Bett, Regina in einem Kinderbett im Kämmerchen, nebenan im Zimmer auf dem Sofa Hanser, oben bei seiner Groß­mutter im Bett Lothar. Sonnabend und Sonntagnachmittag fuhr ich dann noch mit dem Rad nach Emleben und schlief auch noch dort: Vater, Mutter und 3 Kinder in 2 Betten! Die Kinder vertrugen sich mit Zenkers Kindern ganz gut, Paulchen hatte jedenfalls nicht die geringsten Hemmungen, während Gerd schon abfällig äußerte, daß man doch nicht beim Essen seinen Ellenbogen auf den Tisch legen dürfte! Überhaupt war es ihm auf dem Land zu dreckig, er ging auch kaum raus und malte lieber den ganzen Tag um die Wette mit Hanser, der der beste Schüler in seiner Klasse ist. Gerd ging auch ein paar Tage in die Dorfschule, was ihm auch ganz viel Spaß machte. Es war ihm doch ganz neu, daß mehrere Schuljahre in einer Klasse zusammen waren.

8.1.1945
Nach 5 oder 6 Tagen kehrte Tilde mit den Kindern wieder nach Hause zurück. Sie hatte Heimweh und die Verhältnisse waren dort doch zu gedrückt. Und den Alarm von Gotha und das Brummen der feindlichen Flieger hörte man auch dort ganz genau. Ich ging bei jedem Alarm im Dunkeln in der Wohnung herum und machte Fenster und Türen auf. [Durch diese Maßnahme sollte deren Zerstörung bei einer Luftdruckwelle von einer in der Nähe explodierenden Bombe verhindert werden] Alle Doppelfenster hängte ich aus und verstaute sie z.T. im Keller, z.T. unter den Betten, in Decken eingewickelt. Und viel Porzellan, Glasvasen usw. packte ich allein in Papier und schaffte es in die Holzkiste im Keller. – Die ersten paar Tage nach Tildes Rückkehr war wenig Alarm, dann aber ging es wieder los, 2 – 3-mal am Tag und ebenso oft in der Nacht. Scheußlich war das, am schlimmsten, wenn der Alarm zu Ende war und man lag gerade wieder ½ Stunde im Bett und dann ging es von neuem los. Wir entschlossen uns nun, ganz im Keller zu schlafen. Es waren ja 4 Liegestühle und 2 Luftschutzholzbetten, eins davon aufgeschlagen, vorhanden. Wir schleppten also täglich unser gesamtes Bettzeug außer den Matratzen in den Keller, dann noch Sofakissen und Wolldecken, die Faltboot-Schlafsäcke und Luftmatratzen. Ich legte noch einen Anschluß für den Rundfunkapparat, sodaß wir nun im Keller Luftlageberichte hören konnten. Wir schliefen gut und unbehelligt von den Alarmen, natürlich ½ oder ¾ angezogen, denn es war natürlich empfindlich kalt und teilweise auch etwas feucht. Nur Margrit störte uns oft durch ihren Husten. Und wenn die Kinder nachts bacheln [pinkeln] mussten, war das ein langes Aus- und Einpacken. Zu allem Unglück kam noch hinzu, daß unser Goldtöchterchen fast täglich ins Bett pinkelte. 
Unter diesen Umständen hatten wir gar keine Lust zu Weihnachtsarbeiten. Schließlich fingen wir an, nachdem die Kinder zu Bett, d.h. in den Keller gebracht waren, einige Spielsachen zu reparieren und neu zu lackieren. 
Als wir erstmal beim Basteln waren, kam doch wieder etwas die nötige Weihnachtsstimmung, zumal die Alarme plötzlich auffallend abnahmen, sodaß wir nach etwa drei Wochen wieder in unsere Betten oben zurückkehrten. Und dann kam die frohe Botschaft von unserer Westoffensive, und alles munkelte von der bereits Tatsache gewordenen Brechung des Luftterrors. Leider war es damit noch gar nichts. Denn ausgerechnet zu Weihnachten ging der Sirenenzauber wieder in aller Frische los.
Gestern Vormittag hatte ich zum 2. Mal Volkssturmdienst. Es war wieder ein paar Grad unter Null. Wir besetzten den Krahnberg, machten Geländeübungen und exerzierten ein bisschen. Wegen der Kälte wäre es mir sehr erwünscht gewesen, wenn man uns etwas mehr herumgejagt hätte, Im übrigen war es sehr schön, morgens in der weißen sonnigen Winterlandschaft herumzustiefeln.

25.2.45
Jetzt schreibe ich auch mal bei Voralarm im Keller der Fabrik. Es ist Sonn­tag­­vormittag, und eigentlich hätte ich wie jeden Sonntagvormittag seit 1.1. Volks­sturm­­dienst. Aber Luftschutz geht vor. Um 9 ging ich mal eben schnell ins Liak [Kino], wo ein Lehrfilm der Heimatschule über Elektrotechnik lief.  Leider kam um 10 Uhr Voralarm und ich mußte nach ½ Programm in die Fabrik. – Am 6.2. war hier wieder ein Angriff auf Gotha, insbesondere auf den Bahnhof und das Reichsbahnaus­besse­rungs­werk. Die umliegenden Stadtteile wurden zum Teil  schwer in Mitleidenschaft gezogen. Blödner hatte wieder Glück, es gingen nur wenige Fensterscheiben entzwei. Vereinzelt fielen auch Bomben in unsere Gegend, die nächste Willy-Marschler-Str. bei der „ Weißen Wand“ [Kino an der Ecke Cosmar-Reinhardsbrunner Str.]. Zu Hause gottlob nichts passiert. In der Fabrik hörte man das Krachen schon sehr deutlich, das Licht versagte, und ich dachte es würde über uns ein Bomben­teppich gelegt. Es brannte an verschiedenen Stellen, am Bahnhof erhielten 2 Splitter­gräben und die Bahnsteigunterführung einen Volltreffer, was viele Opfer forderte. Auch die Obergeschosse der Bahnhofshalle krachten herunter, der Wartesaal ein Trümmerfeld. In der Feuerbank ebenfalls ein Volltreffer in den Luftschutzkeller = 50 Tote, meist alles junge Mädchen und Frauen, die für uns an Maschinen Halte­schrauben schlitzten, als Verlagerungsbetrieb. Im Park wieder eine ganze Menge Bombenkrater.
Es war scheußlich, mehrere Tage ohne Gas und Licht zu sitzen. Natürlich schliefen wir wieder beinahe jede Nacht im Keller, da ohne Strom ja auch die Sirenen nicht gingen. Ein Flakschuss sollte ersatzweise das Signal sein. Darauf wollten wir uns im Schlaf nicht verlassen. – Da wir in der Fabrik sowieso nicht arbeiten konnten, kam unsere Belegschaft für Aufräumungsarbeiten am Bahnhofsgebäude zum Einsatz. Viele Gleise aufgerissen, Werkstätten zerstört, eine Brücke der Ohrdrufer Bahn eingestürzt. Und doch auch wieder Glück: die Drehscheibe unbeschädigt, ebenso der Lokschuppen und der große Viadukt über die Ohrdrufer Straße. Das Gelände der Güterabfertigung sah auch toll aus: mitten zwischen und in abgestellte Wagen waren die Bomben hinein gehauen. Ein Gewirr von Drehgestellen, Trägern, Holzplanken.  Ein Güterwagen war sogar ca. 38m weit in ein Haus geflogen, welches dann ausbrannte. Überall musste mit Schneidbrennern und Kran gearbeitet werden. – Ich habe in den Tagen viel erlebt und gesehen, unter anderem auch, wie schwer die Masse Mensch sich bewegen und dirigieren lässt, wie kopflos alles nach solchen Ereignissen wird, wie stinkfaul die meisten Leute sind. Keinen Schlag machen sie, wenn nicht dauernd einer dahinter steht oder sonstige Zwangsmittel vorhanden sind.
Ich leitete den Einsatz der ca.300 Blödner-Leute und kam mit allen maßge­benden Eisenbahnern zusammen. Zum Schluss fühlte ich mich auf dem Gelände schon ganz zu Hause. - Übrigens haben wir schon seit 1.2. Evakuierte in unserem Fremdenzimmer. Ein älteres Ehepaar aus Breslau, sehr freundliche und stille Leute, die einen 15-jährigen Sohn verloren haben. Wir kommen sehr gut mit ihnen aus, und Frau Gutsche hilft auch viel im Haushalt und gibt auf die Kinder acht. Besonders Margrit hat sie ins Herz geschlossen.
Es ist eben eine schreckliche Kohlennot, und es ist ein großes Glück, dass ich im Sommer „Holz machte“. Vom Bahnhof brachte ich auch öfter Holz aus den Trümmern mit, bis jetzt 6 Traglasten. Gerd half mir schon beim Kleinmachen mit der Schrotsäge, Paulchen natürlich auch. Und als Mutti dann noch …………..Zweige zerhackte, mußte natürlich auch jeder mit dem Beil arbeiten. Es ging ganz gut, bis Paul plötzlich das Beil los ließ, weil es ihm zu schwer wurde, und sich ins Bein hackte. Es blutete ordentlich, und Opa musste die Wunde zusammen klammern. Sicherheitshalber gab er dem kleinen Pechvogel noch eine Tetanusspritze. Jetzt muss er den ganzen Tag auf dem Sofa in der Küche liegen und piepst, wenn er in den Keller getragen wird. Denn wir müssen jetzt sehr sehr oft in den Keller. Das anglo-amerikanische Pack hat nach der Konferenz von Jalta, wo sich die 3 Kriegs­verbrecher Churchill, Roosevelt und Stalin ein Stelldichein gaben, die General­offensive in der Luft begonnen. Vier-, auch 5-mal am Tag, manchmal eben so oft in der Nacht, heult die Sirene, oft nur öffentliche Luftwarnung ( = Voralarm genannt), aber auch richtige Alarme von 3½ h Dauer kommen vor. Mehrmals hatten wir inner­halb von 24 h bis zu 10 h Alarm oder Voralarm. Und im Osten sieht es geradezu katastrophal aus, wenngleich auch in den letzten Tagen die Russen nur noch  sehr langsam Boden gewinnen. Weit östlich von Breslau stehen sie schon, Sagan, Bunzlau, Frankfurt/O, Arnswalde, Pyritz und fast ganz Ostpreußen haben sie. Das Flüchtlingselend muss grauenhaft sein. Bei der scharfen Kälte sind Frauen zu Fuß mit Kleinkindern 150 km marschiert. Oft wurden Trecks von russischen Panzern eingeholt und überwalzt. Und dann wurden die Auffangstädte Dresden, Cottbus, Görlitz und Berlin wiederholt von den Luft- und Lustmördern wahnsinnig bombardiert, es soll ungeheure Verluste gegeben haben. Das alles wirkt so unendlich nieder­drückend, am schlimmsten, dass der Luftterror nicht gebrochen wird und die Abschusszahlen sich in so bescheidenen Grenzen halten. Fast ungestört und ohne Risiko können Tausende (!) viermotorige Bomber einfliegen, Jagdflugzeuge beschießen bei Seebergen und Emleben die Züge und nichts, gar nichts passiert.
Fernzüge haben jetzt manchmal 1 oder 2 Flakwagen mit Vierlingsschnell­feuerkanonen. Und wie haben wir nach den Reden von Goebbels und den Zeitungs­artikeln auf eine Wendung zum Guten gehofft, geglaubt. Und es wird immer schlimmer. Entweder kommen wir durch den Bombenterror um, oder die Bolsche­wisten geben uns den Genickschuss. Wir machen uns schon Gedanken, wie wir uns bei einem etwaigen Russeneinfall verhalten, d.h. auf welche beste Art wir mit den Kindern aus dem Leben scheiden. Wer hätte an so was früher gedacht, etwa als ich das Buch hier begonnen habe! Wenn man aber die furchtbaren Gewalt- und Schand­taten liest, die die Russen bei ihrem Vormarsch in Ostpreußen und Schlesien begangen haben, kommt man auf diese Gedanken.
Unser schönes erinnerungsreiches Zelt haben wir beim „ Volksopfer“ der Spinnstoffsammlung abgegeben. Und manches andere dazu, aber nichts ging uns so nahe wie das Zelt, womit ja auch die Kinder im Sommer gespielt hatten. Opa hat 2 Fracks und sehr viel anderes abgegeben. Einmal sammelten wir auch vom Volks­sturm aus am Sonntagvormittag. - Sehr schöne Stunden verlebten wir noch im Januar als genügend Schnee lag. Da gingen wir mehrmals am Sonnabend­nach­mittag oder Sonntagnachmittag (ich habe ja jetzt seit 1.1. jeden Sonntagvormittag Volkssturmdienst) mit den Kindern rodeln und Ski laufen.

6.3.1945
Regelmäßig, tagtäglich um 20 Uhr ist Alarm, und ebenso regelmäßig vormittags. Vor ein paar Tagen wollten wir endlich mal wieder oben schlafen, einen Alarm hätten wir in Kauf genommen. Natürlich war nachts 5x Alarm. Nach dem 3.oder4. zogen wir dann reumütig mit Sack und Pack wieder in den Keller.  Es  war gegen 2 Uhr und die Kinder torkelten nur so vor Schlaftrunkenheit. Leider ist es zu allem Unglück auch noch sehr kalt und windig geworden. In der Fabrik wird seit 14 Tagen nicht mehr geheizt, und unsere Küche wird auch nie so recht warm. Das Eßzimmer können wir nicht mehr heizen. Es gibt kein Gas, und alles muss auf dem Kohlenherd gekocht werden. So spielt sich das ganze Leben nur noch in der Küche ab. Man lernt sich bescheiden. Aber schon an 2 Sonntagen haben wir nachmittags wieder musiziert. Es lenkt einen etwas ab.
Vorigen Samstag hatte ich frei. Der ganze Betrieb ruhte wegen Stromsperre. Wir schaufelten im Vorgarten eine Sandböschung an den Keller [d.h. vor das Keller­fenster als Splitterschutz] und ließen uns durch die vielen Alarme nicht allzu sehr stören.
Gerd hat nur noch 3x in der Woche Schule, und dann fällt sie auch noch meist wegen Alarm aus. Mutti gibt ihm ab und zu mal eine Privatstunde, besser gesagt eine Privatviertelstunde. Das macht Gerd keineswegs Spaß und öfter gibt es dabei Tränen.
Spittels haben jetzt auch Gothaer Evakuierte: Frau Spohr, Lehrerin mit ihrem Sohn Rainer 3 Jahre und ihre Mutter Frau Fett, da wimmelt es nur so im Luftschutz­keller. Rainer brüllt meist, wenn er so aus dem Schlaf gerissen wird. Und wenn man erst mal 2 bis 3 Stunden im Keller steht oder sitzt, friert man ganz erbärmlich.

26.3.45
Wer weiß, ob ich noch mal außer heute zum Schreiben komme. Ich befürch­te, daß wir den Krieg bereits verloren haben. Heute im Wehrmachtsbericht ist gesagt, daß der Feind bei Hanau und Aschaffenburg steht. Es lief uns kalt den Rücken herunter. Und alle unsere Verwandten in Offenbach, Rheinhessen und Buchschlag im Kampfgebiet oder schon in Feindeshand. Nicht auszudenken, daß es bis zu uns nicht viel mehr als 150 km sind. Dazu der ununterbrochene Bombenkrieg. Heute wieder von 13.00 – 15.45 Alarm. Die vielen Voralarme zählt man schon gar nicht. Und seit 2 Monaten keine Nacht ohne Alarm oder Voralarm. Mal schlafen wir ein paar Tage im Keller, mal ein paar Tage oben. Oft legen wir auch die Kinder um 7 Uhr in den Keller, um sie nach dem Alarm rauf in die Betten zu holen. Vorigen Freitag hatten wir Christa Schondelmeier [Geschäftsbekanntschaft aus dem Schwarzwald] zu Gast. Sie war mit dem Lastwagen nach hier unterwegs, wurde bei Mellrichstadt von Tieffliegern beschossen und durch Glassplitter verwundet. Das Auto kaputt.
Die letzten Tage war sehr schönes sonniges und warmes Wetter. Gottsei­dank hatte ich Sonnabendnachmittag Luftschutzwache und kam um die Nachtübung des Sturmvolks herum. Weisheit 2 erzählte mir früh, daß es eine furchtbare Pleite war. Sonntag gruben wir einen großen Teil des Rasens im hinteren Garten um. Trotzdem ich mächtige Schwielen kriegte, war es herrlich so im Freien zu schaffen. Auch unsere Möhrenmiete leerte ich aus, die Rüben haben sich tadellos gehalten.
Vor 8 Tagen fragte eine vorbeikommende Bauersfrau Tilde, ob sie nicht ein Kinderstühlchen abzugeben hätte. Es kam ein Tausch zustande, der uns 20 Pfund Bohnen, 1 Pfd. Butter und eine schöne Blutwurst einbrachte. Die Lebensmittel­rationen sind bedeutend gekürzt worden, und man kann sich nicht mehr mit gutem Gewissen dauernd satt essen. Die Kinder sehen aber glücklicherweise noch recht blühend aus, während Tilde und ich schon beachtlich abgenommen haben. Tildebutz wiegt ca. 123 und ich 132 Pfd. Alles wird zu weit.

20.4.45 Margrits Geburtstag heute und Geburtstag des Führers! Es ist strahlender
Sonnenschein wie schon seit 2 Wochen, und alles blüht und grünt draußen, daß es eine Freude sein könnte. Statt dessen dumpfe Verzweiflung in uns in dunkler Ahnung der Dinge, die noch kommen werden. Russen und Amerikaner kaum 120 – 150 km noch auseinender. Vor Hamburg stehen sie, Lüneburg, Uelzen, Soltau (?), Magde­burg, Halle, Leipzig, Plauen, Hof, Schweinfurt, Nürnberg im Westen. Und Stettin, Frankfurt a. O., Wriezen! Cottbus, Spremberg, Bautzen, Mährisch Ostrau, bei Brünn, Skt. Pölten! Im Osten. Ist da bei klarer vernünftiger Überlegung überhaupt noch ein Hoffnungsschimmer? Es stürzt eine Welt von Glauben, Hoffnung und Wünschen ein, und man zweifelt an allem, was gesagt und geschrieben wurde. Schweren, bluten­den Herzens muß man jenen Recht geben, die sagen, daß man uns von jeher belogen hat. Diese Leute sind jetzt natürlich oben auf, schimpfen in der ordinärsten Weise auf den Führer und den Nationalsozialismus. Dabei vergessen die meisten ganz, daß sie am lautesten Hosiannah gebrüllt hätten, wenn der Erfolg gekommen wäre. Und der Erfolg ist eben nicht gekommen, sondern schmähliche Niederlage, freilich gegen 10- oder 20-fachen Gegner. Und von all den hochtönen­den Phrasen über Vergeltung und neue Waffen nichts wirklich Entscheidendes! Und die geschicht­liche Wende, die der Führer am Jahresbeginn prophezeit hat, scheint da zu sein, aber leider zu unseren Ungunsten. Es sind viele, viele und schwere Fehler gemacht worden, es liegt eben am Menschen, daß er menschlich ist und seine Schwächen hat. Am Menschen ist wohl auch die Idee gescheitert, die sonst gut und groß ist. Und wenn die gesamte Welt über uns herfällt, was soll da das kleine Deutschland mit bloßen Fäusten gegen Bombergeschwader und Tanks ausrichten? Das Verkehrsnetz zerstört und in Unordnung, die rumänischen Ölquellen weg und damit kein Treibstoff, die Kugellagerindustrie, die Flugzeugindustrie, die Hydrier­werke zerstört, keine Schmiermittel, keine Kohle, kein Strom und Gas, es ist furchtbar!
Aber nun will ich Tatsachen berichten, zum Abwägen von Schuld und Schicksal mögen später andere berufen sein. – Die Woche vor Ostern starrten wir gebannt auf die Karten, wie die Front unaufhaltsam näher rückte. Wilde Gerüchte durchschwirrten die Luft, wonach die Feindspitzen schon in Fulda, Vacha, Würzburg sein sollten, während der Wehrmachtsbericht erst Aschaffenburg, Gemünden, Hammelburg, Gelnhausen nannte. Von Freitag bis Ostersonntag sollte nicht gearbeitet werden, auch ein Zeichen des Niedergangs, wo wir hätten Höchst­leistungen vollbringen müssen. Stattdessen dauernd Volkssturm-Dienst. Aber wie! Am Dienstag vor Ostern hieß es um 19 Uhr plötzlich: Alarmstufe 2, sofort antreten. Ich wurde als Melder aufs Schloß, wo die Befehlsstelle sein sollte, geschickt. Alles sollte Decken und Verpflegung mitbringen. Gegen 9 und 10 wurde alles abgeblasen und die Bataillone wieder nach Hause geschickt. Wir Melder durften noch bis gegen 24 Uhr weiter warten und nichts tun. Denn niemand der maßgebenden Männer war da. Am Karfreitag war Ruhe, ich spielte mit den Jungens Eisenbahn. Aber am Sonnabendnachmittag plötzlich wieder der Befehl: Sofort am Finanzamt antreten. Von 3 – 5 gewartet, es passierte nichts. Dann wieder als Melder zum Befehlsstab in die Friedrichsche Ziegelei. Dort niemand, sollten in die Waggonfabrik. Dort bis 21 Uhr herumgesessen und gewartet, danach nach Hause geschickt. Dort lag schon der nächste Befehl: Sonntag früh antreten zum Schanzen bei Ülleben. Wir marschierten raus, bogen kurz vor dem Dorf rechts nach Boilstedt ab und warteten in der alten Flakstellung der Dinge, die da kommen sollten. Bis Mittag, ohne daß was geschah! Die Stimmung war entsprechend. Es waren auch keine Geräte da und auch niemand, der Bescheid wusste. Nachmittags hatte ich in der Fabrik Luftschutzwache. Da kommt wie ein Keulenschlag die Aufforderung von Karl August [Maelzer, dem Chef], alle wichtigen Akten und Zeichnungen sofort zu verbrennen, die Amerikaner seien bereits in Eisenach. Fieberhaft arbeitete ich, ließ die Schreibtische und Schränke meiner Sachbearbeiter aufbrechen und holte alle Geheimschreiben heraus. Dann sollte noch ein Teil von Engpassmaschinen abtransportiert werden. Mein Vorschlag, sie nach Greiz zu schaffen, wurde akzeptiert, scheiterte aber am Zustand der Last­fahrzeuge bzw. an der Opposition der Herren Fahrer. So kamen sie in die nähere Umgebung. Als ich todmüde gegen 20.30 nach Hause kam, schon wieder ein Befehl, nächsten früh antreten. Das war also Ostern. Na, und die Schilderung der nächsten 2 Tage will ich mir ersparen. [Dazu gibt es unter dem Datum vom 3.4.1946 noch Einzel­heiten]  Kurz und gut, am Mittag des 4. April zogen die Amerikaner in Gotha ein, nachdem sie in der vorhergehenden Nacht die Stadt noch ausgiebig mit Artillerie beschossen hatten. Alle Hausbewohner verbrachten die ganze Nacht im Keller. Am nächsten Tag, ebenso an den folgenden und auch nachts wurde immer noch gele­gentlich heftig geschossen, d.h. die Amerikaner schossen von hier aus nach Osten und Süden, und sowie ein deutsches Flugzeug auftauchte, knallte es aus allen Strassen hoch, mehrere wurden auch abgeschossen. Ich fuhr dann mal mit Herrn Döll, der übrigens jetzt verhaftet und angeblich in ein Konzen­trationslager bei Alsfeld gekommen ist, in die Fabrik, wo bloß Weisheit 1, Poller, Weise, Emmerich, Bo(r)chert und Karl August waren. Alle natürlich ratlos und sehr niedergedrückt. Es wurde gleich ein Wachdienst eingerichtet, damit die Ausländer nicht alles wegschleppten. Denn geplündert wurde vom ersten Tag an, sogar schon am Dienstagabend noch während geschossen wurde. Lebensmittel, Stoffe, Stiefel, Rucksäcke und Socken aus den Lagern in den Kasernen und in der Cosmarstrasse. Dann kamen die Güterwagen auf dem Bahngelände dran: alles wurde erbrochen und ausgeraubt. Natürlich plünderten außer den Ausländern auch die Deutschen, schließlich mit dem Recht, daß sie sich sagten, ehe es den Amerikanern oder den Polacken in die Hände fällt, nehmen wir es lieber selber. Polen und Russen haben sich fast alle Fahrräder gestohlen bzw. einfach den Leuten auf der Strasse abgenommen. Nach ein paar Tagen erschienen endlich Schilder: wer plündert wird erschossen, und es sollen auch wirklich ein paar Polen beim Ausrauben eines Waggons mit Zigarren getötet worden sein.
Am 2. oder 3.Tag holten die Franzosen, denen jetzt das Ausländerlager untersteht, alle Lebensmittel aus unserer Kantine. Den Lagerführer hatten sie eingesperrt, einmal weil er Lebensmittel unterschlagen hätte, und dann weil er oft Ausländer, auch Frauen, geschlagen hat. Auf Veranlassung des amerikanischen Stadtkommandanten wurde er aber wieder frei gelassen, weil er der richtigen Meinung war, dass bei einem Lager von ein paar hundert Menschen und 6 oder 7 Nationalitäten gelegentlich einmal Schläge angebracht sind.
Die Ausgehzeit wechselte anfänglich dauernd. Da keine Anschläge herauskamen, wusste auch kein Mensch richtig Bescheid. Die wildesten Gerüchte kursierten. Aber auf einem Anschlag stand jedenfalls, dass alle Schuss- und Hieb­waffen und alle Fotoapparate abzuliefern seien, was ich denn auch brav tat. Ich ließ mir von einem vorüber fahrenden Auto eine Quittung geben, während auf dem Rathaus, wo Opa seinen Apparat, Fernrohr und Revolver abgab, alles wahllos auf einen Haufen geworfen wurde.
In der Fabrik war auch häufig fremder Besuch. Mal stiegen die amerikani­schen Soldaten vom Bahngelände durch ein Fenster bei Wachsmuth ein und durch­stöberten dann alle Räume, Schränke, Kästen und Behälter. Mir klauten sie von meinem Schlafanzug die Hose, während Kissen, Schlafsack und Bücher unberührt blieben. Im übrigen Büro und in den Meisterbuden sah es natürlich wüst aus. Dem Meister Schuchard hielten zwei Kerle die Pistolen unter die Nase, als er in seinem Schrank was holen wollte.
Übrigens wurden Sonnabend vor Ostern noch mal wieder Bomben auf Gotha abgeworfen. Eine fiel in die Zuschneiderei und zerstörte ein paar Blech­scheren, der erste schwere Maschinenschaden, den wir hatten. Die Bahn­strecke bei Seebergen wurde wieder zerstört und der Verkehr dadurch lahm gelegt. – Bald gab’s auch Einquartierung in vielen Häusern aller Stadtteile. Die 3 Eckhäuser der Kaiserstrasse und Sauckelstr. wurden auch belegt, es kam eine Art Reparatur­werkstatt rein. Natürlich mussten alle Leute raus. Drüben bei Schlothauer wurden die Leute um 23 ½ aus den Betten gejagt!  Am Sonntagnachmittag half ich Frau Griese, einen Teil ihrer Sachen in die Schlichtenstr. zu ihrer Schwester zu transportieren. 2x den Weg mit voll beladenem Leiterwagen strengte mich sehr an. Frau Schröder mit ihren Eltern Müller, Herr Friedrich und die ganze Verwandtschaft von Spittels aus der Kaiserstr. musste raus. Bei Spittels nächtigten 15 Personen auf Liegestühlen, Sofas, Luftschutzbetten. Unser und der Großeltern Angebot schlugen sie ab, sie wollten zusammen bleiben. Bald wurden auch weitere Häuser der Sauckelstr. belegt, wir waren ganz von Amerikanern eingekeilt. Und schließlich kam dann auch das Verhängnis: ich hatte gerade Nachtdienst und stand Donnerstag den 12.4. früh auf, als Opa ans Fabriktor kam, ich sollte gleich nach Hause kommen, wir müssten die Wohnung räumen. Um ½ 7 waren sie angerückt, bis 7 Uhr musste die Wohnung leer sein. Nachher bekamen wir aber doch Frist bis 11. Alles half nun mit: Opa, Oma, Herr Schröder von der Kaiserstr., Herr und Frau Gutsche.  Bei so vielen Händen konnten wir sehr viel fortschleppen, vor allem natürlich alle Nahrungsmittel, auch Kartoffeln und Briketts, Wäsche und Eingemachtes, Most und Wein. Und gerade hatten wir an den Tagen vorher vieles sorgfältig versteckt, denn allenthalben hörte man, dass die Soldaten Alkohol und Eingemachtes klauten. Sie kamen einfach in die Wohnungen und hielten „ Haussuchungen“ nach Fotoapparaten und Waffen ab. Dabei ließen sie dann vieles andere mitgehen. Bei Kürschner holten sie sich Marme­lade und Eingemachtes, bei Fr. Stoll stahlen sie 5 Uhren, auch Radioapparate und Motorräder sind gesuchte Artikel. Wir zogen zu den Eltern, deren Heim einigermaßen durch das Rote Kreuz geschützt ist. Tilde schlief im Esszimmer auf der Couch und ich auf dem Strohsack, den wir sonst im Keller hatten, auf der Erde. Die Kinderbetten hatten wir natürlich komplett rüber genommen. Gerd schlief im Schlafzimmer der Großeltern, wir anderen alle im Esszimmer. Am nächsten Tag sollte die Gesellschaft gegen Mittag wieder abrücken, in unserer Wohnung waren nur 22 Mann! Tilde ging gegen Mittag rüber als die Kerle gerade mit ihren Porzellan­tellern und Schüsseln abzogen. Sie wandte sich an den captain, der ihr sagte, dass nach dem Mittagessen alles wieder zurück gebracht würde. Ganz unaufgefordert zog ein boy aus seiner Bluse unseren elektrischen Toaster hervor und gab ihn Tilde zurück. Leider fehlten aber nachher doch ein paar Teller und Schüsseln. Gegen 13 Uhr gingen wir wieder rüber und sahen dem Abzug von der anderen Straßenseite zu. Als die Autos abgefahren waren, gingen wir zunächst zu Spittels, die Wohnung zu besichtigen. Plötzlich flog irgend etwas am Fenster vorbei. Es waren aus unserem Schlafzimmer zwei von unseren Schlaraffiamatratzen, die zwei Yankees klauen wollten. Wir wie der Blitz hinterher und die Kerle gestellt, sie waren aus der Nachbarschaft und sagten, sie würden die Matratzen morgen wiederbringen, sie müssten sonst auf der Erde schlafen. Wir sagten, dass wir auch auf der Erde geschlafen hätten und Kinder hätten. Sie machten trotzdem Miene, mit den Matratzen abzuziehen. Außer Opa, Lotte und den Hausbewohnern stand vor dem Tor noch eine kleine Menschenmenge. Da wurde es ihnen scheint’s ungemütlich, und vielleicht gelang es Tilde, sie bei der Ehre zu packen, als sie ihnen sagte, ihr Captain hätte gesagt, alle amerikanischen Soldaten wären Gentlemen. 
Nun gingen wir erst mal in unsere Wohnung rauf. Da sah es ziemlich wüst aus, wenngleich auch mutwillig kaputt gemacht nur wenig war, z.B. die Glasplatte auf der Frisierkommode, der elektrische Kachelofen, diverses Kinderspielzeug (die Dampfmaschine demoliert). Vielleicht war auch alles nur aus Versehen passiert. Aber umgeräumt war viel, der Schuhschrank in der Speisekammer, die Nähmaschine vor der Glastür, die Wickelkommode im Flur, das Kinderzimmer vollständig ausgeräumt, dafür die hölzernen Luftschutzbetten aus dem Keller drin, in die Schränke alles wild hinein gestopft, an jeder möglichen und unmöglichen Stelle Zigarettenstummel und viel Dreck und Schmutz, leere und halb volle Konservenbüchsen, Kartons, Papier usw.
Und allerlei hatten sie da gelassen: ein Paket Tabak, ein paar Flaschen Südwein, leere Patronentaschen, einen Marschkompass, eine Eisenbahnermütze, eine Unteroffiziersmütze, diverse Trophäen aus dem Rheinland, bald 15 Schachteln Streichhölzer, einen Rasierapparat, ein Bügeleisen. Na, also den ganzen Nachmittag brauchten wir dazu, um sauber und Ordnung zu machen. Wir schliefen aber zunächst noch in der Kaiserstrasse [bei den Großeltern], weil ich Sonntag den 15. wieder Nachtdienst hatte. Montag schleppten wir dann unser ganzes Zeug wieder rüber. Ich wollte ein Törchen im Gartenzaun [zu den Großeltern in der Kaiserstraße] anbringen, aber der Schröder [Hauswirt in der Kaiserstr.] hat sich von seinen Weibern so einwickeln lassen, dass er es jetzt auf einmal nicht mehr gestatten will, trotzdem er es vor ein paar Wochen zusagte. Ich machte daher zwei Treppchen, um bequem über den Zaun steigen zu können. Gerade war ich bei den Eltern, als Frau Spittel in höchster Aufregung rüber schrie, ich sollte gleich mal kommen. Na, da wusste ich gleich Bescheid, wir sollten wieder die Wohnung räumen. Wir sperrten uns eine Weile, schließlich kam ein Major und belegte das Erdgeschoss mit Beschlag, für eine Nacht sollten 7 Leute dort schlafen. 3 davon aber waren Nachrichtenhelfe­rinnen oder Victory-Girls oder so was. Spittels und Gutsches kamen dann eben zu uns rauf. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig, als schon wieder 1 finsterer Bursche hereinkam, um nun auch noch unsere Wohnung zu beschlagnahmen. Ich redete eine Weile mit ihm, er kehrte um, kam aber gleich mit einem anderen bewaffneten Kerl wieder, der trotz aller Proteste bloß immer radebrechte: „ Du muß raus, Du muß raus“. Gentlemanlike gab er uns 15 Minuten Zeit. Nun ging also wieder die wilde Jagd los. Nachher hat man uns doch eine halbe Stunde Zeit gelassen. Es kamen 7 Soldaten, die allemal morgens abzogen und abends ins Quartier zurück­kamen. Spittels konnten aber schon am anderen Tag wieder in ihre Wohnung. Trotz der Anwesenheit des Herrn Major hat die Bande viel gestohlen: Skistiefel von Helmut, ebenso seine besten Krawatten, ein halbes Dutzend neue Strümpfe von Frau Spittel, eine Uhr und noch so verschiedenes. Unsere „ Mieter“ hingegen waren, als wir heute die Wohnung wieder in Besitz nahmen, scheinbar ganz ordentliche Leute, oder sie hatten wenig Zeit. Außer meiner Fototruhe war diesmal nichts durchgewühlt, alle Schränke und Behälter waren so wie wir sie gelassen hatten. Nur mit dem Bügel­eisen haben sie ein paar große Löcher in das Sofa gebrannt. Der Überzug war ohnedies nicht mehr viel wert. Wir wissen nun gar nicht, ob wir wieder alles sauber und zurecht machen sollen, es kommt dann vielleicht gleich wieder Einquartierung. Leider ist die Fritz-Sauckel-Str. jetzt eine ganz unruhige Gegend. Zumal das Eckhaus mit der früheren Postfiliale gänzlich beschlagnahmt worden ist und alles am Mitt­woch­­­­nachmittag räumen mußte. Die ganze Nachbarschaft half mit, wir auch, und es war eigentlich ein Zeichen schöner Volksgemeinschaft, die sich in der Not bewährt. Ohne fachmännische Hilfe schleppten wir die schweren Möbel vom 2. und 3. Stock und stellten sie auf den Bürgersteig bzw. in die gegenüber liegenden Gärten. Denn manche Familien wussten noch gar nicht, wo sie unterkommen sollten und wie sie die Möbel abtransportieren sollten.
Neulich waren mal 2 amerikanische Fachleute, Soldaten in unserem Werk. Der eine sprach fließend deutsch und ließ sich genaue Einzelheiten sagen. Er tat so, als ob er in höherem Auftrag käme ( „ein Teil der Maschinen wird abtransportiert, sie bekommen sie dann von der deutschen Regierung bezahlt“ und „ sie werden wieder von uns hören“), ich glaube aber bestimmt, dass sie nur aus Privatvergnügen herumschnüffelten, denn sie schämten sich nicht, zwei Reiseschreibmaschinen zu stehlen und weigerten sich, eine Quittung zu geben. Der eine fragte mich, wie wir die Franzosen behandelt hätten, ich sagte, wenn sie gut gearbeitet hätten, wären sie auch gut behandelt worden. „Und wenn sie nicht gut gearbeitet haben?“ „ Dann sind sie mal richtig, wie man bei uns sagt, angeforzt worden, genau wie unsere deutschen Leute auch.“ „Oder ins Konzentrationslager gebracht und halb tot geprügelt“. Man sieht also, wie verhetzt die Bande ist. Übrigens geht hier hartnäckig das Gerücht um, in Ohrdruf wären von der SS ca. 4300 Häftlinge kurz vor dem Einmarsch der Ameri­kaner umgebracht worden, weil sie nicht mehr weggebracht werden konnten oder zu entkräftet waren. Ich kann das einfach nicht glauben, daß von Unsern auch so viehisch wie von den Sowjets verfahren wird. Und wenn schon, daß das durch Befehl von oben veranlasst wird. Denn wie haben wir uns damals über Katyn und Winniza entsetzt. Aber man muss befürchten, dass es in jedem Lager menschliche Bestien gibt.
An Arbeiten in der Fabrik ist vorläufig gar nicht zu denken. Es wird einem noch gar nicht bewusst, dass man aus der tollen Arbeiterei urplötzlich ins entgegen­gesetzte Extrem verfallen ist, nämlich die Arbeitslosigkeit. Es tauchen die schlimm­sten Probleme auf, keine Anstellung kein Verdienst, keine Lebensmittel vorhanden oder kein Geld sie zu kaufen, Deportation, Verhaftung, Aufstände der Ausländer und des Pöbels, Kommunistenherrschaft. Man wundert sich nur, dass es bis jetzt so ruhig bei uns ist. Es scheint eben alles noch mehr überrascht und gelähmt von der uner­war­teten Wendung zu sein, als tatendurstig, die früheren Verhältnisse zu  „ver­bessern“. Gestern abend sprach Goebbels ¾ Stunden im Radio zum Geburtstag des Führers. Wie man so sprechen kann, wenn fast 2/3 vom Reich besetzt ist und die Vernunft keinen Hoffnungsschimmer erlaubt, ist mir ein Rätsel. Die alten schön klingenden Worte vom Aushalten im Wellental und der Sieg muß doch kommen und dem Führer den Lorbeer bringen. Ich muß gestehen, es hörte sich alles wieder sehr schön an, zu gut und schön, wenn nur die nackten Tatsachen dem nicht alles Hohn sprächen. Phrasen also, nichts als Phrasen. Daneben in den Nachrichten neue Verordnungen über Krankenversicherung, die am 1.5. in Kraft treten, so als wäre nichts geschehen.
Übrigens hatten wir die ersten 2 Wochen keinen Strom und mussten mit den Hühnern ins Bett, konnten also auch kein Radio hören. Bei Spittels haben die Amerikaner einen Radioapparat mitgenommen und den zweiten kaputt gemacht. Bei den tollen, unkontrollierbaren Gerüchten hatten wir natürlich einen Hunger nach Nachrichten und sowie wieder Strom da war, schalteten wir den Radioapparat ein. Da sahen wir vom Fenster 2 Soldaten hereinkommen. Schnell versteckten wir den Apparat und richtig kamen sie, und wollten einen Radioapparat stehlen. Ich sagte, wir hätten keinen, aber unten im Erdgeschoß sei einer. Damit führte ich sie runter und zeigte ihnen den zerstörten. „Oh no, nix gut“, den wollten sie nicht haben und machten Gott sei Dank kehrt.
Trotz aller trüben Aspekte saßen wir jetzt manchen Abend gemütlich in der Dämmerung im Wohnzimmer der Eltern und süffelten eine Flasche nach der anderen, mit der annehmbaren Entschuldigung: „Besser, als wenn sie uns die Amerikaner abnehmen“. Sogar ein bisschen Klampfe spielte ich dann.


5.5.1945  Seit  dem 2.5. arbeiten wir wieder in der Fabrik. Natürlich nicht im alten Stil. Fa. Blödner hat vom Kommandanten die Erlaubnis bekommen, Reparaturen für lebens­wichtige Betriebe auszuführen. Dreißig bis fünfzig Mann sind etwa wieder am Schaffen. Und eine Reihe führender oder nicht führender Angestellter. Dazu gehöre auch ich, was ein großes Glück für uns bedeutet. Denn sonst ist von meinem Büro noch niemand wieder zur Arbeit aufgefordert worden. Und ich und die anderen sind auch bloß Tagelöhner, die jederzeit auf die Straße fliegen können. Es wird stunden­weise bezahlt, und wir müssen wie die Arbeiter stempeln. Ich soll für die Reparatur­abteilung und für die Stahlmöbel, wenn die erst mal wieder laufen, eine  Arbeitsvor­bereitung aufziehen. Vorläufig mache ich Kehraus in meiner schönen Abteilung B, Auftragsrestabwicklung, Inventur, Aufräumen, Lehren und Messgeräte einpacken zwecks Verlagerung. 40 Stunden wird nur gearbeitet, und entsprechend gibt es dann wenig Geld. Dann kommen noch alle 3 Nächte Bereitschaft à 3 Mark, was man unter den jetzigen Umständen gern mitnimmt.
Der Führer ist tot. In den deutschen Nachrichten von Prag heißt es, er ist gefallen. In den Feindsendern sprechen sie von Selbstmord, von Gehirnblutungen, schweren Verletzungen. Wer lügt mehr, was ist wahr? Die Auslandssender berichten in schadenfroher Weitschweifigkeit vom Zusammenbruch der Wehrmacht und des Reiches und bemühen sich, durch tägliche Wiederholungen der schlimmsten Gräuel­märchen aus den Konzentrationslagern dem deutschen Volk das Schuldbewusstsein einzuimpfen, das die Alliierten für ihre durchsichtigen „ Friedensabsichten“ brauchen. Sie „befreien“ das deutsche Volk von den Konzentrationslagern, indem sie für das „Gesindel“, wie sie die Reichsregierung nennen, neue Lager einrichten. Es sind auch hier schon viele Leute verhaftet worden, von denen jede Spur fehlt: Döll, Dr.Nagel, Dr.Noltmann, der Stabsarzt vom Schützen und sein Assistent, Meister Kästner. Man darf nicht an die Zukunft denken und daran, was unsere Feinde mit dem ohnmäch­tigen Besiegten vorhaben. Inzwischen werden die Brotrationen knapper und unge­recht verteilt: vorige Woche für alle 2 Pfund pro Nase, diese Woche für Erwachsene und Jugendliche 4 Pfund, für Kinder unter 6 Jahren nichts(!), auch kein Rekompens an Nährmitteln oder sonst was. Butter überhaupt nichts, nächste Woche pro Person 25g. Am vorigen Sonntag holte ich im Standesamt die Lebensmittelmarken ab, 2 h stehen in einer Eiseskälte. Beim Gemüse holen auch immer lange Schlangen.
Und dann hatte ich den Kindern so eingeschärft und verboten, dass sie (nie) Munition in die Finger nähmen. Paul findet zwei Gewehrpatronen, und natürlich wirft er sie unaufhörlich an die Wand. Da gerade ein paar Tage vorher in der Kaiser­straße ein Junge beim Spielen mit einem Zünder schwer verletzt wurde, verstand ich keinen Spaß und versohlte Paul mit einem Stock so fest den Hintern, wie ich es noch nie bei einem von den Kindern gemacht habe.

24.5.45
Ich glaube, ich muß jetzt öfter schreiben, um diese „ historische Zeit“ in allen Einzelheiten festzuhalten. Heute Nachmittag war ich mit 15 anderen Blödner-Leuten, darunter Herr Werner und Herr Hoch, und ein paar Meistern zum Schippen in der Saarstraße abkommandiert. Es melden sich nämlich so wenig Leute zum Arbeits­einsatz, dass jetzt mit Aburteilung durch die Militärbehörden gedroht wird. Mehrfach wurde dringend zur Arbeitsaufnahme in Gärtnereien und Landwirtschaft aufgefordert. Die Leute haben eben so viel verdient, dass sie jetzt glauben, feiern zu können. – Opa hat sein Gehalt vom Hilfskrankenhaus Schützen um 50% gekürzt bekommen, wenn er nicht überhaupt den Posten wegen seiner Parteizugehörigkeit verliert. Da ja außerdem bestimmt Vermögensbeschlagnahme oder Geldentwertung, hohe Be­­steue­rung oder sonst ein Trick kommt, um uns um unsere Ersparnisse zu bringen, hat Opa seine Praxis wieder aufgenommen. Die Hauptsache ist, dass er dafür ein Schild bekommen hat: „Off limits“, das ihn hoffentlich vor Ausquartierung schützt. – Vorigen Sonnabend mit Gerd nach Leina zu Rauch gelaufen, dort ein prächtiges Butter- und Wurstbrotfrühstück erhalten und noch ein halbes Brot und Erbsen. Die gesprengte Autobahnbrücke sieht trostlos aus. Die Amerikaner haben auf den herab­gefallenen Trägern eine stabile Notbrücke errichtet. Viele Landser marschieren in ihre Heimat, bekommen in den Dörfern Brot und Unterkunft. Auf der Autobahn ein nicht abreißender Strom von Militärautos, und außerdem Rückwanderer zu Fuß und per Rad, Kinder und Leiterwagen nach Westen.
Vor 8 Tagen bekamen wir in unser Fremdenzimmer neuen Besuch: Frau Ehlers mit ihren 2 Kindern wurde aus der Kaiserstr. ausquartiert. Nach ein paar Tagen kam ihr Mann per Fahrrad. Er hatte sich von Wilhelmshaven durchgeschlagen. Die ganze Kocherei spielt sich auf dem neuen Blödnerschen „Sparherd“, von Tilde „Küchenhexe“ genannt, ab.
Ganz allmählich lässt man uns die Zügel lockerer. Erst nur vor- und nachmittags je zwei Stunden, dann von 7 bis 17, von 6 bis 18 und jetzt gar von 5 bis 21 Uhr Ausgehzeit. „ Weil wir uns so gut geführt haben“. Landrat Guyet und Oberbürgermeister Schmidt sitzen im Gefängnis, weil man sie für die Zustände im Konzentrationslager Ohrdruf verantwortlich macht. – Gestern im Radio, daß in England die Lebensmittelrationen gekürzt werden. Vor ein paar Tagen daselbst, dass bei uns „der Leibriemen enger geschnallt werden müßte“, wir bekommen nur noch 2/3 vom bisherigen, das Ausländerpack, das seit zwei Monaten spazieren geht und plündert, bekommt jedoch volle Ration. Aus dem Ausland bekommen wir nichts, höchstens bei drohender Hungersnot. Unsere Rationen seien etwa 1/3 der des amerikanischen Frontsoldaten. – Die englischen Ärzte stellten fest, dass bei unserem Heer katastrophale sanitäre Zustände herrschten und im allgemeinen die deutsche Medizin ca. 10 bis 15 Jahre zurück gegen das übrige Ausland sei. Das käme daher, dass an maßgebenden Stellen nur Nazis gesessen haben (  …. und die Juden emigriert sind! Anmerkung der Schriftleitung!) – In den Konzentrationslagern hatte man 6 Tötungsarten, Erhängen, Verhungern, Erschießen, Vergasen, Erfrieren (!!) und Verbrennen (?). Und 13 Folterungsarten werden  bis ins kleinste beschrieben. Merkste was! Dresden, Köln, Hamburg, Wuppertal, Heilbronn war nämlich nichts gegen die Konzentrationslager!

31.5.45
 Wir mussten Hals über Kopf Werk 4 im Heutal räumen, da ein Ausländer­lager reinkommt. Es ist ein Jammer, welche Werte bei so einer Räumung zum Teufel gehen. Brennholz gab’s in Hülle und Fülle. Wir holten auch 2x einem Wagen voll Zählbretter und Holzstößel vom Aufschlagzünder 23. Außerdem ließ ich mir vom „Alten“ [dem Seniorchef von Blödner] eine Gartenbank, und von Karl August [dem Juniorchef] ein Blechwandschränkchen, letzteres als Arzneikasten für Opa, ver­machen. Außerdem diverse Leinensäcke für Pulver stellten wir „sicher“. Vor 8 Tagen holten wir in Leina bei Rauch einen Zentner Kartoffeln, 14 Tage zuvor bekamen wir etwas Speck und Erbsen. Gestern Nachmittag machten Tilde und ich einen Spazier­gang nach Metebach, wo wir zum Kaffee eingeladen wurden und auch einen Brocken Speck und ein paar Eier erhielten. Wir hatten Teller und eine Schüssel dafür gegeben. Sonnabend war ich mit Gerd und Paulchen in Emleben bei Zenkers und Wachtelborns, um Kartoffeln zu organisieren. ½ Brot (!) und einige eggs sprangen auch dabei gegen Zigarren und Zigaretten heraus. Hinzu fuhren wir auf einem Bauernfuhrwerk, das wir angehalten hatten, zurück mit der Bahn. Zu kaufen gibt es nichts, nur zu tauschen. Auf diese Art haben die Bauern auch an dem Plündersegen teil, allerdings auf Umwegen, wo sie nun Kaffee, Zucker, Leder usf. gegen Lebens­mittel erhalten. – Im Garten gedeiht alles sehr schön, auch die Beete auf dem Rasen vorn und hinten tragen gut. Ich gieße auch viel, überhaupt habe ich dieses Jahr sehr viel im Garten gearbeitet, da ich ja Anfang April viel Zeit hatte. Jetzt müssten wir mal nach Gierstädt fahren, trauen uns aber nicht mit den Rädern, da immer noch sogar in der Stadt welche von Ausländern geraubt werden, was ich von den Leidtragenden selbst gehört habe. Sie setzen einem den Dolch auf die Brust.
Ehlers wohnen leider immer noch bei uns, ihre Wohnung ist noch weiter besetzt. Vor allem ist mir auch unsympathisch, daß die Kinder von ihnen Würmer haben. Und es ist uns allzu menschlichen Menschlein auch nicht ganz leicht, den Anblick zu ertragen, wenn andere auf allen Gebieten vielmehr zu verzehren haben als wir. Und dabei ist es ihnen durchaus zu gönnen, wo sie in Berlin ihr Heim verloren haben und jetzt hier auch wieder so lang rausgeworfen worden sind. Übrigens arbeitet Herr Ehlers mit Kürschner zusammen auf dem Gut Töpfleben als Land­arbeiter. Wenigstens bekommen sie täglich viel Milch und als Deputat Kartoffeln. – Ich gehe oft abends zu den Eltern zum 2. Abendessen, und auf die Art werde ich noch halbwegs satt. Tilde und ich haben schon tüchtig abgenommen, man kann die Rippen zählen und stößt sich an den eckigen spitzen Knochen. Eisern lernen wir Englisch, täglich stehe ich um 5 Uhr auf und studiere. Tilde kommt meist erst 1h später. Ab und zu gibt es eine Zeitung „ Hessische Post“. Ich sehe zu, dass ich sie sammle, denn es sind herrliche Zeitdokumente. Auch die Radiomeldungen sind einzigartig. So hat z.B. der Feldmarschall Montgomery heute dem deutschen Volk erklärt, warum die englischen Soldaten Befehl bekommen haben, nicht mit deutschen Kindern zu spielen und auf freundliche Grüße von Deutschen nicht zu erwidern. Wir sind eben so verworfen und sind allein am Weltkrieg 14 – 18  und jetzt wieder schuld, daß erst vollständige geistige Unterwerfung und Reue uns wieder für Aufnahme in den Kreis der gesitteten Völker würdig macht.
Oder in der Tschechoslowakei werden nicht alle Deutschen des Landes verwiesen oder als Feinde behandelt. Anerkannt werden alle, die im Konzentrations­lager waren, alle die die Tschechen im Kampf gegen die Nazis unterstützt haben und die, die in lebenswichtigen Posten sitzen. Außer Nr.3 also würdige Vertreter des Deutschtums.
Vor ein paar Tagen ging im Rundfunk die Meldung durch, dass die russi­schen Zeitungen eine Karte veröffentlicht hätten, wonach Mitteldeutschland bis zum Westrand von Thüringen unter die russische Knute käme. Darob ungeheure Aufre­gung in Gotha. Aber unsere Breslauer Evakuierten wollen in aller Kürze nach Breslau zurück, es wäre alles nur halb so schlimm mit den Bolschewiken wie es erzählt würde.

3.7.45
Nun ist es leider doch wahr geworden, dass die Russen kommen. Am Sonntagnachmittag kamen kleine unscheinbare Aushänge, dass ganz Thüringen von den Russen besetzt würde und dass ein Verlassen des Landkreises verboten sei. Ich fuhr extra in die Stadt, um mich persönlich von der Richtigkeit zu überzeugen. Dann anschließend zu Maelzers, wo ich nur seine Schwägerin und Herrn Ing. Rech antraf. Frau Walther will mit ihren zwei kleinen Kindern schnellstens weg nach Hamburg zu ihrem Mann, Herr Rech nach Frankfurt zurück. Er wollte nur sein Gepäck holen. Jetzt wollen beide mit einem Zirkus Williams (früher Althoff) auf der Bahn nach Nauheim zurück. Hoffentlich gelingt es. Ich habe Briefe nach Hamburg und Offenbach mitge­geben. Bisher haben wir nur Nachricht von Hamburg und Weimar, wo alles gesund geblieben ist. [An anderer Stelle der Chronik steht, dass der Zirkus bei seinem Gastspiel in Gotha bei der Fa. Blödner viele Reparaturen machen lassen hatte.]
Wir fuhren vor etwa 3 Wochen zum ersten Mal mit der Bahn „ in die Kirschen“.  Es war eine abenteuerliche Fahrt. Der Zug sollte um 8.20 nach Döllstädt abgehen, um 3/4 8 war ich am Bahnhof, da gab es schon keine Fahrkarten mehr. Um 7 Uhr wurden die letzten verkauft. Auf den Rat eines Bekannten vom RB Betriebsamt, Hr. Bauer, fuhren wir ohne Fahrkarten, in dem wir „schluppten“. Wir sollten in Döllstedt nachzahlen, was wir aber dank des fürchterlichen Gedränges auch nicht taten. Statt um 8.20 ging der Zug erst gegen ½ 10. Gegen 10.15 in Döllstedt, marschierten wir zu Fuß in einer riesigen Heerschlange nach Großfahner, wo wir leider bei Frau Fleischmann unseren lb. Meister Wachsmuth antrafen. Wir bekamen aber nichts, erst als W. weg war, gab uns die gute Frau von ihren einmachfertigen Kirschen ca. 3 Pfund und dann noch Erbsen. Tilde hatte ihr zwei Kinderhöschen mitgebracht. Anschließend nach Gierstädt zu Hildebrand und Griese. Tilde pflückte beim einen, ich beim anderen. Dann noch zusammen bei Griese Kaffee getrunken. Zurück hätten wir die 17 km mit ca. 38 Pfund Kirschen laufen müssen, wenn uns nicht ein Lastauto mitgenommen hätte.
Acht Tage später wagten wir uns mit den Rädern nach Gierstädt, allerdings auf dem Umweg über Warza, Bufleben, Eschenbergen, Großfahner. Der Weg durch den Wald war gräßlich, wenn auch landschaftlich recht reizvoll. Bei Hildebrand pflückten wir 2 Spankörbe voll, einen dritten gestattete er nicht mehr. Glücklich kamen wir nach Haus, und schon am Abend blieb uns nach Verteilung an Großeltern, Lotte, Spittels, Gutsches, Lies Beck, Ehlers, Kürschners weniger als die Hälfte zum Einmachen. Lies Beck gab allerdings Zucker dagegen, der bei uns sehr knapp ist. Jockel [Beck] ist vor ca. 10 Tagen aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, noch etwas schmaler als sonst. Etwa 8 Wochen mussten sie hinter Stacheldraht im Freien zubringen bei erbärmli­cher Kost. Es ist grausig, was er alles erzählte. Das sind also nun die Amerikaner, die uns die Freiheit und Kultur bringen wollen! Jockel sagte, viele wären durch diese Behandlung sehr zum Bolschewismus geneigt geworden. Er war in einem Lager in Kreuznach und wurde in offenen Güterwagen bis Erfurt gebracht. Auch das Betragen der Deutschen untereinander in dieser Notzeit wäre beschämend gewesen. Z.B. hätten sich Offiziere am Boden um einen von schwarzen Wachposten weggewor­fenen Zigarettenstummel gebalgt. Gegenseitig haben sich die Volksgenossen bestohlen, wie ja auch hier in Gotha das üble Denunziantentum geblüht hat.
[Thema Flucht vor den Russen nach Westen ] Wir überlegten auch, und hatten schon dies Thema wochenlang vorher besprochen: bleiben oder nach Offenbach ausrücken, allein „türmen“ oder mit Familie. Wie das vor sich zu gehen hatte, sahen wir in den letzten Wochen täglich an dem Rückwanderer-Elend: mit allen möglichen Gefährten, Handwagen, Kinderwagen, Schiebkarren, hoch bepackt mit Gepäck, müde Kinder oben drauf.

16.7.45
Wir blieben also da und wollten abwarten. In den ersten Tagen sah man nur ganz vereinzelt Russen, während die Amerikaner bis auf ganz wenige Posten abge­rückt waren. Das nutzten die noch hier verbliebenen Polen aus, um Läden zu plündern. Nun schritt aber doch die armselige Polizei mit Gummiknüppeln ein. Karl August erzählte auch, dass er gesehen hat, wie ein russischer Offizier auf die plün­dernden Polen einschlug. Nach und nach kam dann die Rote Armee an. Fast keine Autos, aber ungeheuer viele Pferdefuhrwerke, so kleine Panjewägelchen. Geschütze, Protzen, alles von Pferden gezogen. Und marschierende Infanterie, was man bei den Amerikanern fast nie sah. Über das Aussehen der Truppe wunderte sich alles und es gab nur eine Frage: die sollen unser Heer besiegt haben? Das erste war, daß die Russen alle erreichbaren Autos requirierten. Auch viele Fahrräder nehmen sie den Zivilisten ab. Vorher bei den Amis war schon ein lustiger, fast friedensmäßi­ger Autoverkehr. Man wunderte sich, wo die vielen Autos und das Benzin plötzlich herkamen. Jetzt natürlich alles wie weggeblasen.
In der Stadt tauchten vereinzelt rote Fahnen mit Hammer und Sichel auf und auch Transparente für unsere Besieger wurden angebracht: „Wir gedenken in Ehr­furcht der Opfer der Roten Armee, die sie im Kampf gegen das Joch des Faschismus gebracht hat“. – „Die Hitlerianer gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“. – „Wir grüßen den Genossen Stalin“, und an einer Strasse „Roosevelt­strasse“. Ob es auch andere Völker gibt, die in der Stunde der tiefsten Schmach und Demütigung noch so fröhlich dem Feind und Unterdrücker die Stiefel ablecken? In Leina war ich vor 10 Tagen, dort hatte bald jedes Haus die rote Fahne draußen hängen.
Vorigen Dienstagabend kamen plötzlich 3 Russen an und wollten die Wohnung bei Spittels und unsere sehen. Da bei Spittels gerade Herr Gutsche krank im Bett lag und Paul Spittel immer von seinem Fremdenzimmer sagt, dass hier sein Sohn schläft, beschlagnahmten sie dann bei uns Herrenzimmer und Eßzimmer. Sie sahen sich erst alle Zimmer an, fragten, wie viel Personen wir seien und meinten dann, wir hätten mit den verbleibenden Zimmern genug. Erst sollten 4 Offiziere, dann 2 kommen. Leider war gerade an diesem Tag Familie Ehlers ausgezogen. Wenn die mit ihren 2 Kindern auch noch herumgekrabbelt wären, wären wir vielleicht verschont geblieben. Wir machten jedenfalls lange Gesichter, trotzdem Paul wiederholt ver­sicher­te, er habe sie freundlichst eingeladen bei ihm zu logieren. Tilde wollte nachts zu den Eltern gehen oder wir wollten oben in der Dachstube schlafen. Schließlich machten wir unser Herrenzimmer durch Einstellen des Sofas zum Wohnzimmer und das Fremdenzimmer unter dem Dach als Schlafzimmer zurecht. Glücklicherweise nahmen sie diese fait accompli ohne Widerrede hin, und dann wohnt auch bloß ein Hauptmann Iwan Iwanowitsch Drbischew bei uns, während sein Bursche Sergeant Micha abends verschwindet. Das erste, nachdem sie Platz genommen hatten war, dass sie eine volle Flasche aus der Tasche zogen und Gläser verlangten. Ich brachte zwei an, aber sie bedeuteten mir, dass auch Tilde und ich mittrinken sollten.
Es war ein schauriges Gesöff, eine Mischung von Bier, Spiritus und Zucker. Gegen 9 wurde dem Gospodin Kapitanu das Abendessen vom Kasino oder der Regimentsküche gebracht: ein Teller voll gebratener Leberbrocken, ein Teller voll Speckwürfel, ein Brot und eine Tasse voll Zucker. Als Kavalier lud er uns zum Abend­­essen mit ein, und wir futterten in derselben primitiven Art alles gemeinsam von einem Teller mit.
Am Sonnabendabend badete Iwan, anschließend aßen wir ein paar feine Käsebrote, und immer trinken diese starknervigen urwüchsigen Russen 96%-igen Alkohol dazu. Sie machten folgenden Spaß, steckten einen Streifen Papier ins Glas und zündeten ihn dann an, worauf der Spiritus bläulich brannte und das Papier kaum versengt wurde. Die Unterhaltung war einzigartig: Da sie kaum ein einziges Wort deutsch können und wir ebenfalls nicht russisch, so mühten wir uns mit ein paar Wörterbüchern bzw. Taschenheftchen ab. Wir lernten schnell proschu = bitte und spassiba= danke. Zu den Kindern sind sie sehr freundlich und haben ihnen schon ein paar Mal Bonbons und einmal Schokolade geschenkt. – Gestern Nachmittag kam Micha und brachte einen Riesenhaufen Fleisch, 20 bis 25 Pfund wenigstens. Genosse Kapitän verlangte ein Abendessen für 5 Personen, für seinen Kameraden Hptm. Alexander Konstantinowitsch, Micha und uns beide. Tilde machte eine Brühe mit Kartoffeln (von unsern ach so knappen Kartoffeln!) und Rindfleisch zurecht. Natürlich große Mengen, aber die Herren aßen sehr wenig. Aber eine Wasserkanne voll Bier brachten sie angeschleppt. Monsieur le capitain Alexandre kann glücklicher­weise etwas französisch, so viel etwa wie wir auch, so daß die Unterhaltung nun doch etwas besser ging. Er hat auch etwas mehr Schliff, trank „a votre santé, madame“, und war auch schon in anderen Ländern, z.B. Iran. Er ist Jurist, während Iwan Bauingenieur ist. Alle haben sie kurze dicke Finger, meist sind die Soldaten von kleiner schmächtiger Gestalt, selten mal ein großer Kerl. Die Nasen typisch ein­gedrückt.
Im Nachbarhaus sind die früheren Bewohner wieder eingezogen. Herr Griese ist zurückgekommen, nur das Erdgeschoß blieb leer. Das haben ein paar russische Soldaten mit Beschlag belegt, die uns nun mit Stangen die grasgrünen unreifen Äpfel vom Baum schlagen. Micha nimmt übrigens auch regelmäßig eine Hand voll Sauerkirschen vom Baum, die die Herren vor und während des Trinkens mit Steinen essen, d.h. sie beißen sie regelmäßig unter großem Krachen auf, spucken aber die Stückchen dann aus.

18.7.1945
Seit 8 Tagen geht wieder das Gerücht um, dass die Russen abrücken und dafür die Engländer kommen. Manche Tatsachen deuten auch darauf hin. Dann fehlen bloß die Franzosen noch, dann haben wir alle der Reihe nach durch. Das Wichtigste vom Tage: gestern Abend, als wir von Goldbach zurückkamen, lag ein Brief von Offenbach da. Es geht den Großeltern Fuhr gut, ebenso Erika, Franzel und Mariechen mit allen Kindern. Bloß von Eberhard noch keine Nachricht. Tilde war ganz glücklich, endlich Nachricht erhalten zu haben. Wir feierten mit einem Anislikör, den wir von den Eltern bekommen haben und sicherheitshalber in Medizinflaschen verteilt haben. Gestern fuhren wir mit Rädern nach Goldbach und packten uns 2 Ztr. neue Kartoffeln à 12 Mark auf. Das war dann doch etwas viel, und wir mussten schieben. 3x fiel uns eines der schwankenden Räder um. Schließlich packten wir unseren Kram auf ein Pferdefuhrwerk, und Tilde holte heute morgen mit Gerd und dem Handwagen die 2 Säcke aus der Goldbacher Siedlung. - Im Garten ernten wir jetzt allerlei: Pflücksalat, Kohlrabi, Möhren, Mangold.
Ich lerne jetzt etwas Russisch, d.h. aber nicht so systematisch wie Englisch mit Grammatik, sondern nur die wichtigsten Haupt- und Tätigkeitswörter, damit man sich mal wenigstens notdürftig verständlich machen kann. Den ganzen Tag über lässt sich Iwan überhaupt nicht sehen, was Tilde sehr angenehm findet. Hoffentlich plündern die Russen nicht bevor sie abziehen, denn sie haben sich jetzt schon mancherlei zuschulden kommen lassen. Gestern wurde unser Chauffeur Seifert erschossen, als nachts ein paar Kerle im Werk 3 eindrangen. Vor ein paar Tagen fiel ein Russe Frau S……. in Siebleben an, am Sonnabend kam zu Opa ein Mädchen, welches 2 Russen vergewaltigt hatten, am gleichen Abend brachen Russen im Berggarten ein und plünderten allerlei. Im Gut Töpfleben, wo Herr Ehlers und Kürschner arbeiten, wurde gleich in den ersten Tagen die Frau des Verwalters vergewaltigt. Also stimmt doch manches, was die „Nazis“ vorhergesagt haben.
Gestern mußte ich mich in eine Liste zur Aufnahme in die Gewerkschaft einzeichnen. Oben drüber standen die 13 Programmpunkte, die verwirklicht werden sollen, u.a. Entfernung der Nazis aus Verwaltung und Wirtschaft und Erklärung des 1.5. zum gesetzlichen Feiertag. Letzteres ist bereits seit 12 Jahren der Fall. Spaßig ist nur, dass eine ganze Reihe von führenden Nazis sich bedenkenlos (oder soll man es charakterlos nennen?) in die Liste zu ihrer eigenen Beseitigung eingetragen haben, wie z.B. Trier, Weise, Emmerich, Kaufmann. Übrigens werden Pg’s noch besonders „bestraft“, indem sie 14 Tage täglich 6 Stunden Aufräumungsarbeiten machen müssen, auch Ausschachten von Kanälen und dgl.
Vor ein paar Tagen waren Onkel Ernst und Tante Grete zu Besuch da,  man kann also wieder reisen. Die Post geht aber immer noch nicht, Briefe gehen nur durch Boten und Zufallsgelegenheiten zu expedieren. Gestern besichtigte auch der russische Stadtkommandant, ein schmächtiges etwa 30jähriges nicht arisch aussehendes Kerlchen, unser Werk. Ein Benehmen wie „Rotz am Ärmel“. Schnoddrig, uninteressiert, überheblich und unhöflich. Das kann man von den russischen Offizieren, die schon Aufträge an uns gaben, (10000 Gewehrreiniger) nicht sagen: sie stehen auf, wenn ich ins Besuchszimmer komme, grüßen, geben einem die Hand und haben sich offensichtlich gefreut, als ich sie beim letzten Mal russisch dobri den (guten Tag) begrüßte.
Wir schwimmen jetzt geradezu in Fleisch: Heute früh um ½7 Kartoffelsuppe mit Rindfleischbällchen, zum 2. Frühstück Brot mit kaltem Rindfleisch, mittags Rinder­­braten, zum Kaffee den Rest vom 2. Frühstück und heute Abend kalten Braten. Oma kriegt natürlich auch reichlich (die Vegetarier, die sonst so auf’s Fleisch schimpfen), ebenso Spittels und Gutsche. Ich wollte mit Weise oder Emmerich Fleisch gegen Zucker tauschen. Ihre Frauen haben, wie sie mir selbst erzählten, im April je einen Sack Zucker aus der Kaserne „sichergestellt“ (lies geplündert!). Aber sie lehnten ab mit der Begründung, sie hätten durch das Einkochen nichts mehr.
Entzückend ist es, wenn Margrit sich mit den Russen unterhält. So sagt sie zu Micha mit größtem Ernst und er hört aufmerksam zu: „Hast du zu Haus auch ein Bärli? Und hast du eine Mutti?“ Und er antwortet auf das, wovon er kein Wort verstanden hat, in freundlichem Ton russisch, von dem wir wieder nicht die Bohne verstehen.
Ich habe sehr viel zu tun mit Kalkulationen und Arbeitsvorbereitung. Das Geschäft mit Sparherden blüht auf, ebenso mit Reparaturen.
Ich fragte neulich Iwan, ob er mir sein (geklautes) Fahrrad schenken wolle, wenn sie abrückten. Meines hätten die Amerikaner gestohlen. Fröhlich sagte er zu. Vorgestern war ein junger Leutnant Iphigenie [wahrsch. Jewgenij] mit, der gut Deutsch konnte, da konnte man sich wenigstens mal richtig unterhalten. Fast alle sind Ingenieure. Sie haben sich auch eingehend nach unseren deutschen Verhält­nissen erkundigt.

4.10.1945
Was hat sich in der Zwischenzeit alles ereignet! Ich war fast 8 Wochen von den Russen eingesperrt worden, und nach meiner glücklichen Rückkehr warf man mich auf Veranlassung des Betriebsrates aus der Fa. Blödner hinaus. Für treue 8-jährige Dienste die Quittung. Tilde ist seit 1.10.Volksschullehrerin, und ich fange morgen als Bauhilfsarbeiter bei der Fa. Böhm an. Baustelle Leinabrücke. Was anderes habe ich in den 1½  Wochen Arbeitslosigkeit nicht gefunden, überall nur Achselzucken. Es liegt mir aber aus mehreren Gründen daran, so schnell wie möglich von der Strasse wegzukommen. Nicht nur, dass ich sonst als Drohne kein Fleisch und Butter bekäme, ich befürchte auch, dass die Russen sich für die Arbeits­losen, besonders wenn es noch Ingenieure sind, sehr interessieren werden. Und dann bin ich auch zwangsläufig an dem Punkt angelangt, den wir hundertmal im Gefängnis besprochen haben: nur erst einmal wieder frei sein und dann untertau­chen als „ganz kleiner Mann“.           
Meine Erlebnisse bei den Russen liegen in dem Tagebuch, welches ich dort geführt habe, fest. Ich schreibe es gelegentlich ab. [Dieses Tagebuch bzw. eine Abschrift davon liegt mir nicht vor, wohl aber eine aus dem Jahr 2002 stammende Erinnerung, die wir hier in Kursivschrift eingefügt haben.]
Eines Tages erschien ein deutscher Zivilist und forderte mich auf, mit zu kommen nach Erfurt, wo im Hotel Kossenhaschen eine Ingenieurkonferenz stattfinden sollte. Morgen käme ich zurück, ich sollte auch die Zahnbürste nicht vergessen, sagte dieses russenhörige Schwein. Es ging aber nicht nach Erfurt, sondern in ein Haus in der Robert-Blum-Straße. Dort befanden sich ca. 15 – 20 Herren im Parterre und augenblicklich wurde mir klar, dass wir Gefangene der Russen waren. Der erste Stock war von einer Familie noch bewohnt. Am nächsten Tag nahm ich mit dieser Familie über den seitlichen Balkon Kontakt auf. An einer Schnur zog der Mann einen Zettel mit meiner Adresse und der Telefonnummer meiner Eltern nach oben. Und so besuchten mich dann in den nächsten Tagen täglich meine Eltern und Tilde mit den Kindern. Es wollte mir das Herz zerreißen, als Paulchen beim Verabschieden sagte: „Vati, komm doch mit uns heim“. Ich schlug meinem Vater vor, ehe wir alle in die Zwangsarbeitslager kämen, uns alle 5 mit einer Spritze zu töten. Er schlug das natürlich brüsk ab. Es war richtig, und so konnten wir noch 10 Jahre mit meinen Eltern Familienfeste feiern, Ausflüge und Reisen machen, sogar im Auto nach Westdeutschland fahren.
Also an dem betreffenden Morgen fuhren Lastautos vor, und wir wurden wie Vieh verladen. Sitzplätze gab es nicht. Ich war so verzweifelt, dass ich manchmal bei der rasenden Fahrt dachte, wenn doch der Laster nur umfiele und wir alle umkämen. Irgendwo kurz vor Halle lagerten wir auf einem Feld, wo schon viele andere Gefan­gene auf der Erde saßen. Ich kam mit einem pommerschen Mann ins Gespräch, der hungrig auf meine belegten Brote sah: Er hätte den ganzen Tag noch nichts ge­ges­sen. Ich gab ihm eine Stulle, und er erzählte, dass er aus der Gegend von Schneide­mühl stamme und von der Flucht meines Verwandten, dem Mann von Cousine Margarete ( geb. Hillmann, Tochter von Vally Mendrim, der Schwester meines Vaters,) Otto Paech, Distriktskommissar im Netze-Distrikt, von dessen Flucht [vor der russi­schen Armee] nach dem Westen wußte, und dass er sich und seine Frau erschossen habe, als das Auto versagte und sie nicht weiter konnten.
Dann wurden wir Gefangenen nach Halle gebracht und in einer vornehmen leer stehenden Villa abgesetzt. Nach etwa 2 Tagen in der Hallenser Villa marschier­ten wir (ca. ein Dutzend Mann) nachts durch die Stadt und überquerten dabei eine Saale-Brücke. In meiner tiefen Depression dachte ich wieder, wenn ich jetzt aus dem Trupp heraus renne und über das Brückengeländer in die Saale springe, bin ich frei!! Endlich kamen wir in ein umzäuntes Barackenlager und wurden alle in einem völlig leeren kahlen Raum als unserer Wohnung für die nächsten 2 bis 3 Wochen einge­sperrt. Inventar: ein „Scheißeimer“ und ein Wandbrett mit einer Kanne Wasser zum Trinken, Waschen, Zähneputzen und Rasieren. Jeden Tag hatte ein anderer Insasse „Barrasch“-Dienst, d.h. er mußte den Scheißeimer weg tragen, ausleeren, sauber machen und die Trinkwasserkanne füllen.
Sitzgelegenheit gab es keine, nur der nackte Fußboden, auf dem wir Tag und Nacht standen, saßen oder lagen. Um die Zeit tot zu schlagen, erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten, Erlebnisse und Ereignisse, etwas über unseren Beruf. Die meisten waren Ingenieure, zwei waren Chefkonstrukteure für Flugzeugbau in der Gothaer Waggonfabrik. Die Essenzuteilung übernahm ein etwas älterer Herr aus Gotha, und es wurde bei der knappen Suppe eifrig darauf geachtet, dass keiner etwa einen Schöpflöffel mehr bekam. Nach und nach wurde jeder einzeln von einem Major verhört. Herr Hühnerjäger beschwerte sich, dass wir nicht einmal im Freien frische Luft schnappen durften. Er hatte Erfolg: von da ab durften wir täglich eine Stunde in dem umzäunten Hof spazieren gehen. Natürlich fieberten wir jeden Tag der Frei­stunde entgegen. Ein einziges Mal durften wir uns in einem Waschraum duschen.
Nach 2 oder 3 Wochen fuhren wieder Lastautos vor, die Leichtgläubigen dachten, jetzt ginge es nach Gotha zurück. Irrtum! Es ging in ein großes Gefange­nen­lager in Wansleben mit großen Ziegelhäusern, offenbar noch im Krieg als Unterkunft für Zwangsarbeiter genutzt. In den großen hellen Räumen standen zwei­stöckige Luftschutz-Bettgestelle mit Matratzen. Wir hatten das Gefühl wir kommen in ein Hotel. Alles war besser und lockerer als in der elenden Baracke in Halle: den ganzen Tag standen im Erdgeschoß ein oder zwei beheizte Waschkessel zur Verfügung. Im Lager waren vielleicht 100 Gefangene, ich traf auch Leute von der Firma Blödner. Die Wachtposten im Lager drückten ein Auge zu (gegen Zigaretten) wenn Schleuser Pakete ungeniert ins Lager trugen. Hier traf ich auch den Mann wieder, dem ich auf dem Feldlagerplatz vor Halle eine Scheibe Brot geschenkt hatte. Hier im Lager hatte er gute Beziehungen nach draußen, und eines Tages gab er mir eine Tomate und ein Stückchen Schinken. Ich verzog mich in meinen Schlafsaal, setzte mich auf den Bettrand und erlebte die schönste Mahlzeit meines Lebens. Nach ein paar Tagen [lt. Chronik am 13.9.] war ich gerade in der Waschküche und hängte etwas auf die Wäscheleine, als ich zum blutjungen Kommendanten gerufen wurde, der sich auf einem Sessel vor seinem Schreibtisch fläzte. Er teilte mir mit, gegen mich läge nichts vor, ich könne nach Hause gehen. Dasselbe passierte den Flugzeugkonstrukteuren von der Gothaer Waggonfabrik, die ja im Krieg Flugzeuge baute. Der Grund: wir 4 Leute waren nicht in der NSDAP. Mir unfassbar: die hoch spezialisierten Ingenieure ließen sie laufen, den elendsten Hilfsarbeiter oder Bauern aber hielten sie ca. 4 Jahre in Lagern fest. Einer erzählte mir später, sie hätten freiwillig arbeiten oder gelangweilt herumlungern können. Er hätte sich für „Arbeit“ entschieden, hätte es dann aber sehr bereut.
Also wir 4 Entlassenen zogen los, meldeten uns beim Bürgermeister in Eisleben und bekamen eine handvoll Lebensmittelmarken. Dann ging’s in ein Gasthaus, und seit Wochen saßen wir endlich [lt. Chronik nach 7½ Wochen] wieder einmal an einem gedeckten Tisch und konnten von Tellern (!) essen.       
  Es war ein glücklicher Tag. Und Butter und Wurst auf dem Brot, welch lang entbehrter Genuß! Die Fahrt in den warmen Herbsttag und Abend war trotz der Fülle ein Genuß. Um 10 Uhr waren wir in Gotha und um ½11 stand ich vor der Glastür, nachdem mich Frau Gutsche ins Haus gelassen hatte.
Mein geliebtes Tildebutzchen war rein fassungslos, hatte sie mich doch in Russland geglaubt, denn außer dem ersten Brief von Halle, den ich gleich nach der Ankunft verschickte, war nie mehr ein Lebenszeichen von uns nach Gotha gelangt. Erst 8 Tage nach meiner Rückkehr kam ein weiterer Brief aus Wansleben. – Ich zog mich auf der Treppe erst einmal pudelnackt aus und legte alle Sachen in meine Zeltbahn, das Ganze dann in die Waschküche, um kein Ungeziefer in die Wohnung hereinzubringen. Dann wurde ein heißes Vollbad genommen, welche Wonne nach der langen wascharmen Zeit. Und dann ging’s ans Erzählen, und wenn wir um 4 Uhr früh nicht endlich aufgehört hätten, wären wir überhaupt nicht mehr zum Schlafen gekommen.
Am anderen Morgen, nach genießerischer Toilette unter fließendem Wasser und einem solennen Frühstück, schaffte ich erst mal sämtliche Sachen in die Ent­lausungsanstalt am Fliegerhorst. Als ich nämlich in die Waschküche kam, saßen traurig 2 dicke Wanzen da, die ihr gewohntes Nachtmahl vermißt hatten. 

15.11.1945  So, nun geht’s endlich mal wieder weiter, nachdem ich in der Zwischen­zeit wieder 3 Wochen „gesessen“ habe. Langsam kommt man sich wie ein Gewohnheits­verbrecher mit so und soviel Vorstrafen vor. Die ersten Tage nach meiner Rückkehr von den Russen waren herrlich. Der eine Gedanke schon machte einen selig: frei, frei, frei. Und Tilde kochte, was die schmale Speisekammer und die Marken herga­ben, so dass ich mich endlich mal satt essen konnte. Und sogar von Tellern am Tisch sitzend, und Obst und Gemüse, ja sogar Fleisch!  Am Sonntag machte der „Barrasch­­klub“ einen Frühschoppen in der Goldenen Schelle. Danach ging ich ins Geschäft [Geschäft war der übliche Ausdruck für den Betrieb, für mich als kleines Kind insofern etwas verwirrend, als wir dieses Wort auch in der Form „ein Geschäft machen“ für die Verrichtung der Notdurft gelernt hatten], denn der Alte [Firmenchef]  hatte mich schon rufen lassen. Es lägen wichtige Aufträge von den Russen vor. 700000 Pferdehufeisen. Ich bat dann aber erst mal um eine Woche Urlaub, um mich etwas zu erholen und um aufs Land zu fahren wegen Obst und Nahrungsmitteln. Dann wollte ich den Frauen all der Männer, die noch in Wansleben steckten, Be­scheid geben, fuhr mal nach Pferdings­leben zu Fr. Merten, nach Eschenbergen wegen Stecher, nach Burgtonna zu Stein. Auch Hildebrand und Griese besuchte ich. Dann gingen wir wiederholt in die Obst­baum­schule und sammelten Saubohnen auf den abgeernteten Feldern, auch mal mit den Kindern. Es waren ein paar sehr schöne sonnige Tage, bevor die nächsten düsteren Wolken am Himmel aufzogen. Nach 8 Tagen teilte mir H.Trier in seiner Wohnung mit, dass mich die Firma aufgrund einer Entschließung des Betriebsrates entlassen müsse. Ich hätte mich „in hervorragen­dem militaristischen und nazisti­schen Sinne betätigt, trotzdem ich kein Pg war“. Und diese Jammerlappen von Trier und Maelzer sen. wagten nicht, gegen den Beschluß des Betriebsrates aufzustehen, weil sie um ihre eigene Stellung fürchteten. [In den Erinnerungen heißt es noch: Inzwischen wurde nun das übelste kommunistische Pack nach oben auf die Direktionssessel geschwemmt und kündigte mir.] Nach Rücksprache mit Meister Weisheit 1, H. Schröder von Fa. Graf und Herrn Ihling vom Arbeitsamt erhob ich Einspruch und Klage beim Arbeitsgericht. Bei der Vorinstanz, dem Freien Deutschen Gewerk­schafts­bund (FDGB) war ich schon durchgefallen, wobei noch bemerkenswert ist, dass in der Sache Mendrim, Mitglied des FDGB, kontra Betriebsrat, eingesetzt durch den FDGB, der FDGB als Schiedsrichter gegen sein eigenes Mitglied geurteilt hat. [Erinnerungen: Nun schlug das Pack zu und ließ mich durch die Polizei verhaften. Mehr dazu weiter unten]
In der Zwischenzeit versuchte ich überall eine Stelle zu bekommen, natürlich vergebens. Endlich als Schlosser bei der Mitropa und beim Reichsbahnausbesse­rungs­werk. Bei letzterem wäre ich genommen worden wenn - ….. ja wenn ich nicht von 1934 – 1935 der SA angehört hätte. Also auch nicht als Arbeiter darf ich be­schäftigt werden, während solche „Nazis“ wie Kaufmann, Emmerich, Bochert ruhig in ihren Posten bleiben. Ich fuhr extra noch mal nach Erfurt deswegen, auch dort Absage. Und das, trotzdem ich zufällig Zeuge eines Telefonates zwischen dem hiesigen Werksdirektor Winter und dem Arbeitsamt war, wonach dieser dringend 100 Arbeiter anforderte und mit seinem auftraggebenden russischen General drohte. Überschrift: Wiederaufbau mit allen Kräften. Es blieb mir nichts anderes übrig, als bei der Fa. Richard Böhm als Bauhilfsarbeiter am 5.10. anzufangen. Mit Hacke und Schaufel arbeitete ich nun in der 2. Schicht an der Leina-Reichsautobahnbrücke mit. Natürlich fällt unsereinem die Arbeit nicht leicht, aber man gewöhnt sich dran. Und nichts ist so schlimm als daß es nicht auch was Erfreuliches mit sich brächte. Wir kriegen dort warmes Mittagessen ohne Marken und können täglich einen Rucksack voll Holz mitnehmen. Und der Arbeitseifer ist im 2. und 3. Reich wie auch im 4. Reich  genau der gleiche geblieben.  Als ich in den ersten Tagen zu meinen Kollegen, die schon lange klönend herumstanden, sagte: „los, wir wollen noch was arbeiten, da vorne kommt auch gerade der Polier“, erwiderte einer:“ was geht uns das an, du scheinst das Arbeitstempo hier noch nicht zu kennen“. Und da ich ja schon einmal wegen zu viel Arbeitens als militaristisch und nazistisch gemaßregelt worden war, gab ich hier schleunigst klein bei und passte mich an. 
Am 16.10. sollte nun beim Arbeitsgericht Termin sein. Da wurde ich am Sonnabend den 13., als ich abends von der Arbeit nach Hause kam, von zwei Polizisten verhaftet. Natürlich dachten wir anfänglich, es ginge wieder von den Russen aus. Schon bald aber stellte es sich heraus, dass ich in den Händen der deutschen „Kriminalpolizei“ war. Die Unterbringung [in den Fabrikationsräumen einer   Spielwaren­fabrik am Schützenberg ] war wesentlich besser als bei den Russen: ein großer heller Raum mit Betten, Tischen und Stühlen, Waschraum und Klo, letzteres im Hof. Tilde und Eltern konnten mich täglich besuchen, und ich konnte unter polizei­licher „Bedeckung“ sogar zum Einwohnermeldeamt, zu Dr. Graf, zur Bank und zum Frisör gehen. [Erinnerungen: Ich bekam eine „Anklage­schrift“, wie schlecht ich bei Blödner meine Arbeiter und die Werkfrauen behandelt hätte. Ich entwarf für jeden „Fall“ eine Richtigstellung.] Hässlich aber war wieder die Ungewissheit, und fast dauerte es 3 Wochen, bis ich erst mal verhört wurde. Das war zum 1. Mal am Donnertag den 2. November, dann aber gleich von morgens ½ 9 – 19 Uhr. Und nun stellte sich heraus, was ich längst geahnt hatte: dem Betriebsrat, an seiner Spitze Range, verdanke ich die Verhaftung. Er hatte am 15.10. einen Bericht an das Arbeitsgericht mit seiner Stellungnahme und seinen Anklagepunkten geschrieben, gleichzeitig eine Kopie an die Kriminalpolizei gesandt. Da ich aber schon am 13. verhaftet wurde, muss also Range, der auf der Polizei ein und aus geht, vorher schon mündlich einen Wink gegeben haben. Er hat mir damit übrigens schon früher bei einer Aussprache mit der Kriminalpolizei gedroht. Verhört wurde ich durch Herrn Kriminalobersekretär Radzek. Er wollte mir „goldene Brücken bauen“ wie er sagte, wenn ich klein beigäbe. Und das hatte ich ja auch schon 8 Tage früher getan, als ich durch Herrn Rechtsanwalt Kibath meinen Einspruch beim Arbeitsamt zurückziehen ließ. Radzek sagte mir klipp und klar, dass ich nicht eingesperrt worden wäre, wenn ich still gewesen wäre und jetzt erst mal ½ oder 1 Jahr von der Blödner-Bühne verschwunden wäre.  – Ich mußte einen Lebenslauf schreiben, dann zu den „Anklagepunkten“ ausführlich Stellung nehmen. Das meiste diktierte ich in die Maschine. Nachher wurde ein Teil der Zeugen bzw. Ankläger in meinem Beisein vernommen, wobei fast alle „Ver­ge­hen“ gegenstandslos oder zumindest unbedeu­tend wurden. Im Einzelnen kam folgendes vor: 1. Vorarbeiter Gutt behauptete, ich hätte gesagt: „Tretet den Ausländern in den Arsch und haut sie in die Fresse“. Mir gegenübergestellt gibt er an: er hat das überhaupt nicht dem Betriebsrat zu Protokoll gegeben, sondern nur gesprächsweise dem Pförtner Bauer gesagt. Haut sie in die Fresse hätte ich auch nicht gesagt, und der Ausdruck „tretet den Ausländern in den Hintern“ sei einer der üblichen rauen Betriebsredensarten, von denen er keinesfalls annehme, dass sie von mir wörtlich gemeint seien. Pluspunkt Nr. 1.
 [Es geht im Text noch weiter mit einer Reihe solcher aufgebauschter Lappalien wie Androhung von Geldstrafen und anderen Strafen bei Verursachung von Ausschuß oder Arbeitsverweigerung am Sonntag, wobei Sonntagsarbeit im letzten Kriegsjahr üblich war]
Freitag gegen ½ 11 wurde ich dann nach Hause geschickt. Tilde, die ja seit 1.10. wieder als Lehrerin tätig ist, war gar nicht zu Hause. Sie bekam einen freudigen Schreck, als sie nach Hause kam und mich da im Hof stehen sah. Die Tage vorher war ich noch sehr niedergeschlagen und Tilde hingegen sehr zuversichtlich.
Nach der Entlassung erholte ich mich erst mal einen Tag, und nun arbeite ich schon wieder 1½ Wochen in Dreck und Regen, Kälte und Nebel auf der Baustelle. Aber es ist doch schön, vor allem wenn man frei ist und abends gemütlich in der Küche bei seinem strümpfestopfenden Frauchen sitzen kann. Musiziert haben wir auch schon wieder zweimal, Dr. H. [der Bratscher des Streichquartetts] freute sich so offensichtlich, als er mich wieder frei sah, dass es einem ordentlich wohl tat. Tilde hatte übrigens mit Lotte in aufopferungsvoller Weise Unterschriften für mich gesammelt, in dem Sinne, dass ich den Unterzeichner persönlich anständig behandelt hätte.
Jetzt droht schon wieder ein neuer Schlag: die Enteignung alter Nazis vor 1933 und auch von Nicht-Pgs, wenn sie sich in hervorragenden militaristischen …….
Spittels haben jetzt seit ein paar Tagen einen russischen Oberst als Einquar­tierung. Wohn- und Schlafzimmer mussten sie abgeben, dann haben noch Gutsches ein Zimmer. Wir haben seit 1.10. Fremden- und Herrenzimmer an einen Studienrat aus Oberschlesien mit Frau und 9 jährigem Töchterchen vermietet, damit wir nach  Verlust unseres Vermögens und meiner guten Einnahmen wenigstens die Woh­nungs­miete bezahlen können. Die Wohnungsmiete kostet 77 Mark, die möblierten Zimmer bringen allein 50 Mark.

30.12.1945
Das erste „Friedensweihnachten“ ist nun vorbei, und das erste Friedensjahr 1946 steht drohend vor der Tür. Ich arbeite immer noch bei Böhm draußen an der Leina-Brücke, jetzt aber nicht mehr in der 2. Schicht sondern am Tage, zeitweilig von 7 – 17 Uhr, jetzt in den letzten Wochen von 8-16 Uhr. Es war auch schon sehr kalt, bis - 120  und Schnee gab’s auch. Das war nun freilich weniger schön, vor allem im Schneetreiben oben auf der Brücke, wenn obendrein der Wind noch ungehemmt dahinpfiff. Leider hat seit dem 23.12. das Mittagessen auf der Baustelle aufgehört, was sowohl mich als auch Mutti hart getroffen hat. Und auch mit dem Holz wird es elend knapp. Immerhin habe ich einen ganz schönen Haufen heimgeschleppt und gestern beim Nachbar Schmidt auf der Kreissäge schneiden lassen. Ich bekam noch Krach mit ihm wegen dem Preis. Er verlangte 2.50 M, was mir für die 20 min doch etwas hoch erschien. Schließlich ging er auf 2.- M herunter. Von Böhm bekam ich einmal 80 Pfd. Gemüse und später noch mal 50 Pfd. Kohlrabi, was heute sehr viel wert ist.
Die Russen haben im Sandwerk die Maschinen beschlagnahmt, Herr Rey [der Inh. der Fa. Böhm] ist nach Berlin gefahren um Protest einzulegen, denn ohne Sand ist die ganze Bautätigkeit im Kreis Gotha gefährdet. Entlassungen und Arbeitslosigkeit drohen.
Anfangs sollte zwischen Weihnachten und Neujahr nicht gearbeitet werden, aber auf Befehl der russischen Militäradministration müssen Verkehrs- und lebens­wichtige Betriebe arbeiten, sogar Sonnabend d. 29.12. voll und Sonntag d. 30.12. halb. Da der größte Teil der Belegschaft aber nicht an die Arbeit kam, ließ ich mir auch gestern und heute freigeben. Die Fahrbahn ist übrigens am 15. Dezember fertig geworden, jetzt werden nur noch die Windverbände angenagelt und ein Flutgraben als Hochwasserschutz für Leina ausgehoben.
[Es folgt eine Beschreibung des Weihnachtsfestes, bei der die Zeitverhält­nisse dadurch illustriert werden, dass in Ermanglung von käuflichem Spielzeug nur vorhandenes repariert werden konnte und einige Bauklötzer, die mit dem Werkzeug des Haushalts zu fabrizieren waren, auf den Gabentisch kamen. Während des Krieges konnte unser Vater mit den Maschinen der Tischlerei in der Firma sehr schöne Spielsachen bauen, z.B. einen funktionstüchtigen hölzernen Kran, ein Lastauto, eine Puppenwiege oder eine Schwebebahn mit Station. Die Feiertage seien trotz der Mangelsituation recht gemütlich und harmonisch gewesen, woran die folgende Betrachtung anschließt.]
Wieviel Millionen armer unschuldiger Menschen haben das nicht mehr. Und nicht genug des durch die Sieger erzwungenen Elends all der Ostflüchtlinge, bemü­hen sich die tüchtigen „Antifas“, das Elend noch zu vergrößern durch Hetze und Enteignung aller Pgs, durch Verhaftung und Schikanen, Entlassungen und sonstige Reformen. Auf der einen Seite rufen sie auf zur Hilfe und allgemeinen Mitarbeit aller bei der „Thüringer Aktion gegen Not“, auf der anderen Seite gemeinster Raub und Diebstahl an rechtschaffenen Menschen, die bestimmt an den Verbrechen, die in den KZ ja wohl begangen worden sind, unschuldig sind, genauso unschuldig wie an der Entfesselung des Krieges, den keiner von ihnen gewollt hat. Opa schwebt auch zwischen Hangen und Bangen, ob man ihm nicht die Praxis wieder schließen wird, die er doch nur mit Aufbietung seiner letzten Kräfte ausübt, um sein Leben zu fristen, nachdem sein Vermögen zum 2. Mal dahin ist. In der Zeitung stand, daß auch der Ärztestand von nazistischen und faschistischen und hitleristischen „Elemen­ten“ gereinigt werden muß. Wenn man dazu noch den Nürnberger Prozess halbwegs unvoreingenommen verfolgt, wo sie von jedem Pg, SA- und SS-Mann als Straßen­räuber und Verbrecher sprechen, möchte man die Hände vor das Gesicht nehmen und heulen vor soviel Schmutz und Verlogenheit.
Hier sind auch schon viele Pg und führende Leute enteignet worden bzw. aus ihren Wohnungen rausgesetzt worden, so z.B. Frau Weise, deren Mann seit Anfang Oktober verhaftet ist, Frl. Schoch, die Klavierlehrerin von Gerd, Frau Wagner aus dem Haus von Jockel Beck, deren Mann vor 3 Monaten von den Russen über den Haufen geschossen wurde. Auch hier schwebt das Damoklesschwert über Opa, der sich die 5 Kriegsjahre  freiwillig für die leidende Menschheit aufgeopfert hat. Beraubungen in Eisenbahnzügen ist übrigens was Alltägliches, wie Frau Gutsche erzählte, als sie kürzlich in Berlin ihre Schwester besuchte. Ein junger Kollege vom Bau wurde über Weihnachten, als er seinen Koffer verteidigte, von Russen angeschossen.
Die Lehrer bekamen übrigens eine schöne Ferienaufgabe. Es muß eine Bevölkerungszählung durchgeführt werden nebst Grundstücksverwendung. Tilde machte sich gleich an die Arbeit. Jetzt hinterher kommt noch eine zusätzliche Fragestellung, nämlich wie viele Aborte mit und ohne Wasserspülung auf jedem Grundstück vorhanden sind, also muss sie noch mal überall rum! - Langsam kommt eine Teuerung und Steuererhöhung ins Land, genau wie nach dem 1. Weltkrieg. Zunächst wurde die Lohnsteuer um 25% erhöht. Seit ein paar Tagen muss für jede Kinokarte 50Pfg. extra, für jede Vergnügungsveranstaltung 1 M, für eine Straßen­bahnfahrt 0,05M und für 1Liter Bier 0,50M extra bezahlt werden, um die Finanzen der Stadt angeblich zu sanieren. Außerdem soll jeder einmalig 10% seines Monatsein­kommens opfern. Aber öffentlich haben sie auf das dauernde Sammeln und Opfern bei den „Nazischweinen“ geschimpft.
Glücklicherweise haben wir jetzt schon von vielen Seiten Nachricht, wenn auch nicht immer die besten. Aus Hamburg hörten wir, dass Onkel Max verhaftet ist und sich in einem Lager befindet. Aus Offenbach bekamen wir schon 2 Briefe, auch von Erika aus Altenburg 1 Schreiben. Ebenso von Frau Wegehaupt, ihr Mann eben­falls verhaftet. Also überall das gleiche Elend. Hier haben die Nazis bei ihren vielen lügenhaften Voraussagen mal wirklich Recht behalten, nämlich, dass wir rechtlose Sklaven der Sieger werden würden.

1.1.1946
Jetzt hat der Oberst , der bei Spittels wohnt, noch seine Familie, bestehend aus Frau, 14-jähriger Tochter Dagmar und 8-jährigem Jungen Victor herkommen lassen. Die armen Gutsches mussten darauf auch noch ihre letzte Zuflucht räumen. Und das ausgerechnet zwei Tage vor Weihnachten. - Kürzlich beobachtete ich ein herrliches Schauspiel. Victor nahm sich einen Stock, hielt ihn sich vor den Bauch [wie ein Gewehr im Anschlag] und pflanzte sich vor Hans Hennemann [Spielkamerad aus dem Nachbarhaus] auf. Dann führte er ihm erst die eine, dann die andere Hand hoch, und nun erst begriff ich langsam das nette Spiel, vor allem als der kleine GPU-Scherge seinen Gefangenen nach Waffen am Körper abtastete. Schließlich schubste er ihn herum, bedeutete ihm, vorwärts zu marschieren und rief laut und vergnügt: dawai,dawai! Alles natürlich mit hoch erhobenen Armen. Kommentar überflüssig!    
Täglich denke ich mehrmals an meine armen Ingenieurkollegen, die noch immer von den Russen gefangen gehalten werden. Wenn ich mir das vorstelle, dass ich jetzt dort sitzen müßte, so trostlos öde eingesperrt, ich glaube, ich würde es nicht ertragen. Wo ich schon in Halle manchmal ganz verzweifelt war. – Karl August Maelzer ist auch noch nicht zurück. Ich besuchte vor ein paar Tagen Anni Maelzer, sie hat jetzt auch 2 Familien im Haus, dazu kommt, dass sie ihr schon ein paar mal Möbel aus der Wohnung fort holten, angeblich zur Ausstaffierung von Russen­wohnungen. Es sah auch sehr öde in dem früher so feudalen Eßzimmer aus.
Ich habe mich zur Umschulung als Volksschullehrer gemeldet, 3 – 6 Monate Ausbildung, dann „Laienlehrkraft“ mit einem Gehalt von 220 M. Dazu brauche ich aber noch eine politische Unbedenklichkeitsbescheinigung, und am besten müßte ich in eine Partei eintreten, wozu ich mich aber nicht entschließen kann. Tilde verdient als Lehrerin ein Heidengeld, ich glaube über 350 M sind es. Da kann ich mit meinen 130 M freilich nicht mit.

4.2.1946
[Es folgt die Beschreibung einer Odyssee zur Erlangung der Unbedenklich­keits­bescheinigung, d.h. von der Politischen Polizei über das Antifa-Komitee und das Parteibüro der KPD zum Büro zur Betreuung der Opfer des Faschismus. Dort sagte man ihm:]
Um das politische Unbedenklichkeitszeugnis zu erhalten, sollte ich aber erst vom Betriebsrat meiner früheren Firma eine Bescheinigung bringen, Tableau! Vierzehn Tage später versuchte ich es noch mal über die politische Polizei, mit Hilfe „meines Freundes“ Radzek [zu Radzek s.o.]. Von dort ging die Sache weiter zu den vier Antifa-Parteien, und schließlich mußte ich dann auf dem Rathaus hören, daß außer der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) alle anderen Parteien Einspruch erhoben haben. Ich bin also politisch bedenklich, wahrscheinlich ein „verkapptes Nazi-Element“, oder drastischer, ein „Nazischwein“. Gerührt von so viel Güte bei der LDP traten Tilde und ich einige Tage später in diese Partei ein. Aber meinen Traum vom Volksschullehrer habe ich an den Nagel gehängt. Inzwischen bekam ich [als Reaktion auf schriftliche Bewerbungen] auch verschiedene Aufforderungen, mich wegen einer Stellung persönlich vorzustellen, z.B. Reichsbahnausbesserungswerk Gotha, Technischer Überwachungsverein Weimar, Verkehrsamt Weimar, Landesamt für Arbeitsschutz (Gewerbeaufsicht). Überall scheiterte es an meiner politischen Anrüchigkeit, Leistung ist Nebensache, wie auch bei den Lehrern.
Ich besuchte Onkel Ernst und Tante Grete, brachte ein paar Briketts mit, die ich vorher von einem Lastauto gegen eine Zigarette eingetauscht hatte. Die Züge waren sehr voll, auf der Rückfahrt allerlei Erlebnisse mit Russen, wie sie Koffer klauen, Abteile räumen und Kinder einfach aus dem Fenster reichen, so daß in Erfurt eine Mutter verzweifelt eines ihrer 3 Kinder suchte.
Es erfolgte wieder mal eine Aufforderung, alle Waffen abzugeben. Während die Alliierten aber nur Feuerwaffen und Munition verlangen, geht unser Oberbürger­meister darüber hinaus und verlangt, daß auch Luftgewehre abgegeben werden. Ehe ich meins abgegeben hätte, hätte ich es lieber kaputt gemacht. Glücklicherweise konnte ich es „unserem“ Oberst für 2 Brote, 1 Pfd. Mehl und 13 M verkaufen. Jetzt schießen unsere Kinder mit Viktor um die Wette die Bolzen auf die Scheibe.
Übrigens hat ein Kollege vom Bau, früher Ingenieur bei der Gothaer Waggon­­fabrik, das politische Unbedenklichkeitszeugnis bekommen, trotzdem er Pg war! Das ist also dasselbe wie bei Blödner, wo Pgs auch weiter in leitenden Stellun­gen sind, wie z.B. der Alte [Seniorchef Maelzer], Kaufmann, Emmerich, Bochert, Weisheit 2. Übrigens ist „mein Freund“ Range jetzt Direktor geworden, jedenfalls sitzt er im Zimmer von Trier und hat Prokura, während Trier [der kaufmännische Direktor] auch rausgeworfen worden ist.
Nun noch kurz in Schlagzeilen ein paar wichtige Tagesereignisse. In der ganzen Welt Streiks, Meutereien, Spannungen, besonders zwischen England und Russland wegen Griechenland, Persien, Syrien und Libanon, Indonesien, wo eng­lische Truppen stehen, die dort die Sicherheit aufrechterhalten. Umgekehrt gehen die Russen nicht aus Mandschukuo [der 1932 – 1945 bestehende Satellitenstaat Japans in der Mandschurei], sondern schleppen dort Maschinen und Industrieein­richtungen weg, wozu sie nicht berechtigt sind. Frankreich strebt Abtrennung des Rheinlandes und Internationalisierung des Ruhrgebietes an und widersetzt sich der Bildung einer Zentralverwaltung des ganzen Deutschen Reiches. Und gegen Franco-Spanien wird jetzt von überall, selbst aus Ländern, deren Bewohner z.T. kaum wissen dürften, wo Spanien liegt, der diplomatische Generalangriff gestartet.
Gestern Nachmittag war ich mal bei Trier. Er soll aus der Wohnung, wo er sowieso nur noch ein Zimmer und Küche bewohnt, ganz raus und enteignet werden. Opfer des Antifa! Abends waren wir im Theater ……..  Leider fand der Abend einen häßlich-gräßlichen Abschluß. Wegen der nächtlichen Unsicherheit hielten wir uns schon immer bei anderen Leuten auf dem Nachhauseweg. Als wir gerade in der Leesenstr. waren, ertönten 2 Schüsse, und markerschütternde Hilfeschreie einer Frau, die einem durch und durch gingen. Und nun nicht helfen zu können und diese bewaffneten Bestien gewähren lassen zu müssen, statt sie halb tot zu schlagen, ist furchtbar. Und die Schreie hörten nicht auf, schließlich bellte noch ein Schuss auf. Wir drückten uns seitlich in die August-Blödner-Str., als uns im Nebel eine Gestalt entgegenkam. Schließlich gingen wir 5 Personen doch zur Waltershäuser Str., dann schräg zu Dr. H. rüber, wo wir Leute sahen. Nun hörten wir, dass ein Mäd­chen vom Ballett, das bei H.s im Haus wohnt, angeschossen worden war und jetzt bei H. drin lag. Der Vater des armen Dings stand mit einem Offizier auf der Strasse, wir gingen vorbei, da kamen uns von der Kaiserstr. ein halbes Dutzend Gestalten im Nebel entgegen. Ich dachte, es wären Zivilisten und drängte schnell nach Hause. Es waren aber Russen, die uns zurücktrieben und „stoj“ brüllten, was wir anfangs gar nicht verstanden, bis endlich ein Deutscher rief: „nicht laufen, bleiben sie doch stehen, sonst schießen die“. Wir sammelten uns nun alle bei dem Offizier, der mit seinen Leuten palaverte. End­lich konnten wir dann nach Hause gehen, wo uns Oma schon an der Haustür in 1000 Ängsten erwartete. Na, das war eine schöne Aufregung und wir konnten lange nicht einschlafen. Wir haben die Nase voll vom abendlichen Ausgehen. Heute früh kam Frau Spittel, ein Major war beim Oberst und sagte, sie hätten den Kerl erwischt, heute würde er erschossen. Beruhigungspillen fürs Volk? [Etwas später schreibt er: Also das Mädchen vom Ballett ist nicht angeschossen worden. Ein Russe hat sie hingeworfen, sie wehrte sich und trat, worauf der Kavalier ihr mit ihrem eigenen Köfferchen ins Gesicht schlug, so daß sie blutete. Und den Kerl haben sie nicht erwischt, denn vor 2 oder 3 Tagen war ein Kriminalbeamter bei Spittels und wollte hören, ob der Oberst als evtl. Täter in Frage käme.]

17.3.1946
Seit Montag arbeite ich wieder am Wiederaufstieg mit, indem wir die Hallen im Fliegerhorst wieder abreißen. Sie sollen nach Russland verladen werden. [Erinnerungen: Dort lernte ich auch, Telefonleitungen aus den Wänden zu reißen und den erstklassigen Kupferdraht mit nach Hause zu  nehmen, wo er mir noch jahrelang wertvolle Dienste bei Reparaturarbeiten im Haushalt leistete.] Das einzig Erfreuliche ist, dass es wieder täglich einen Rucksack voll Holz gibt. Am Sonnabendnachmittag  fuhr ich mit den Kindern und unserem Leiterwagen zum Fliegerhorst, um Holz aufzuladen. Da ich leider keinen Beleg hatte, konnten uns zwei seit neuestem dort postierte Schupos daran hindern, die zersplitterten Bretter, die wir selbst vom Dach heruntergeworfen hatten, mitzunehmen. Da fuhren wir dann zum Sandwerk von Böhm und holten wenigstens die 1½ Ztr. Briketts ab, die jedes Gefolgschaftsmitglied  bekam. [Der Begriff Gefolgschaft stammt noch aus dem 3. Reich und war  gebräuch­lich für die Belegschaft, an deren Spitze der Betriebsführer stand.]

2.4.1946
Sonnabend fuhr ich mit Tilde bei bester Stimmung und schönem warmen Wetter per Rad auf die Kartoffeljagd. Zuerst nach Leina zu Frau Schott, wo wir zwar keine Kartoffel, aber wenigstens Kaffee und Kuchen und 4 Eier erhielten. Bei Rauch und Schottmann nichts, nicht eine Bohne. Alsdann nach Gospiteroda, dort 1Liter Magermilch, und schließlich nach Emleben, wo wir von Wachtelborns ca. 10 Pfd. Kartoffeln und von Herrn Willing trotz wütenden Einspruchs seines bissigen Ehe­weibs noch 8 Pfd. erhielten. So muss man also heute betteln.
Vor 8 Tagen kam plötzlich die Kunde, dass Blödner seine Maschinen putzen, ölen und einpacken muß. Das habe ich ja schon lange kommen sehen. Es wird gesagt, 25% der Kapazität dürfte das Werk behalten. [In einem Rundbrief vom 6.8.1946 schreibt Vater: „Meine frühere Firma ist im Frühjahr restlos ausgeräumt worden, die Leute in alle Winde zerstreut. Die Demontage erstreckte sich nicht nur auf die Maschinen, sonder auf alles außer dem Mauerwerk, also z.B. Heizung, Rohrleitung, Kabel, Elektroleitungen, ja sogar Fenster- und Türrahmen. Schauerlich sieht der Bau jetzt aus, beinahe wie ausgebrannt.“]
Jetzt kamen die Befehle der Sieger, wie die Wirtschaft in Zukunft aufgebaut sein darf. Werkzeugmaschinenbau 11% der Vorkriegskapazität; Schiffbau, Flugzeug­bau, selbstverständlich Kriegs­geräte­bau verboten, chemische Industrie 40-70%, Motorräder über 250 ccm verboten, 60-250 ccm 10.000 Stück im Jahr 1949; Kugellager, Funkgeräte, synthetischer Gummi und Treibstoff, Ammoniak verboten, Automobile ca. 1/6 der Vorkriegs­produktion. In der Tonart geht das weiter. Das Ziel ist erreicht, der schlimmste Wirtschaftskonkurrent ist vernichtet, und man hat dazu noch ein gutes, gottgefälliges Werk getan.

3.4.1946
Heute vor einem Jahr war Feindalarm. Am Tag vorher mußte ich morgens früh wieder im Finanzamt antreten. Es wurde ein neues Sturmbataillon gebildet. Neue Gruppen, neue Führer, unbekannte Kameraden. Dann wurden Volkssturm­gewehre ausgegeben, aber keine Munition. Uniform hatten wir auch nicht, noch nicht einmal Armbinden. Dann bezogen wir eine Stellung am Galberg, zunächst am Friedhof gegenüber der Oberrealschule [heute Arnoldischule]], die schon seit längerer Zeit als Lazarett diente. Dort verjagte uns bald ein Stabsarzt, weil dadurch der Bezirk, der sonst durch das Rote Kreuz geschützt war, gefährdet wurde. Ich wurde dann als Melder zum Bataillonsstab abkommandiert, weil ich mein Fahrrad mit hatte. Nun begann wieder der alte Spruch Wahrheit zu werden: „3/4 seines Lebens, wartet der Soldat vergebens“. In der Süßmostkelterei von Zeidler [in der Goldbacher Str.] hatte der Stab sein Quartier, Bataillonschef war ein Direktor Flicek von der Firma Perthes. Nachmittags konnte ich mal mit dem Rad für eine Stunde nach Hause fahren, wir Melder wechselten uns dabei ab. Es gab Verpflegung, Brot, Wurst, Butter und Käse, sogar Sahnebonbons. Abends Reisbrei, der im Gewerbevereinshaus [Ecke Schützenberg/Schützenallee] gekocht wurde. Zutun hatten wir nichts, außer Stroh fürs Nachtlager zu besorgen und Holz für den Ofen aus dem Schießhaus [Stadthalle] zu holen. Nachmittags kam mich Opa noch mal besuchen. Ich hatte wenigstens ein militärisches Kleidungsstück, den Luftschutzsicherheitshilfsdienst­mantel von Opa und seinen Ledergürtel an. In der Nacht Alarm, den wir im tiefen Weinkeller, der auch als öffentlicher Luftschutzraum diente, zubrachten. Am 3. Feier­tag sollten wir Uniformen in der Luftwaffenkaserne empfangen und um 18 Uhr nach Hause gehen, da sich die Lage geklärt hätte und eine unmittelbare Gefahr nicht vorhanden wäre. Der Feind sei zurückgeschlagen. Wir marschierten also nach dem Kaffee ohne Waffen (Munition hatten wir immer noch nicht bekommen) durch die Stadt zur Kaserne an der Ohrdrufer Landstraße. Dort wieder langes Warten, plötzlich die Sirene. Es hieß, sofort das Kasernengebiet zu räumen. Wir liefen auf die angren­zenden Felder nach dem Seeberg hin. Das Sirenengeheul hörte gar nicht mehr auf, so daß wir langsam auf den Gedanken kamen, es könnte der 5-Minuten-Feindalarm sein, was uns dann aus Gotha herausströmende Leute bestätigten. So recht wollten wir es noch nicht glauben, denn wir sollten ja entlassen werden, da „sich die Lage geklärt hatte“. Als wir den Kamm des Seeberges erreicht hatten, hörten wir Artillerie­feuer und sahen die ersten Einschläge in Gotha. Es war ein furchtbares Gefühl und ich weiß noch, wie in meinem Inneren das ganze Gebäude meines Lebens zusam­men­stürzte und nichts als Scherben zurückblieben. Verzweiflung und Hoffnungs­losigkeit. Wir beratschlag­ten, was wir tun sollten. Unser neuer Gruppenführer, dieses feige Schwein, sagte zu uns, jeder solle versuchen, sich einzeln nach der Kampf­stellung durchzuschlagen. Er selbst mit einem Kumpan nahm sofort Richtung Siebleben auf, wo er wohnte. Wie ich später von meinem Kamerad Rosenburg hörte, war er unverzüglich nach Hause gelaufen und den ganzen Tag nicht mehr aus dem Keller herausgegangen. Er hatte sich abends, als R. ihn mal aufsuchen wollte, anfänglich verleugnen lassen. Wir paar anderen gingen durch die Stadt zu unseren Einheiten und hielten noch bis abends aus, wo dann am Rathaus und am Schloß­turm die weiße Fahne gehißt wurde. Ich begab mich wieder zum Bataillonsstab, der wegen dem langsam näher kommenden Artilleriebeschuß sein Quartier etwas verlegte, und zwar in ein Nachbarhaus an der Goldbacher Str., wo man bessere Übersicht hatte. Uniformen hatten ­wir noch immer nicht, Munition bekam ich jetzt endlich, allerdings ohne bis dato jemals einen Schuss aus einem Volkssturmgewehr abgefeuert zu haben. Eine Weile wurde ich zum Beobachten auf einen Dachturm eines Hauses geschickt, dann wieder sollte ich Verbindungsmann zwischen den an der Eisenacher Straße postierten HJ-Jungen, welche sich dort mit Panzerfäusten eingegraben hätten, und einer 8,8-Flak sein. Diese war in der Goldbacher Str. in Stellung gegangen, da feindliche Panzer aus Richtung Sonneborn gemeldet waren. Der Batterieführer, ein Feldwebel, verlangte mein Fahrrad, um eine Erkundungsfahrt in Richtung Freundwarte zu machen, da er Stellungswechsel vornehmen wollte, wenn Panzer evtl. die Eisenacher Straße herab kommen würden. Ich sollte auf ihn an dem Geschütz warten. Die ganze Zeit kreiste ein feindliches Beobachtungsflugzeug über dem Krahnberg und es dauerte nicht lange, da schlug eine Salve in die Gold­bacher Straße, kaum 20 m vom Geschütz ein. Wir Volkssturmmänner liefen in den nächsten LS-Keller in der Werderstr. [Blumen­bachstr.] und warteten dort ¼ Stunde das Ende des Feuerüberfalls ab. Dann marschierten wir wieder nach dem Schützen­berg zu, bei einem neuerlichen Artilleriebeschuß gingen wir in den Keller des Eck­hauses im Brühl. Ich war derart deprimiert und hoffnungslos und erschüttert, daß ich dort wünschte, ein Volltreffer möchte in den Keller fahren und ein Ende machen. Manchmal waren auch die Einschläge recht nah und deutlich zu hören. Na, aber dann mußten wir wieder raus, das Geschütz war schon abgerückt, es stand am Brühl und ich fand meinen Feldwebel auch wieder. Das Rad aber war weg, er hätte es in der Goldbacher Straße an ein Haus gestellt, als ich nicht da war. In dem Augenblick war mir das aber auch ziemlich egal. – Das Bataillon hatte sich auch mehr und mehr verkrümelt, und im Stab wurden es auch immer weniger. Wir hörten dann schon Schüsse in unserem Rücken, zogen noch durch verschiedene Strassen und Gärten und schließlich auf die Befehlsstelle im Schloß, wo aber bereits alles ausgeflogen war, oder wie der offizielle Ausdruck heißt: sich abgesetzt hatte. Da war nun auch für uns der Krieg aus und wir gingen nach Hause, wobei uns schon die plündernde Meute entgegen kam. Das waren so ein paar Erinnerungen an die „schweren Kämpfe“ um Gotha. [In den im Jahre 2002 niedergeschriebenen Erinnerungen steht noch folgende Passage: „In einem Haus am Schützenberg hatten wir uns „verschanzt“. Aus der Annastraße kam ein Panzer angerollt, vorneweg ein amerika­nischer Soldat mit Gewehr im Arm. Auf den zielte ich und gab meinen einzigen Schuß im Krieg ab. Ich traf ihn nicht, aber er flüchtete hinter seinen Panzer. Dann flüchteten wir durch die Gärten …..]

4.4.1946
Tilde hat jetzt täglich  5 Stunden bei 2 Klassen 1. und 4. Schuljahr Mädchen. Gerd’ Klasse mußte sie wieder abgeben, die kam in die Aufbauschule [Reinhards­brunner Str.] ins Neulehrerseminar zwecks Schulung der kommenden Größen. Herr Kürschner ist Dozent für Mathematik und erzählte Wunderdinge über den Wissens­stand der zukünftigen Erzieher, so daß das jetzt umlaufende geflügelte Wort Berech­tigung zu haben scheint: dumm wie ein Neulehrer. Herr Kürschner und seine Frau wurden übrigens vor ein paar Wochen von einem braven Russki angefallen, beraubt und bedrängt, als sie nachts um ½1 von einem Besuch nach Hause gingen. Die Sache spielte sich am Klosterplatz ab. Kürzlich wurde auch die Wirtin vom Kaiserhof erschossen, als sie sich weigerte, an Russen Schnaps auszugeben. – Vor 14 Tagen mußte Gerd die Klavierlehrerin wechseln. Frl. Schoch darf keinen Unterricht erteilen, weil sie „Nazischwein“ war und in der Frauenschaft einen Posten bekleidete. Aus der Wohnung hat man sie schon vor ein paar Monaten rausgeworfen.
Noch ein paar politische Schlagzeilen: Viele militaristische und nazistische Straßennamen wurden umgetauscht, so die Kaiserstr. Zunächst 14 Tage in Keppler­straße und jetzt in 18.-März- Straße; Dietrich-Eckard-Strasse in Waidstraße und jetzt wieder in ihre alte Bezeichnung Jüdenstraße; Dorotheenstraße in Thälmannstraße, Scharnhorststraße erst Ifflandstraße, jetzt Robert-Blum-Straße. Auch Ostpreußische, Malmedy-, Olpener Str., Saarstr. mußte verschwinden. Selbst Tilde, die aufrechte Antifaschistin, meinte nun doch, das deutsche Volk sei reif zum Untergang. Heute früh im Radio kam der Befehl, daß das Tragen von Uniformstücken streng verboten ist, wenn sie nicht durch Färben unkenntlich gemacht sind. Und wie viele entlassene Soldaten haben nichts anderes als die paar Lumpen auf dem Leib. Als Strafe kann sogar die Todesstrafe verhängt werden. – In Berlin im englischen, französischen und amerikanischen Gebiet Urabstimmung bei der SPD, ob Verschmelzung mit der KPD gewünscht. Der Londoner Rundfunk berichtet, dass in der russischen Zone die Abstimmung verboten war, die russisch zensierten Zeitungen sagten, dass in den russischen Berliner Bezirken die SPD die Urabstimmung einstimmig abgelehnt habe, weil sie Unsinn sei. Wer lügt nun eigentlich? Bisher hieß es doch immer, nur die Nazis.

28.4.1946
Ich wollte es bisher nicht glauben, aber nun habe ich es mit eigenen Augen gesehen, dass die Russen von der zweigleisigen Hauptstrecke Eisenach-Erfurt ein Gleis abmontieren. [Noch mindestens bis zum Ende meiner Studienzeit Anfang der 60er Jahre gab es nur ein Gleis, was zu langen Wartezeiten an kleinen Stationen wie z.B. Seebergen führte, wenn erst ein Gegenzug vorbeigelassen werden mußte.] Und bei meinem Weg zur Arbeit sehe ich, dass sie die Blechbearbeitungsmaschinenfabrik Grübel, die Bohrmaschinenfabrik Loos und Hempel und eine Trafo-Station ausräum­ten. Armes Deutschland ! – Vorige Woche hörten wir wieder nachts zweimal Hilfe­geschrei von weiblichen Stimmen. Am nächsten Tag erzählte ein Sundhäuser, er habe auf der Reinhardsbrunner Strasse eine Riesenblutlache gesehen. Folgender Tatbestand lag vor: ein Architekt ging mit zwei Mädchen die Strasse entlang, da kommt ein Auto an, hält, es stürzen Russen raus und zerren ein Mädchen ins Auto. Der Mann springt nach, um dem Mädchen zu helfen, da wird er einfach nieder­geknallt. So geschehen im 20. Jahrhundert in einer mitteldeutschen Stadt. – In der Karwoche besuchte ich mal meine Kumpels auf der Baustelle. Sie reißen jetzt auch die Wände von den Hallen [des Fliegerhorsts] ab um die Profileisenstiele zu ge­winnen, das ganze Mauerwerk muß dabei zerstört werden. Dort hörte ich, dass sich wieder mal alle Hoch-und Fachschüler registrieren lassen müssten. Ich ging also am nächsten Tag aufs Statistische Amt im Rathaus. Dort sagte mir aber ein Herr mit mokantem Lächeln, die Aktion sei bereits am 13.4. abgeschlossen, eine Nachmel­dung hätte keinen Zweck. Eine blonde Schöne grinste dabei auch vielsagend.

7.6.1946
Jetzt ist schon länger als 1 Jahr „Frieden“, dabei leiden wir mehr Hunger als im Krieg. Und überhaupt gibt es jetzt noch weniger zu kaufen, dafür wird umso mehr geschoben und schwarz gehandelt. Wir sind schon wieder knapp mit unseren Kar­toffeln. Und weitere habe ich trotz aller Tauschangebote noch nicht wieder bekom­men. In der Not (und weil Frau Gutsche immer so dick schält) wendet Tilde ganz neue Rezepte an, die im wesentlichen darin bestehen, dass alle Kartoffeln mit Schale gegessen werden, z.B. in der Kartoffelsuppe oder bei Kartoffelpuffern und Klößen. Und nun ein ganz neues Gericht, gestern zum 1. Mal probiert, eine Art Knäckebrot. Kartoffelschalen durch den Fleischwolf, mit Kümmel und Salz vermischt, auf ein Kuchenblech und dann gebacken. Tilde lässt sich von Gutsches und  Spittels noch die Schalen geben, so können wir unseren Vorrat strecken.
Auf der  Abbruchstelle Fliegerhorst nähern sich die Arbeiten dem Ende, jedenfalls wurden gestern ca. 20 Mann entlassen, nachdem im Laufe der letzten Wochen massenweise Leute eingestellt wurden, Kaufleute, Beamte, Konditor, Archivar und sogar ein Schauspieler. Wie unser Betriebsobmann sagte, bekämen sie aber gleich wieder Arbeit bei der Post, nämlich Kabel ausgraben. Überhaupt stand in der Zeitung, dass in Thüringen 125.000 Arbeitslosen ca. 450.000 offene Stellen gegenüber stehen, also pro Mann 4 Stellen. Es ist nur merkwürdig, daß alle nicht die Arbeit kriegen, die ihren Fachkenntnissen und Neigungen entsprechen. Am liebsten schickt das Arbeitsamt „Nazischweine“ in die Kalibergwerke, aber auch aus der amerikanischen Zone wurden nach einer Zeitungsnotiz 25.000 deutsche Sklaven nach der englischen Zone zum Einsatz in den Ruhrkohlebergwerken deportiert. Die Kohle ist freilich nicht für uns, sondern für Frankreich und sonst alle Nachbarstaaten, die Anspruch auf Reparationen geltend machen. Sehr erheiternd wirkt in diesem Zusammenhang, dass auch Österreich von uns Reparationen will.       

11.6.1946
Nun ist Pfingsten auch wieder vorbei. Je weiter wir in den Frieden hinein­kommen, umso mäßiger werden die Kuchen und die ganze Ernährung überhaupt. Sonnabend machte ich blau und fuhr mit Gerd nach Metebach wegen Kartoffeln. Es war nichts damit, aber wenigstens 2 Fl. Milch in einer Güte, wie wir sie nur noch vom Hörensagen kennen, ½ Brot und 7 Pfd. Erbsen. Da ist man dann ganz glücklich über den großartigen Erfolg der Bettelei, die einen im Grunde der Seele zum Erbrechen anekelt. Aber es war sehr schönes heißes Wetter und konnte gleichzeitig als Spazierfahrt gelten.

22.6.1946
Also die ingenieurlose, die schreckliche Zeit ist vorbei. Ab 1.7. trete ich bei der Fa. Carl-Zeiss als Betriebsingenieur im status nascendi ein. Vorgestern war ich in Jena, und gestern schied ich gleich bei Richard Böhm aus, nicht ohne am letzten Tag noch einen Riesenrucksack Holz mitzunehmen.
Gerade heute vor 8 Tagen, als ich von der Arbeit nach Hause fuhr, hielt mich Kollege Hermann an, stellte mich seiner Frau vor und gab mir einen Tip: die Russen würden wieder Ingenieure deportieren. Deshalb machte ich mich ein paar Tage in Gierstädt unsichtbar [bei Familie Griese].

Jena, den 5.7.1946
Also nun bin ich schon in Jena. Mit dem Arbeitsamt ging es auch ziemlich schwierigkeitslos (ich war ganz überrascht), und dann hätte ich eigentlich noch eine Woche Urlaub verleben können. Der „Urlaub“ bestand aber nur in einer einzigen Kartoffeljagd. Einmal fuhr ich nach Metebach ohne Erfolg, einmal nach Friemar. Hier brachte ich wenigstens 25 Pfd. von Walter und auch noch von meinem früheren Vorarbeiter Bienert mit. Dann war ich mit Tilde an einem Nachmittag über Bufleben nach Eschenbergen zu Frau Buwa gefahren, um dort Stachelbeeren zu pflücken. Erfreulich war, dass sie uns mit Kaffee und Kuchen bewirtete. [Solch eine Extra­mahlzeit ohne Einsatz von Lebensmittelmarken war in doppelter Hinsicht ein Geschenk. Es war der Erwähnung wert, wenn es mal in einer ländlichen Gaststätte etwas ohne Marken gab, z.B. eine Scheibe trockenes Brot auf der Freundwarte.] Eine anschließende Rundfahrt über Burgtonna, Warza und Goldbach brachte nicht eine Kartoffel, wohl aber eine sehr schöne Spazierfahrt ein. Am letzten Gothaer Sonna­bend fuhr ich mit Tilde und Mutter nach Gierstädt, obwohl wir erst eine Woche später zum Johannis­beerenpflücken bestellt waren. An einem Nachmittag gingen wir in die Obstbau­schule, um für andere Erbsen zu pflücken. Denn 80% der Ernte mussten abgegeben werden, wir  brachten von einem Nachmittag nur 20 Pfd. nach Hause und waren 3 Personen (mit Tilde und Mutter).
Sonntagabend schaffte ich mit den Kindern meine Koffer an die Bahn und wir verdienten uns als Gepäckträger mit unserem Handwagen auf dem Rückweg 2 Zigaretten und 1,20 M Trinkgeld. Zeichen der Zeit!  Anderntags ging’s um ½4 aus den Federn [und ab nach Jena]. Der Montag ging noch so mit den Anmeldeformali­täten bei Zeiss und verschiedenen Ämtern hin, Dienstag war dann Antreten im Aus­stellungs­­raum, wo ich erst mal das ganze Fabrikationsprogramm kennen lernen soll.
Ich bin bei einer noch recht jungen, blonden Pfarrerswitwe, die bei ihren Eltern wohnt, eingezogen, und wurde abends von Frau Pichler, ihrer Mutter, verpflegt. Einmal aß ich abends in der Stadt. Es war eine Katastrophe. Fast 2 h nahm es in Anspruch, drei Portionen aß ich, keine Kartoffel gab’s, immer nur Brot und obendrein kostete das bescheidene Essen 2,65 M. Mittags esse ich in der Werkskantine, wo angeblich 8000 Personen beköstigt werden. Es ist aber auch sehr bescheiden, allerdings kostet es nur 0,30 M und im ganzen Monat an Lebensmittelmarken nur 400g Brot, 150g Fleisch und 50g Fett. Es fehlen vor allem Kartoffeln, und ich Esel brachte in Gotha noch 20 Pfd. zum Gemüsehändler, damit ich eine Bescheinigung bekam, auf welche ich dann vom Ernährungsamt Reisemarken erhielt. Und jetzt gibt es auf die Marken hier nicht eine Kartoffel.

29.7.1946
Sonnabend vor 14 Tagen fuhr ich, kaum von Jena zu Hause angekommen, gleich wieder mit Tilde per Rad los nach Gierstädt wegen Kartoffeln. Hildebrand rückte nur 15 Pfd. raus, trotzdem wir einen Film opferten. Aber bei einer Frau bekamen wir ½ Ztr. Und am Sonntag früh fuhren wir gleich noch mal hin und holten noch einen Zentner. Dann badeten wir erstmalig in dem niedlichen Schwimmbädle von Gierstädt, besuchten Grieses und hauten befriedigt ab, zumal uns die Frau Fleischmann für den nächsten Sonntag noch einen Zentner versprochen hatte. Aber der nächste Sonntag war eine Niete. Die Kartoffeln weg, eine Reifenpanne, keine Baderei und auf dem Rückweg Regen.
In Jena versuche ich mir das Leben so angenehm wie möglich zu machen, gehe viel in die Umgebung spazieren, besuche Theater, Kino und Konzerte. Vorige Woche akademisches Konzert im vollgerammelten Volkshaussaal. Es wurde das Forellenquintett gespielt, einfach hinreißend. Man war in einer anderen Welt. Dann sah ich einen russischen Film „ Wolga-Wolga“, schauderhaft.
Meine Wirtsleute sorgen rührend für mich und versuchen dabei, mich tüchtig übers Ohr zu hauen, indem sie meine Seife und Seifenpulver unterschlagen, an meine Bücher gehen, selbst im Gemüse schwimmen, während es auf meine Marken angeblich nichts gibt. Obst haben sie auch, und ihr russischer Kapitän bekommt in meiner Gegenwart sofort einen Teller Beeren, während man mir nichts anbietet, trotzdem ich den Sohn mit meinem Verbandszeug verbunden habe.

5.8.1946
Ich lebe immer bloß vom Wochenende zum Wochenende. Was dazwischen liegt ist unbedeutend. Vorigen Sonnabend ging es ganztägig mit Tilde nach Groß­fahner, wo wir bei Fleischmanns einen Ztr. Kartoffeln holten und 20 M, 2 Zigarillos, 3 Paar Kindersocken hinbrachten. Aber noch 2 Pfd. schöne Pflaumen gab es auch, und verlangt hatte Frau F. überhaupt nur 10 M. Da wir aber bei Fleischmann in Gierstädt 20 M an wildfremde Leute bezahlten und „unser“ F. immer recht zuver­lässig war, gab Tilde großzügig 20 M. Mit Aussicht auf Birnen und Körner. Auf dem Weg von Gierstädt nach Hause trafen wir meine frühere Sekretärin, Frl. Volknant mit ihrem 3.Verlobten (2 sind gefallen), in 3 Wochen heiraten sie. Vor 14 Tagen war sie bei uns, um mir zu sagen, daß die Mitropa Ingenieure einstelle.
Gerd und Paulchen spielen nach wie vor Ritter und Helden. Übrigens machen sich die Jungens jetzt laufend Königskronen aus Pappe und tragen sie auch noch dauernd. (Hoffentlich nimmt kein fanatischer Kommunist an diesen monarchistischen Regungen der Kinderseelen berechtigten Anstoß!)
Am Sonntagfrüh trinken wir immer so gemütlich im Sonnen-durchleuchteten Herrenzimmer Kaffee. [also wohnt der russische Oberst nicht mehr hier].
Sonntagvormittag  fuhr ich mit den 2 Buben nach Boilstedt wegen Bohnen oder anderem Gemüse, nichts. Aber wir tranken eine Brause, was für die 2 Ritter bereits die Erfüllung aller Wünsche bedeutete, und dann war das Wetter so schön, dass die Fahrt ein Vergnügen war, zumal wir beim Nachhauseweg von Herrn Wagner aus seinem Garten 3 Krautköpfe kriegten.

4.10.1946
Anfangs dieser Woche bin ich umgezogen. Frau Pichler hat mir gekündigt, angeblich weil ihr Neffe hier studieren will. In Wirklichkeit, weil sie spitz gekriegt hatte, dass ich ein Zimmer suchte, ohne mich allerdings bis dahin entschließen zu können. Nun wohne ich im Kernbergviertel auf luftiger Höhe. Und dann habe ich heute vor 2 Wochen meine große Aufgabe bekommen: Terminjäger fürs Contax-Programm. Der Geschäftsleitung für alles verantwortlich. Ich muß sagen, dass ich schwere Sorgen hatte und habe. 1. liegt mir diese Arbeit nicht. 2. sind die Termine bereits ein paar mal hinausgeschoben. 3. sind schon ein paar Leute ausgestiegen. 4. steht im Hinter­grund der Russe. Und gewaschenes Kind scheut das Wasser.
Einmal waren wir auf dem Inselsberg und nahmen außer unseren Kindern auch noch Swetlana mit. Es ist die Tochter des russischen Obersten, der bei Spittels in unserem Hause wohnt. Es ist ein freundliches, hilfsbereites Mädchen von ca. 8 Jahren, das viel mit Margrit und den Jungens spielt und schon schön deutsch spricht. Für Herrn Oberst ließ ich bei Carl Zeiss ( CZ ) ein Mikroskop reparieren und kaufte verschiedenes für ihn ein: Botenlohn ½ Ltr. Oel und zwei Brote. Zigaretten stehen noch in Aussicht.
Einmal waren wir an einem herrlichen Sonnentag auf dem Hörselberg. Ich bekam in Jena Platten und fotografierte mit meinem uralten Plattenapparat eifrig. Zwei oder dreimal waren wir im Waltershäuser Schwimmbad, und verschiedentlich haben wir Ähren gelesen, wofür Tilde dann Brot eintauschte. Ein mühseliges Geschäft! Und noch zwei Mühlburgtouren machten wir. Eine war herrlich an einem sommerlich warmen Tag, an dem es sich wundervoll auf der Autobahn fuhr. [Das war mit Rädern möglich auf den erst halbfertigen Abschnitten der Autobahn] Den Kindern machten die Touren immer große Freude, und vor allem das Herumklettern in dem Burggemäuer war herrlich.
Meinen früheren Polier, Armin Beutler in Illeben, besuchten wir an einem Sonntagmorgen. Einen ganzen Spankorb Falläpfel und fast ebenso viel Zwetschen sammelten wir. Der Segen war unwahrscheinlich groß und musste von in ihrer Arbeit gestörten Felddieben hergekommen sein. Armin war geizig. Tilde war mehrmals in Friemar und hatte auch Erfolge mit Gemüse und Kartoffeln. Ich graste Emleben ab, bei allen alten Kunden war nichts zu machen. Besonders empörend fand ich, dass Fritz Zenker nicht ein Ei und nicht eine Kartoffel rausrückte. Aber eine gute Seele in Gestalt einer früheren Arbeiterin, Lisa Baumbach geheißen, fand sich, die mir schon 2 ½ Ztr. Kartoffeln gegeben hat.
Nun war auch das diesjährige Vogelschießen. Weil es Frieden ist, dauerte es gleich 2 Wochen, und nichts war billiger als 20 Pf., manches kostete auch 30 oder 50 Pf. Die Kinder waren 3x dort, einmal allein, einmal mit uns Alten und einmal mit Oma.
Letzten Sonntag wollten wir bei herrlichem Herbstwetter noch einmal in den Thüringer Wald. Da die Waldbahn [Überlandstraßenbahn] überfüllt war und nicht hielt, gingen wir auf den Krahnberg.
Paulchen kam am 1.9.46 zur Schule. Liebenswürdigerweise hatte General Kalasnitschenko für jeden Schulanfänger aus unseren Beständen 5/4 Pfund Zucker­waren gestiftet.
Wir mussten übrigens der kleinen Räuberbande die letzten 4 Wochen vor der Ernte den Zutritt zum Garten verbieten, da sie mit ihren zahlreichen Freunden und Freundinnen reichlich Obst plünderten.

8.10.1946
Weil wir jetzt schon im 2. Friedensjahr sind, bekommen wir nur noch 2 Ztr. Kartoffeln zum Einkellern. Es wird jedes Jahr schlimmer. Den Tiefpunkt im „Wieder­aufbau“ haben wir offenbar noch lange nicht erreicht. Ich glaube, in diesem Jahr ist noch kein Wochenende da gewesen, an dem ich nicht Sonnabend oder Sonntag mit dem Rad auf Tour wegen Kartoffeln, Gemüse oder Obst war. Herr Spittel wurde vorige Woche, als er mit 2 Säcken Kraut auf dem Rad von Goldbach nach Hause fuhr, von 2 Russen überfallen, die ihm sein Fahrrad unter Bedrohung mit einem Dolch wegnahmen. Hier in Jena habe ich sein 2. Rad und habe auch damit verschie­dene Fahrten gemacht, um die weitere Umgebung von Jena kennen zu lernen. Nach Möglichkeit kaufte ich, wenn Leute gerade auf dem Feld beschäftigt waren, Kartoffeln, Gemüse und „Saale-Zwetschen“ ein. – Tilde war vorige Woche mit dem Handwagen und allen 3 Kindern in Emleben zum Kartoffelnstopfeln. (d.h. nachroden und lesen). Sie bekamen über 3 Ztr., allerdings weniger durch Stopfeln als durch den annehm­baren Preis von 30 M/Ztr. und Rauchwaren. Hier in Jena habe ich nun Gr. 2 bei den Lebensmittelkarten, das sind 450g Brot, 40g Nährmittel, 25g Zucker, 50g Fleisch, 30g Fett, 30g Marmelade pro Tag. Ein schwacher Trost für mein Strohwitwerleben. Meine neue Bude liegt in der Nähe von Russenkasernen, aus denen bis in die späte Nacht hinein vollkommen übersteuerte Lautsprecher grässlich verzerrte Musik in die Gegend hinaus brüllen. Leider war das gerade bei der Besichtigung des Zimmers nicht der Fall, sonst hätte ich es nicht genommen.

4.11.1946
Meine Ahnungen und mein Unbehagen bei Übernehme der neuen Aufgabe! Am 22.10. wurden frühmorgens um 4 Uhr ca. 300 Mann von Zeiss und Schott aufgeladen, die Familien und Möbel mit, dann ging’s zum Bahnhof, wo geheizte D-Zugwagen und für die Möbel je ein Güterwagen bereit stand. Mittags kam das Todesurteil für Jena: Demontage! Leider läuft das Contax-Programm weiter, und da man meinen Vorgänger und einen weiteren wichtigen Mann von Zeiss Ikon verhaftet bzw. deportiert hat, bin ich jetzt der 1. Mann an der Spritze. Hätte ich doch damals den Auftrag nicht angenommen, wie ich erst wollte. Zuerst war alles wie gelähmt. Einen Tag später fuhr ich nach Gotha, kam gegen 23 Uhr dort an und fuhr andern früh um 4.40 Uhr schon wieder nach Jena. [Erinnerungen: In Gotha zu Hause war das zentrale Thema: Soll ich in den Westen flüchten? Die Phantasie ging bei meiner pessimistischen Einstellung noch weiter: Würden die Russen in diesem Falle vielleicht Tilde erpressen: „Du Mann zurückholen oder Du mit Kinder allein nach Sibirien.“ Tildes Meinung war energisch: „Wir bleiben zusammen, auch wenn wir nach Russland geholt werden. Meine Angstpsychose war so groß, daß ich jeden Morgen vom Fabriktor in meinem Büro anrief und fragte, ob auch niemand in der Nacht geholt worden sei. Mehrere Nächte schlief ich nicht in meinem Zimmer, sondern in der Wohnung eines Zeiss-Mitarbeiters.]  Dann versuchte ich auszusteigen [aus der Fa. CZ]. Leider ohne Erfolg. Am Wochenende ergaben sich neue Perspek­tiven bei der Berufsschule durch den treuen Kürschner. Montag früh „Aufnahme­prüfung“ und dann sofort Anstellungsschreiben als Gewerbelehrer. Alles schön und gut, aber in Jena kam ich nicht frei. Mit eisernen Klammern, schlimmer als bei den Nazis, halten sie einen fest: Befehl der Russen: keine Kündigungen und Entlas­sungen. Aus der Traum von der Schule und vom Absetzen eine Minute vor 12. Nun steure ich bzw. wir, denn Tilde will auf  jeden Fall mit, rettungslos auf die Deportation zu. Vorige Woche machte ich am Donnerstag eine Dienstreise auf dem Lastwagen nach Erfurt und Gotha mit. Dabei schaffte ich schon Kartoffeln, Briketts und Gemüse nach Hause. Ich mußte hinten auf der Ladefläche sitzen. Das war nicht schön, deshalb blieb ich in Gotha. Dort gab es den schlimmsten seelischen Kampf, den ich jemals auszufechten hatte. Und dann kam noch Anni Maelzer, und da war ich eigentlich schon ent­schlossen. [Ich vermute, entschlossen nach dem Westen abzuhauen.]  Aber dann blieben Tildes Argumente stärker: treiben lassen. Sonntag feierten wir meinen Geburtstag im Voraus, da es nicht sicher ist, ob ich nächsten Sonntag zu Hause sein kann. Denn es wird ja wohl bald Sonntag gearbeitet werden. Und diese gleisne­ri­schen Reden im Radio, wo’s jeder miterlebt hat! Es ist der nackte Hohn.

14.11.1946
Die Arbeit am Contax-Programm und Demontage geht weiter, beides auf hohen Touren. Seit gestern ist nun täglich ein „Appell“ aller Contax-Leute in der „Reichskanzlei“, das ist der große Sitzungssaal bei Dr. Schrade. Der ist unnahbar wie ein kleiner Herrgott. Ich konnte jedenfalls noch keinmal zu ihm vorstoßen und wurde immer nur von der eingebildeten, aufgeblasenen Sekretärin abgefangen. Ich zapple wie eine Fliege im Spinnennetz, je mehr ich mich wehre, umso fester halten mich die Fäden. Und unaufhaltsam geht es im Sog dem Strudel entgegen. Nun bin ich schon fast täglich mit den Russen zusammen. Gestern sagte Herr Ing. Safanoff, als die Rede war von den Schwierigkeiten, zwei neue Spezialisten aus Dresden herbei zu holen, man würde den Leuten die Versicherung geben, daß sie nicht nach dem Osten verschickt würden! Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.  
Jetzt bekomme ich dauernd Besuch von Leuten, die neugierig sind bzw. Anteil an meinem Schicksal nehmen, z.B. Hühnerjäger, Wundes, Kürschner. Auch eine ganze Reihe besorgter Briefe sind eingegangen, von Tante Else, Onkel Max, Elisabeth aus der Schweiz sogar. Die Sache hat Gottseidank recht viel Staub aufgewirbelt, sodaß man einen leichten Hoffnungsschimmer hat. Trotzdem kommen ganz tiefe Depressionen und vor allem die bohrenden Zweifel über eine Entschei­dung, die das ganze zukünftige Leben bestimmt und die doch nur ein blindes Tappen nach mehr oder weniger stichhaltigen Gründen und Gegengründen bedeutet. Tilde ist nach wie vor bestimmt für Zusammenbleiben, komme was wolle. Also trafen wir schon alle möglichen Vorbereitungen für die wahrscheinliche Reise nach dem unheimlichen Erdteil: Es wurde eine Liste aufgestellt, welche Möbel mitgehen, was verkauft wird und welche Sachen in das Wagenabteil mitzunehmen sind. Nach und nach beginne ich mich auch ins Unvermeidliche zu schicken, wenn ich auch manch­mal wild nach einem Ausgang aus der Falle, in der ich mich gefangen habe, suche. In Jena ist das noch nicht einmal so schlimm wie in Gotha. Hier gehe ich oft aus, um mich abzulenken.
Seit langer Zeit spielte ich auch mit Tilde mal wieder Mozart-Sonaten. Das macht mir große Freude und lenkte mich von dem immer auf einen Punkt gerichteten Gedankenwirbel ab. Überhaupt befand ich mich die letzten vier Wochen in einer Nervenanspannung, die bald nicht mehr zu ertragen war. Meine Eltern sind natürlich auch sehr gedrückt, da wir uns bei einer etwaigen Deportation ja voraussichtlich nie mehr wieder sehen würden. Ich staune übrigens, wie Opa die Schicksalsschläge trägt. Wie auch im vorigen Jahr, als mich erst die Russen verschleppten und später die Polizei mich ins Gefängnis steckte. Opa ist wirklich zu bewundern. Dabei nehmen seine körperlichen Kräfte immer mehr ab, sodaß ich befürchte, daß er nicht mehr lange mitmachen wird.
Außer in Emleben war Tilde auch noch mal mit dem Handwagen zusammen mit Oma und Paulchen in Metebach und holte dort ein paar Ztr. Kartoffeln. Es war eine anstrengende  Fahrt, aber sie lohnte sich. Beachtlich die Laufleistung des kleinen Paulchen, denn Tilde wählte für Hin- und Rückfahrt die Asphaltstraße über Aspach [zus. 20 km].
Als ich vor 1½  Monaten mein möbliertes Zimmer in Jena wechselte, konnte ich leider feststellen, dass in der jungen Demokratie der Amtsschimmel nicht etwa dürrer geworden ist, im Gegenteil, er feiert Orgien. Zunächst einmal gibt es polizei­liche An- und Ummeldeformulare in keinem der 3 Papiergeschäfte, die ich aufsuchte. Nur im Einwohnermeldeamt zu haben. Also gut, man geht, da das Amt natürlich nur vormittags auf ist, wie alle Ämter, während der Arbeitszeit hin und kauft die Formu­lare. Dann geht man nach Hause und hat vom Vermieter unterschreiben zu lassen. Danach zum Arbeitsamt abstempeln. Vorher zum Wohnungsamt die Geneh­mi­­gung zur Mietung des neuen Zimmers einholen. Kann erst nach Vornahme einer Lokal­besichtigung erteilt werden. Dann noch Ernährungsamt, wobei zunächst eine Ummeldebescheinigung der zuständigen Stadthelferin benötigt wird. Und dann mit allem zusammen endlich aufs Einwohnermeldeamt zur eigentlichen polizeilichen Meldung. Leider hatte die Stadthelferin vergessen, auf dem Ummeldeschein zu vermerken, dass sie mir keinen Kartoffeleinkellerungsschein gegeben hatte. Also noch mal hin. Auf dem Ernährungsamt glaubte man aber meiner Sekretärin nicht, dass ich als Gruppe 2 Anspruch auf 2½ Ztr. hatte und gab ihr nur 2 Ztr. Denn leider hatte das die Stadthelferin auch noch vergessen zu vermerken, dass ich Gruppe 2 bin. Nochmal hin zum Ernährungsamt, wobei dann der Überweisungsschein für die neue Stadthelferin  nebst dem polizeilichen Anmeldeschein-Duplo endgültig verloren ging und also beides neu zu beschaffen ist.

2.1.1947
Alfred Mendrim aus Ingersleben hatte zum Weihnachtsfest einen Stallhasen verspro­chen. Leider wurde es damit nichts, da man ihm alle Karnickel gestohlen hat. Es geht übrigens bei uns hoch her, neulich erlebte ich in Weimar auf dem Bahnhof einen Raubüberfall in unserem Abteil mit, und ein Meister von Zeiss erzählte mir, wie kürzlich 3 Russen nachts in seine Wohnung drangen und mit vorgehaltenen Pistolen fast alle Kleider von ihm und seiner Frau raubten.    
Natürlich war auch der Nikolaus in Gestalt von Herrn Spittel wieder gekom­men. Es war wieder eine volle Stube, die sich versammelt hatte: Großeltern, Gutsches, Frau Spittel, Swetlana und ihr Vater, der Oberst, und noch ein kleiner Russenbengel. Der Sack vom Nikolaus war sehr voll, wenn auch Nüsse und Pfefferkuchen ganz fehlten. Aber Zuckerzeug, Äpfel und ein wenig Spielzeug gab es doch. Mir brachte er das lang ersehnte politische Unbedenklichkeitszeugnis.
Die Kinder hatten sich, Zeichen der Zeit, zu Weinachten auch Brot ge­wünscht. Jedes bekam ein Laibchen. Paulchen futterte es trotz Abendessen, Plätzchen und Bonbons schon am Heiligen Abend zur Hälfte auf, indem er einfach so hinein biss. - Zu Weihnachten gab es wieder eine Sonderzuteilung, 500g Mehl und 250g Zucker. Dafür verloren die Reisemarken ihre Gültigkeit am 24.12., was in der Zeitung dann am 28.12. veröffentlicht wurde.

21.1.1947
Heute sollte die Schule wieder anfangen. Die Kinder wurden aber wieder nach Hause geschickt, weil wieder große Umwälzungen im Gange sind: eine neue Entnazifizierungswelle ist im Gange, und nun sollen die letzten Nazis, auch alle die nur in Formationen waren, noch aus ihren Ämtern und Stellungen hinaus geworfen werden. Vielleicht muß dann Tilde, weil sie in dem „verbrecherischen“ Frauenwerk war, auch daran glauben. Und bei Opa und Lotte sieht es auch kritisch aus.

28.2.1947
Bis heute hat die furchtbare Kälte, die etwa am 15.12.46 einsetzte, ange­halten. Dazwischen nur 2 oder 3 Tage, wo es milder war. Sonst aber beinahe jeden Morgen minus 15 oder 18 Grad. Gerade wo die Bevölkerung so wenig Brennmaterial hat, bedeutet das eine  entsetzliche Not für viele Menschen. Der Schulbetrieb ruht fast ganz. Die Kinder gehen nur täglich hin, um die Aufgaben, die sie zu Hause machen sollen, in Empfang zu nehmen. Tilde bringt dann öfters einen Stoß Hefte mit, und ich helfe ihr dann die Rechenaufgaben zu korrigieren. Heute war sie übrigens wegen mir beim Schulrat Senff. Denn durch die neue Entnazifizierungs­welle ist eine Anstellung von mir als Gewerbelehrer nicht mehr möglich, weil ich ja mal in der SA war. Er hat sie auf April vertröstet. Und heute scheide ich auch offiziell aus der Fa. CZ aus. [Wie die letzten Wochen davor verliefen, steht im folgenden Absatz.]
[ Erinnerungen: In Gotha nahmen alle Bekannten regen Anteil an meinem Geschick. Da kam Hilfe von unserem alten Hausarzt und Streichquartett-Bratscher  Dr. H.: „Ich habe Sie doch früher mal wegen eines Magengeschwürs behandelt. Sie kennen doch die Symptome. Ich schreibe Sie jetzt krank und Sie bleiben zu Hause.“ Nach 4 Wochen mußte ich zum Vertrauensarzt, und der schrieb mich gesund. Also zurück in die Höhle des Löwen.] Am Dienstag (18.2.) früh ging’s wieder 3 Uhr aus den Federn und 4.36 ab Gotha. Bis Erfurt brauchten wir „nur“ 4 Stunden und bis Jena nur 12, das heißt also, in Jena war ich gegen ½ 5, so daß es sich an dem Tag nicht mehr lohnte, ins Geschäft zu gehen. In meiner Bude war es eisig, ich hatte vorsichtshalber meinen Schlafsack mitgebracht, der vorher in der Kemnitzschen Wohn- und Schlafstube angewärmt wurde, außerdem bekam ich einen angewärmten Originalziegel mit ins Bett. Am Mittwoch, als ich mich wieder zurückmeldete, fragte ich gleich wieder wegen meiner Kündigung. Ich führte noch an, dass ich jetzt weiter Diät halten müßte, was beim Werksessen nicht möglich sei. K.M. wollte mich erst noch bis Ende März halten, aber ich ging dann gleich zu Dr. Schrade. Und mittags bekam ich dann Bescheid, dass ich aufhören könnte.
Opa geht es nicht besonders gut. Da es nun ziemlich fest steht, dass er als alter Nazi die Praxis entzogen bekommt, entschloß er sich, die Praxis jetzt freiwillig aufzugeben, um den Entnazifizierungsfanatikern zuvor zu kommen. Oma fuhr Mitt­woch nach Weimar, um dort alles Nötige zu veranlassen. Jetzt haben sie natürlich mit ihrer Wohnung Sorge, wie sie 1 oder 2 Zimmer vermieten. [In ihrer 4½-Zimmer­wohnung waren bis jetzt 2 Zimmer für die Praxis reserviert, eines als Sprech- und ein anderes als Wartezimmer. Angesichts des Wohnraummangels konnten sie gezwun­gen werden, mindestens ein Zimmer zu vermieten, was dann später auch geschah.]
Die allgemeine Kohlenknappheit zwingt auch zu drastischen Stromspar­maßnahmen. Mal ist der Strom bis abends ganz weg, dann wieder heißt es, es darf nur noch 40% der bisher zugestandenen Haushaltquote verbraucht werden, dann heißt es, in einer Woche dürfen nur die Häuser einer Straße mit geraden Haus­nummern Strom verbrauchen, in der nächsten Woche umgekehrt. Und jetzt wird der Strom überhaupt allnächtlich von 22.30 bis 5.30 abgeschaltet. Abwechselnd machen die Bäcker zu, und vor den geöffneten Läden stehen Schlangen bis zu 100 Leuten um Brot. Also ganz dasselbe wie im Rheinland, was hier vor ein paar Monaten mit Genugtuung vermerkt wurde. Vorige Woche bekamen wir von Tante Wallasch  2 Pfd.-Päckchen mit Pumpernickel, was großen Jubel auslöste.   

11.3.1947
[Tildes Geburtstag am 9.3.] Zum Kaffee kamen die Eltern, und es gab einen trockenen „Eldesan-Kuchen“, eine köstliche Ersatzschlagsahne und einen feinen Streuselkuchen, außerdem noch eine Stachelbeer-Torte. Diese Vielfalt der Genüsse ließ folgenden Ausspruch entstehen: „Fast so wie im Kriege“. Abends hatten wir  Becks eingeladen, die Räumlichkeiten stellten die Eltern zur Verfügung, und zwar aus einem ganz besonderen Grunde: seit Mitte voriger Woche ist in Gotha allge­mei­ne Stromsperre. Die Zähler wurden abgelesen, und dann hieß es, es darf nichts mehr verbraucht werden bei Androhung schärfster Strafen. Den Strom ganz einfach abzuschalten ging nicht, da ja die Russen in ihrem manchmal recht großzügigen Stromverbrauch in den Wohnungen nicht behindert werden durften. Aber die Ärzte durften eine beschränkte Menge verbrauchen, und so gingen wir abends, wenn die Kinder bei Kerzenbeleuchtung ins Bett gebracht worden waren, eben immer zu den Großeltern. 
   Vor ein paar Tagen stand in der Zeitung, dass jetzt eine größere Bande von jungen Deutschen verhaftet werden konnte, die in russischen Uniformen mit Handfeuerwaffen Überfälle verübten.

7.4.1947
Und nun die Hauptsache: seit dem 17.3. habe ich wieder eine Stellung. Zwar nicht als Bauarbeiter, wie es erst als wahrscheinlich galt, da ich bei allen Maschinen­fabriken nur Achselzucken fand. Aber als Ladenschwengel, d.h. Verkäufer bei Fa. Carl Grübel  am Hauptmarkt. Ich bin da im „Tauschring“ beschäftigt. [Erinnerungen: Der „Tauschring“ war ein Zusammenschluß von ½ Dutzend Geschäften: Eisenwaren, Kleider, Schuhe, Küchengeräte. Der Tauschring gab für abgegebene Sachen Gutscheine aus, gewissermaßen Privatgeld, mit dem man in allen Geschäften, die dem Tauschring angeschlossen waren, notwendige Dinge kaufen konnte, wenn andere Leute sie hier abgegeben, d.h. gegen Gutscheine verkauft hatten.] Es ist eigentlich sehr interessant und vielseitig. Und die Zeit geht meistens wie im Fluge herum, da ein sehr starker Andrang ist. Nicht eine Minute komme ich zum Sitzen, es ist ziemlich anstrengend. Aber was ich erst für ein Gehalt kriege! Sage und schreibe 140 M. Ich selbst bin auch schon vom Tauschfieber erfasst und habe Haarschneide­maschine, Rasiermesser, Klingenschärfapparat gegen Hobel und Schränkzange eingehandelt. Der ganze Tauschring ist übrigens ein beredtes Zeugnis unserer traurigen Zeit eines unaufhaltsamen Niedergangs. [Der Mangel war universell, daher konnte jede Ware als Tauschartikel dienen, besonders dann, wenn sie zum Leben wichtig ist. Auch im privaten Bereich war der Tausch von Ware gegen Ware üblich.]
[Geburtstag von Gerd am 6.4.] Beim Festessen (früher als zweit-oder drittklassiges Alltagsessen bezeichnet) waren wir alle vereint. Es gab Serviettenkloß, Rotkraut und Gulasch mit mikroskopisch kaum erkennbaren Mengen von Fleisch. Zum Kaffee kamen noch ein paar Freunde von Gerd, wo das Fest durch ein paar besonders bittere Torten und Kuchen seine Krönung fand.

Pfingsten, 25.5.1947
               Wir sind zu Hause geblieben, früher eine undenkbare Sache. Aber das Wetter war auch nicht so verlockend und dann die katastrophalen Verkehrs­verhält­nisse: Auf manchen Strecken nur jeweils morgens und abends ein Zug, die Wald­bahn überfüllt. 

12.6.1947
Gestern früh mähte ich mit Sense, Sichel und Maschine das Gras im Garten, Das Heu sollen unsere Karnickel bekommen, die wir uns anschaffen wollen. Vorläu­fig sammeln und trocknen wir erst Kartoffelschalen, ebenso das Stroh, was ich von Friedrichs holte und das, was wir vor ein paar Tagen auf der Straße auflasen, als ein voll bepackter Wagen mehrere Bund gerade an der Ecke Kaiserstraße verlor. Da kamen aber die Leute aus allen Häusern wie die Ameisen angewetzt, um die Beute zu bergen.
Vor 8 Tagen haben wir mal unseren Kartoffelvorrat gewogen. Bestand 190 Pfd. Täglicher Verbrauch 10 Pfd., also sind wir in 3 Wochen blank, wie jetzt schon viele Leute. Darauf wurde sofort die Tagesration auf 50% gekürzt und wieder die „beliebte“ Kartoffelschalensuppe eingeführt. Man kann sich nun also auch an Kar­toffeln nicht mehr satt essen. Morgens, mittags und abends steht man hungrig vom Tisch auf. Und worin besteht nun unser Fraß eigentlich noch, wo es auch fast kein Gemüse mehr gibt? Seit 14 Tagen jeden Abend Kartoffeln und Salat. Den Schnitt­salat liefert glücklicherweise unser Garten, natürlich wird er ohne Oel und Zucker angemacht. Und das im 3. Friedensjahr! Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen. Glücklicherweise haben wir noch ein paar Pfund Weizenkörner, die wir im Herbst gestoppelt haben, und außerdem haben wir von Ernst Paasch als Gegenleistung für ein paar Damenhalbschuhe ½ Liter Öl und einige Pfund Leinsamen bekommen. Den mahlen wir nun in unserer neuen Schrotmühle, und Tilde macht Vor- und Nachtischsuppen davon..
[Ein beliebter Kinderspielplatz im Hof war der Sandkasten, und am schön­sten war dort das Spiel mit Wasser.] Einmal bei einer Talsperrenfüllung waren wohl über 1 Dutzend Kinder da, machten ein Geschrei für 2 Dutzend und verursach­ten einen fürchterlichen Dreck. Als erprobtes Mittel wendeten wir für alle Nachbar­schafts­kinder ein 8-tägiges Verbot unseres Gartens und Hofes an. Das passte aber unserer Frau Oberst nicht, denn nun mußte ihre Tochter Swetlana zu ihren Freun­dinnen, den Mädchen von Grieses, gehen und nicht umgekehrt. Als sie Gerd, der Swetlana vom Rasen gejagt hatte, anfauchte, mischte ich mich ein, worauf ich dann mein Fett abbekam. Ich kam überhaupt nicht zu Wort, so schrie Frau Oberst, schließlich wendete ich mich einfach ab, worauf sie wütend hinter mir her spuckte. Jetzt sind sie ausgezogen, nach fast einem Jahr. Ein ganzes Lastauto wurde mit Koffern, Kisten, Möbelstücken und Sachen voll gepackt, dann ging’s nach Torgau. Als sie hier ankamen, hatten sie fast nichts mit.

26.6.1947
Wieder ein bedeutendes Ereignis: der große Schritt zum Lehrberuf ist getan, nachdem die Sache schon fast aussichtslos erschienen war. Gestern hatte mich Herr Studienrat Zacharias zu sich bestellt. Von seiner Handelsschule kommen 3 Lehr­kräfte weg, u.a. auch Kollege Kürschner. Nun ist Holland in Not und auch meine kurze SA-Zugehörigkeit kein Hindernis mehr. Sicherheitshalber hat Zacharias auch noch mit Prof. Riesenbürger aus Weimar gesprochen, und es bestehen dieserhalb keine Bedenken mehr. Ich soll also an die Handelsschule kommen und einen Teil der Stunden von Kürschner übernehmen, nämlich Mathematik und ….Erdkunde [in den Erinnerungen schreibt er: Wirtschaftskunde. Weiter heißt es dort: Direktor Zacharias machte mich darauf aufmerksam, daß im Thronsaal von Schloß Friedenstein jetzt ein einjähriger Kursus anfinge zur Ausbildung von Berufsschullehrern. Ich sollte den Kurs mitmachen, er würde meine Wochenstundenzahl abmindern und so legen, daß ich die Vormittage zu den Vorlesungen auf’s Schloß könnte. Nun begann eine herrliche Zeit: Vormittags Vorlesungen, Mittagessen zu Hause und dabei eifrig diskutiert und über die Vorlesungen berichtet. Was konnte ich mir für eine bessere Mentorin wünschen als meine geliebte Tilde, die eine tüchtige, bei Kollegen und Schülern beliebte und geachtete Lehrerin war. An anderer Stelle erwähnt er noch, dass er durch den Status als Studierender die Lebensmittelkarte 2 bekam, während er als reiner Lehrer nur die schlechtere Karte 3 bekommen hätte.]
Und noch ein Ereignis: am 24.6. bekamen wir Familienzuwachs, nämlich ein schneeweißes Karnickel von Dr. Sieburg. Schon tagelang vorher hatte ich an einem  feinen Stall mit „Wasserspülung“, nämlich doppeltem Boden und Urinabfluß, Kuchen­blech etc. gearbeitet. Die Kinder sind natürlich begeistert und möchten es am liebsten dauernd streicheln.
[Über eine Fahrt nach Gierstädt:] Gestern hatten wir einen schlechten Tag, nachdem er sich erst so schön angelassen hatte, denn ab Molschleben nahm uns ein Lastauto bis Gierstädt mit. Dort mußte ich gleich Tildes Rad wegen eines Nagels flicken. Abends noch einmal. Auf der Plantage von Hildebrand bekamen wir nicht eine Kirsche. Nach vielen vergeblichen Anläufen durften wir bei einem Pflücker wenigstens das aufheben, was runter gefallen war. In Gierstädt selbst bekamen wir 4 Pfd. gegen eine Zigarre und 2 M. So brachten wir wenigstens noch etwas für die Kinder mit. Und „schon“ 23.30 waren wir zu Hause. Aber es ist ja immer lange hell, wo die Uhr gleich zwei Stunden vorgestellt ist. [Sommerzeit!] Und früh geht es immer gegen 6 Uhr raus, da arbeite ich noch ein bisschen im Garten, weil ich sonst nicht dazu komme.

 12.8.1947
Seit 8 Tagen leben wir ohne Mutti. Tilde ist am 4.8. nachmittags abgefahren, um ihre Eltern in Offenbach zu besuchen. Am Donnerstagnachmittag kam das sehn­lichst erwartete Telegramm mit folgendem Wortlaut: „Tochter angekommen Wilhelm Fuhr“, da atmete ich auf. Denn man erzählt sich, dass an der Grenze die deutsche Polizei schlimmer als Russen und Amerikaner sei, und dass auch die Amis Frauen ohne weiteres 8 Tage einbunkern, wenn sie ohne gültigen amerikanischen Paß angetroffen werden. [Über den abenteuerlichen illegalen Grenzübertritt gibt es einen detaillierten Bericht von Mutti.]  Am nächsten Tag gingen wir, d.h. Oma, Gerd und ich nach Metebach zum Ährenlesen. Ca. 15 Pfd. haben wir den ganzen Tag, der mittags durch ein Gewitter und ein schönes Mittagessen beim Bauer Schmidt unter­brochen wurde, gesammelt. Wir waren aber auch abends erledigt, denn schon um ½7 fuhren wir mit den Rädern los und erst gegen 20 Uhr waren wir zu Hause. [So ging das tagelang weiter bis zum Sonntag]: Sonntag hatte ich es endlich satt, immer bloß wegen der „Fresserei“ auf Achse zu sein, und da fuhr ich mit den Kindern 6.43 nach Eisenach. Dort tranken wir erst einmal bei Paul Noack [einem Studienkollegen] Kakao, aber obwohl er 2 Lebensmittelkarten Gr. 1 jeden Monat hat, bot er uns nicht eine Scheibe Brot an.  
Vor 3 oder 4 Tagen  hat Opa nun endlich den lang erwarteten blauen Brief erhalten, wonach er „als aktiver Nazi zu entfernen ist“. Er hat natürlich Einspruch erhoben, und nun geht die Sache vor die Spruchkammer.

6.11.1947
Drei Monate bin ich nicht zum Schreiben gekommen, ein Zeichen, wie wenig Zeit ich hatte. Was wir aber auch in der Erntezeit geleistet haben, davon hätten wir uns in früheren Jahren nichts träumen lassen. Wir hatten doch dieses Jahr im Sommer jeden 2. Tag Kartoffelschalen gegessen, trotzdem wir im vorigen Herbst recht gut vorgesorgt hatten. Dieses Jahr ist nun alles wegen der Dürre viel knapper, besonders schlecht Gemüse. So mußten wir versuchen, durch verstärkten Einsatz diese Naturkatastrophe wieder wett zu machen. Wir fuhren deshalb fast täglich während 3 Wochen mit den Rädern über Land, mal hierhin, mal dahin und kauften, tauschten und schacherten unsere Kartoffeln zusammen. Aber wie oft auch klopfte man vergeblich an, trotzdem man den Bauern die verlockendsten Angebote machte. Sie hatten eben wirklich nichts oder hatten schon den Perserteppich im Schweine­stall, so daß sie den angebotenen Bettbezug, das Seidentrikot-Nachthemd oder die Kuhkette nicht mehr brauchten. Dabei hatte aber nur Tilde Ferien, ich in meinem Institut nicht. Bei Tag hörte ich meine Vorlesungen, nachmittags oder auch erst gegen Abend machten wir unsere Fahrten und nach dem Abendessen ging’s an die geistige Arbeit: Referate ausarbeiten, Aufgaben lösen, Stunden vorbereiten. Außer­dem noch die üblichen Arbeiten im Garten und Keller, Karnickelstall ausmisten, Besorgungen in der Stadt.
Die 2 Buben müssen nun täglich mit dem Handwagen und einem Blech­kasten auf die „Äpfeltour“ gehen, d.h.  sie müssen Pferdeäpfel als Dung für den Garten in den Straßen aufsammeln. Wenn wir das früher hätten tun sollen! Allerdings drücken sich die 2 auch wo sie können. [Der Lastentransport spielte sich damals zu einem großen Teil mit Pferdefuhrwerken ab.]

30.12.1947
Am Sonntag haben wir zum ersten Mal Zuckerrübensaft gekocht. Ich hatte im Herbst einen Rucksack voll gestopfelt, d.h. mühsam aus dem steinharten Boden mit dem Absatz heraus gestochert. Im Ganzen waren es vielleicht 40 Pfd. Zum Kochen im Großen zu wenig, zum Strecken von Marmelade zu viel.
Sonntag den 21.12. mußte ich auch noch mit 3 Berufsmusikern Streich­quartett spielen. Die Feier zu Stalins Geburtstag sollte musikalisch umrahmt werden. Anfangs wollten die 3 Berufsmusiker nicht, weil sie gerade vor Weihnachten beson­ders eingespannt sind, und da ihren Hauptverdienst haben. Aber da wurde einer zum Kommandanten bestellt und ihm bedeutet, wenn sie nicht spielen wollten, wäre das Sabotage und sie würden dann eingesperrt werden. Da waren sie natürlich gleich bereit.
[Von dem Weihnachtsfest ist als zeittypisches Detail vermerkt]: Leider wurde der Christbaum immer nur kurze Minuten angezündet, um die Kerzen zu sparen. Denn man weiß ja nicht, wie viel Jahre wir keine neuen bekommen.
Großvater haben sie jetzt endgültig abserviert. Die Approbation wurde ihm entzogen. Er ist also jetzt kein Arzt mehr, und die Polizei kam nachsehen, ob er auch sein Arztschild entfernt hat. Bloß die Leute kümmern sich nicht darum und kommen bei Unfällen weiter zu ihm gelaufen. [An anderer Stelle steht, dass ihm durch das Praxisverbot auch das Telefon entzogen wurde. Telefonanschlüsse waren bis zum Ende der DDR Mangelware.]

2.1.1948
Nun mal etwas vom Kuchen und Backen. Sonntags gibt es auch heute noch wie im Frieden gewöhnlich einen Kuchen. Eine Zeit lang war der so genannte Kaffee­kuchen allerseits (außer bei mir ) sehr beliebt. Damit man nicht merke, daß der Kuchen wegen des schwarzen bitteren Mehls ganz dunkel ist, wurde in den Teig noch eine Portion Malzkaffeepulver hineingeschüttet. Da ist dann der fertige Kuchen ganz dunkelbraun, fast schwarz, was ihm den Namen „Kohlenanzünder“ eingetragen hat. Mutti macht dann falsche Schlagsahne dazu, sodaß es zumindest sehr schön aussieht und auch nicht ganz schlecht schmeckt. Die Buben müssen immer die Kuchenbleche zum Bäcker tragen [um Heizmaterial zu sparen]. Seit einiger Zeit verlangen aber auch die Bäcker, dass man für jeden Kuchen ein Stück Holz mitbringt.
Vor einigen Monaten brachte Tilde aus einer Lehrerkonferenz folgendes mit: ob ein Schüler von der Grundschule [nach der 8. Klasse] in die Oberschule kommt wird u.a. auch von den Parteien und dem FDGB nach der politischen Haltung der Eltern entschieden.
Im Sommer hatte ich die Torfgrube von Wangenheim besucht und verschie­dene Vorschläge gemacht. Wir bekamen auch ein paar Ztr. Torfbriketts. Sie sind zunächst klitschnaß, aber nach dem Trocknen brennen sie mit Holz oder Kohle zusammen ganz gut. Bloß sehr viel Asche gibt es.

7.2.1948
Von Elisabeth [Muttis in der Schweiz lebende Schwester] sind nun mehrfach Pakete eingegangen. 2 große mit Kleidern und 2 kleinere mit herrlichen Lebens­mitteln, darunter Feigen, Nüsse, Reis und kondensierte Milch. Wir waren ganz glücklich, besonders Tilde über ein paar Schuhe für Paulchen. Jetzt kann der arme Bub wenigstens auch  bei nassem Wetter raus, und 1 Paar von ihm wurde auch durch die Schule repariert. Ganz überraschend erhielten wir auch von Brünings ein paar Halbschuhe für Gerd, sodaß er jetzt nicht mehr ausschließ­lich mit seinen klobigen Holzschuhen, auf die ich noch dicke Autoreifenstücke (vom Fliegerhorst! ) genagelt habe, herumlaufen muß. Margrit hat genügend Schuhwerk von ihren älteren Brüdern.

4.4.1948
Gerd und Paul brachten sehr gute Zeugnisse mit nach Hause. Trotzdem gebe ich Gerd fast jeden Tag 1 – 2  Dutzend Rechenaufgaben mit Brüchen, denn ihr Schulunterricht in den letzten Monaten war wirklich sehr bescheiden: wenige Stunden in  eiskalten Räumen, die Kurzstunden noch verplempert mit Brötchen austeilen, Geld kassieren, Listen aufstellen und dgl. Ich bin übrigens jetzt in den Elternrat gewählt worden. Es hat wohl mehr symbolische Bedeutung, denn Änderun­gen der jämmerlichen Schulverhältnisse werden wir auch nicht erreichen können. Es wird überhaupt jedes Jahr trostloser mit allem. Mit der Ernährung, mit Verbrauchs­gütern, mit Strom und Gas. Schrecklich, daß so gar keine Aussicht auf Besserung besteht. Und an allem sind nur diese verdammten Reaktionäre, Monopolkapitalisten, Junker und Nazis im Westen schuld. So steht es wenigstens in der Zeitung.

9.5.1948
Ich wollte mit Herrn Jäckel, dem neuen Leiter vom Pädagogischen Institut, rüber [d.h. schwarz über die Zonengrenze in den Westen, natürlich nur besuchs­weise], aber dann hatte ich doch Angst gekriegt, man könnte uns schnappen und uns den Russen ausliefern. Und das wäre für mich wohl das Schlimmste, was mir passieren könnte. Denn leider bin ich schon auf der schwarzen Liste. Vor etwa 3 Wochen kommt ein Schupo mit einer schriftlichen Aufforderung, mich auf der russi­schen Kommandantur zwecks Registrierung zu melden. Schon beim Anblick des Polizisten ahnte uns nicht Gutes, Tilde ebenso wie ich hatten sofort ein Gefühl des Abscheus vor etwas Finsterem, Drohenden, vor einem schrecklichen Unheil. Und so entwickelte es sich dann auch. 8 Tage später ging ich hin. Ein Muschik [salopp für russischen Soldaten] als Schreiber und ein Zivilist. Letzterer beruhigte gleich: „Sie brauchen keine Sorge zu haben wegen Wegkommen. Wir wollen bloß alle Ingenieure an den richtigen Platz bringen, um den Wiederaufbau zu beschleunigen.“ Wenn ich das schon höre, wird mir’s schlecht. Wie viel mal sind wir so schon belogen worden. Dann wurden Fragebogen ausgefüllt, aber wie ich merkte, waren alle Angaben überhaupt schon vorhanden, sogar meine früheren Mitarbeiter lagen schon vor. Da wird wohl nun die große Reise bald fällig sein, zumal bei einem Kommilitonen schon 2 Offiziere waren, die ihm ein glänzendes Angebot machten: 5000 Rubel Gehalt, 5-Zimmerwohnung, Urlaub, Vertrag und was weiß ich noch. Vor allem: wenn es ihm nicht gefallen sollte, könnte er nach Vertragsablauf wieder nach Deutschland zurück. Wenn man nun die grausige Wirklichkeit kennt und dann diese Reden hört, läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

20.6.1848
Endlich ist auch der neue Karnickelpalast [d.h. ein Stall für zahlreiche Tiere] fertig, den ich nach meinen Angaben von Fa. Schlothauer habe bauen lassen. 140 M hat es gekostet, dazu kommen noch etliche Zigarren und Zigaretten für Dachpappe, Teer und Nägel. Die Nägel mußte ich liefern, das kg zu 32 M auf dem schwarzen Markt; und außerdem habe ich noch mehrere hundert Nägel mühselig aus alten Brettern herausgezogen und gerade  geklopft. Nach der Rechnung bin ich fast noch öfter gelaufen als nach dem Stall. Da die Währungsreform in Sicht stand, hatte ich es mit dem Bezahlen eilig, und Schlothauer natürlich im Gegenteil gar nicht. Nun ist die Währungsreform gestern im Westen in Kraft getreten unter vielem Geschrei von beiden Seiten. Jeder wirft dem anderen vor, an der einseitigen Reform schuld zu sein, und damit die endgültige Spaltung Deutschlands besiegelt zu haben. – Als Gegen­maß­nahme zum Bruch der Potsdamer Beschlüsse durch die westlichen Alliierten schließt der Russe jetzt hermetisch seine Grenzen und verbietet die Einfuhr der „Deutschen Mark“ und der alten Reichsmark. Und da hoffte man nun schon seit Jahren auf das Fallen der Zonengrenzen. [Späterer Eintrag an dieser Stelle: „Nach 42 Jahren wurden dann die Hoffnungen erfüllt, die Wiedervereinigung kam, der SED Staat verschwand.“] 

18.7.1948
Jetzt geht wieder die Jagd nach Kartoffeln, Obst und Gemüse los. Gestern war ich in Metebach, leider ohne mit einem Körnchen oder einer Kartoffel zurück zu kommen. Vorgestern mit Großmutter in Gierstädt, dort bekamen wir 2 Rucksäcke und 2 Spankörbe voll Gemüse. Vorige Woche war ich auch mit Großmutter zum Johannisbeerpflücken in Gierstädt. Es ist erstaunlich, dass sie noch solche anstren­gen­de Touren durchhält [im Alter von 64 Jahren].
Inzwischen war ja auch hier eine Währungsreform, aber praktisch hat sich am  Warenmangel und Geldüberfluß und an den Schwarzmarktpreisen nichts geändert. [Auch die Hilfsmittel zur Lebensmittel-Beschaffung wie z.B. die Fahrräder litten unter dem Warenmangel, denn an verschiedenen Stellen der Chronik wird erwähnt, dass Schläuche immer wieder geflickt werden mußten und die schon weitgehend abgefahrenen Reifen immer  wieder vulkanisiert werden mussten, weil es keine neuen gab. Ich bekam damals auf mein Jugendrad eine pannensichere Vollgummi­bereifung.]

19.12.1948
Seit 21.9. bin ich nun an der Ingenieurschule für Bauwesen als „Dozent“ tätig. Bis ich nachträglich die schriftliche Berufung erhielt, dauerte es mehrere Wochen. Und ich bekomme auch fast nicht mehr Gehalt als vorher an der Wirtschaftsschule. Ich war dieserhalb Ende Oktober in Weimar, damit man mir die Berufsjahre anrech­nen möchte. Man war dazu sehr liebenswürdig bereit, aber erst später, denn augen­blicklich sei kein Geld da. – In Weimar war ich gleich beim 85. Geburtstag von Onkel Ernst. Ich war wieder erschüttert, wie furchtbar heutzutage das Leben für alte Leute ist. Kein richtiger Ofen, keine behaglich warme Stube, nicht genügend zum Essen. Ich kaufte daraufhin von Blödner den Stubenofen aus unserem Schlafzimmer und ließ ihn nach Weimar schicken.
Ohne daß wir uns bemühten, kamen die 2 Buben zu einem 4-wöchigen Erholungsaufenthalt in einem kirchlichen Kinderheim in Oberhof. Vor 4 Tagen kamen sie sehr befriedigt wieder zurück, es hat ihnen gut gefallen und in mehreren Briefen schrieben sie, dass sie sich satt essen konnten [ein längst noch nicht selbstverständ­liches Vergnügen und der eigentliche Zweck der „Kur“]. 
Zum ersten Mal haben wir auch Sirup gekocht. Wir machten es anders  als die meisten Leute, die alles hintereinander in einem Rutsch erledigen. An einem Nachmittag säuberten wir die Rüben, am nächsten wusch Tilde sie, am übernächs­ten wurden sie in Stücke geschnitten und am darauf folgenden Tag erfolgten dann Kochen und Saftpressen. Einen Tag später wurde dann der Saft eingedickt. Leider setzte sich an unserem Kupferkessel [in der Waschküche] eine ganz harte Zucker­kohleschicht an, die wir mühselig in 8 Stunden Schrupparbeit wieder entfernten. Aber der Sirup ist herrlich geworden.
Übrigens ist die Bauschule geschlossen worden, hoffentlich nur vorüber­gehend. [Eintrag vom 29.1.49: Wieder eröffnet!] Angeblich läge keine schriftliche Genehmigung des Ortskommandanten vor. Die sowjetische Militäradministration in Weimar hat aber genehmigt. Und dann ist die politische Zusammensetzung der Studenten- und Dozentenschaft nicht erwünscht. Nur 35% SED, und das, nachdem eine groß angelegte Werbeaktion, d.h. ein sanfter Druck, statt gefunden hat. Auf einer Konferenz am 14.12. erklärte der Leiter, Baurat Dipl.-Architekt Ortner (SED), dass wir alle in die SED eintreten müssten, auch wenn wir jetzt anderen Parteien angehören würden. Ich fragte darauf, ob das hieße, dass es nur die Wahl gäbe zwischen Eintritt in die SED und Entlassung. Er darauf: „Ja, das ist etwa so zu verstehen“. Überschrift: Freie Demokratie!
Vor 14 Tagen kam von Familie Stock ein Pfundpäckchen Bohnenkaffee, was Tilde natürlich hoch beglückte. Jetzt ist Päckchensperre, es darf nichts mehr herüber und hinüber geschickt werden, gerade zu Weihnachten. Ein Glück, dass die Buben ihre Schuhe und Lederhosen noch rechtzeitig bekommen haben.
Im Herbst sammelten wir eifrig Bucheckern, Tilde mit den Kindern und auch mit Schülern. Oma war auch meist dabei, und ich ging auch 2-mal mit. Jetzt bäckt Tilde eifrig davon Plätzchen.  Mit dem Ölpressen wird es nichts, weil man da amt­licherseits zu viel beschissen wird. (Man braucht noch nachträglich einen Sam­mel­­schein, den man aber nur nach Abgabe von einem Pfund Bucheckern bekommt.)

26.2.1949
Ich habe seit gestern Ferien, die natürlich restlos mit Arbeit ausgefüllt werden. Dann kommt auch noch ein 14-tägiger politischer Zwangsschulungskurs der SED. Außerdem wurden wir auch noch gezwungen, bei der Volkshochschule einen gesellschaftswissenschaftlichen Kurs mit zu machen. [Dies war der hochtrabende Ausdruck für ideologische Indoktrination]

15.5.1949
Tilde hatte nach 5-wöchigem Laufen endlich einen Interzonenpass bekom­men und war am 13.4. mit Margrit nach Offenbach abgereist. Sie waren gut in Offenbach gelandet nach 6½ Stunden Warten an der russischen Seite der Grenze. Leider mußte sie wegen des Schulanfangs schon nach knapp zwei Wochen wieder da sein. Dienstag den 24.4. war sie mit Margrit und zwei riesigen Koffern wohlbe­halten wieder in Gotha. Sie baute einen Gabentisch auf, dreimal so reichlich wie an Weihnachten. Und was für köstliche Dinge: Schokolade, Kondensmilch, Datteln, Apfelsinen, Butter, Pralinè, Schuhe, Strümpfe, Seife.

17.6.1949 
            Unerfreulich war die Gesinnungsschnüffelei durch eine Kommission aus
Weimar. Über eine Stunde haben sie mich ausgequetscht. Zuerst leichtes Geplauder über alles Mögliche, ein paar Fachfragen, um einen auf den Leim zu führen. Dann ging’s ins Politische. „Ist das nicht eine große Ungerechtigkeit, dass die Friedens­fertigung von CZ abgebaut, demontiert wurde?“  Ich: „Wahrscheinlich haben wir in Rußland so viel zerstört, dass der Russe ein Recht hat, sich schadlos zu halten.  „Warum sind sie in die LDP eingetreten?“  Ich: „Ich bin nun mal in die bürgerliche Schicht hineingeboren, da liegt es doch nahe, in eine bürgerliche Partei zu gehen.“  „Da wollen sie sich also von den Arbeitern distanzieren?“  „Das habe ich nicht gesagt. Aber ich weiß doch von Dutzenden Veranstaltungen, dass der Arbeiter sich gar nicht wohl neben dem Direktor fühlt und viel lieber mit seinem Kumpel einen Schoppen trinkt.  „Das sind doch alles äußere Gründe. Sie müssen doch auch aus einer Überzeugung diese Partei gewählt haben. Warum nicht SED?“  „Ich stimme vielleicht in 90% der Ziele mit der SED überein [eineTarnbehauptung], bloß der Weg gefällt mir manchmal nicht.“ „Uns oft auch nicht. Der Weg wäre auch 1930 oder 32 ein anderer gewesen, wo wir eine intakte Wirtschaft hatten.“  „Und dann habe ich Angst, wenn man nicht zu jeder Versammlung, zu jedem Schulungsabend geht, dass man gemaßregelt wird, Disziplinarverfahren. Das tut die LDP nicht, die ist tolerant. Schon 3 Monate bin ich bei keiner Veranstaltung gewesen (wegen kolossaler Überarbeitung durch das Ausscheiden eines Kollegen), da kräht kein Hahn danach.  „Bei uns ist das auch nicht so, da wird doch niemandem eine Meinung aufgezwungen.“ [Das genaue Gegenteil war der Fall, bis zum Ende der DDR.] Aber ich lese es ja dauernd in der Zeitung, wie Genossen gemaßregelt werden!  „Ja, die stellen sich auch bewusst gegen unsere Anschauungen, böswillig.  - Im Rias und Hamburger Sender habe ich jetzt gehört, dass drüben Demontagen stattfinden. Ich glaube, die übertreiben mächtig.“  „Doch, das stimmt. Schon vor längerer Zeit haben mir meine Verwandten aus dem Westen geschrieben, dass in ihrer Stadt eine Seifen­fabrik demontiert wird. Außerdem habe ich gehört, dass die Index-Werke jetzt komplett in England stehen.“ (Übrigens wurde sehr viel von dem, was ich sagte, durch eine Dame mit stenografiert!!) Meine Lederhosen gefielen den Herren auch sehr und sie meinten, das sei auch eine Errungenschaft der Zeit, dass das heute für einen Dozenten möglich wäre. „Wir wollen sie gar nicht in die SED hinein zwingen, aber wir sind sicher, in 2  bis 3 Jahren stehen sie auch in unseren Reihen, haben sie sich zu unseren Anschauungen durchgerungen, denn sie sind ja dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen.“  „Es gibt verschieden veranlagte Menschen, das Interesse der einen liegt beim Sport, bei der Musik, beim Film, in der Politik, bei der Technik. Ich bin nun leidenschaftlicher Techniker und bemühe mich, dort das Beste zu leisten. Habe auch keine Zeit, mich politisch zu betätigen. „Das ist gerade der Fehler der Vergangenheit, daß sich die Ingenieure mit Scheuklappen auf ihre Arbeit gestürzt hatten.“  Ich möchte fachlich das Beste leisten. „Das wollen wir gar nicht (!), den jungen Menschen muß auch politisch etwas gegeben werden. Was haben wir für eine Verantwortung gegenüber den Studierenden.“  „Jeder soll dort was leisten, wo seine Interessen liegen. Ich kenne keinen Politiker von Format, der ein bedeutender Ingenieur ist, umgekehrt werden Sie nie einen hervorragenden Ingenieur finden, der auch Politiker wäre.“ „Oh, doch, z.B. Kunze (…?), das ist auch ein ganz bedeutender Ingenieur“ und der andere: „Da haben Sie sich ja glänzend herausgeredet.“ Zum Schluß noch einige freundschaftliche pädagogische Ratschläge: Den Schülern nicht so viel Hausaufgaben, ab und zu (!) Schüler an die Tafel, damit die Klasse sieht, daß sich der Schüler noch öfters verschreibt oder Fehler macht als der Lehrer, und offen zugeben, wenn man was nicht weiß. Eigentlich hätte ich sagen sollen, daß ich des­wegen in die LDP bin, weil ich überzeugt bin, daß sie, wenn sie die Macht hätte, ein derartiges Verhör nicht durchführen lassen würde. [Vater ist übrigens auch später nicht in die SED eingetreten, was einen ewigen Makel bedeutete.]

12.9.1949
Dieses Jahr waren die Kinder schon viel krank. Meist Erkältungen und Ohrengeschichten. Eigentlich ist es verwunderlich, wo jetzt die Ernährung doch so viel besser geworden ist. D.h. markenmäßig nicht, aber wir kaufen jetzt eben wo es nur geht Butter, Speck und Öl, sodaß man jetzt nie mehr zu den Mahlzeiten den Heißhunger hat wie noch vor einem Jahr, wo sie sich in Offenbach nicht genug wunderten, was ich für Riesenportionen vertilgte. [Eigenartigerweise fehlt in der Chronik der Besuch in Offenbach, der doch ein außerordentliches Ereignis gewesen sein muß und nach meiner Erinnerung auch nur durch einen illegalen Grenzübertritt möglich geworden war. -  Die eben erwähnte Möglichkeit des Zukaufs von Lebens­mitteln über das Markenkon­tingent hinaus war durch die Einrichtung der HO-Läden gegeben, in denen diese Waren markenfrei zu wesentlich höheren Preisen als bei den Kontingentprodukten verkauft wurden.]


Nachwort  
[des Sohns Dr. Gerd Mendrim]

Von nun an war die schlimmste materielle Not behoben, die sich als Folge des Krieges eingestellt hatte, weshalb ich an dieser Stelle die Chronologie beende. Schrittweise wurde die Versorgung mit Konsumgütern besser, wenn auch keine Ware davor gefeit war, zeitweilig knapp zu sein und die Wirtschaft bis zum Ende der DDR eine Mangelwirtschaft blieb. Das Warensortiment war schmal, und selbst die in der DDR produzierten Industriegüter gab es nicht in der gewünschten Menge. Aber hungern brauchte niemand mehr. Was sich aber weiterhin verschlechterte war der politische Druck, d.h. die geistige Vergewal­tigung, die darin bestand, dass man jede politische Maßnahme, auch wenn sie noch so sehr den eigenen Anschauungen oder Interessen zuwider lief, nicht nur zähne­knirschend dulden musste, sondern bei Ver­sammlungen, Konferenzen, Diskussionen, Schulungen, Wahleinsätzen auch aus­drück­lich begrüßen sollte. Lehrer und staatliche Leiter hatten darüber hinaus die Aufgabe, die vom Politbüro der SED vorgegebene „Partei­linie“ zu propagieren, d.h. so zu erläutern, dass sie auch von den Schülern /Studenten bzw. Angestellten verstanden und mitgetragen wurde, sei es nun ehrlich oder, wie in den meisten Fällen, geheuchelt.
Und noch eine abschließende Bemerkung: Unsere Kindheit bestand zum Glück nicht nur aus Fliegeralarm, Hunger und Ährenlesen. Die durch das Thema bedingte Auswahl der zitierten Chronik-Passagen könnte diesen Eindruck entstehen lassen. Aber die meiste Zeit haben wir genauso unbeschwert gespielt wie heutzutage die Kinder. Von den existentiellen Sorgen unserer Eltern haben wir ja nicht viel gemerkt. Dank ihrer unermüdlichen Jagd nach Essbarem und hilfreichen West­paketen waren wir nicht unterernährt, auch wenn wir uns jahrelang nicht richtig satt essen konnten. Dank ihres Fleißes und Organisations­talentes haben wir Fahrräder, Dreirad, Roller, Ski, Schlittschuhe und viel selbst gebasteltes Spielzeug gehabt, sogar ein unge­wöhn­lich großes Kasperle­theater und eine noch aus der Vorkriegszeit stammende elektrische Eisenbahn. Wir konnten Musikinstrumente lernen und haben herrliche Ausflüge gemacht.

SCHLUSS


Im Text vorkommende Abkürzungen

CZ               Fa. Carl Zeiss Jena

FDGB          Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (der DDR)

Flak             Fliegerabwehrkanone

GPU Sowjetischer Geheimdienst

HJ                Hitlerjugend. NS-Jugendverband

LS                Luftschutz

LDP             Liberal Demokratische Partei

M                 Mark, bis zur Währungsreform Reichsmark

NS               Nationalsozialismus

NSDAP        Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

Pg                Parteigenosse (der NSDAP)

Pf.                Pfennig, Hundertstel der Mark

Pfd.              Pfund = 0.5 kg

SA               Sturmabteilung, Gliederung der NSDAP

SS                Schutzstaffel der NSDAP

SED             Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Ztr.              Zentner = 100 Pfd.

RB               Deutsche Reichsbahn