Der Zweite Weltkrieg aus der
unmittelbaren Sicht eines betroffenen Familienvaters
(Dipl.-Ing. Heinz Mendrin, Gotha, 1908-2004) - Tagebucheinträge aus der Zeit
[Einige Anmerkungen für Historiker/Wissenschaftler/Interessierte
am Schluß, detailliertere bei MEDFUX auf Nachfrage. - Die Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Sohn Dr. Gerd Mendrin aus dem Jahr 2010, Chronist in Thüringen. Einige wichtige Namen sind aus Datenschutzgründen nachträglich geändert oder abgekürzt.]
(Dipl.-Ing. Heinz Mendrin, Gotha, 1908-2004) - Tagebucheinträge aus der Zeit
[Einige Anmerkungen für Historiker/Wissenschaftler/Interessierte
am Schluß, detailliertere bei MEDFUX auf Nachfrage. - Die Anmerkungen in eckigen Klammern stammen vom Sohn Dr. Gerd Mendrin aus dem Jahr 2010, Chronist in Thüringen. Einige wichtige Namen sind aus Datenschutzgründen nachträglich geändert oder abgekürzt.]
20.9.1939
Inzwischen
haben wir Krieg bekommen. Außer den Unbequemlichkeiten der Verdunkelung und der
Kartenwirtschaft und daß ich nun viel mehr arbeiten muß, merken wir eigentlich
recht wenig vom Krieg. [Verdunkelung: Alle Fenster mussten nachts mit
vollkommen lichtdicht schließenden Rollos so versehen sein, so dass kein
Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Da natürlich auch keine
Straßenbeleuchtung brannte, war es beim Fehlen von Mondschein stockdunkel
draußen. Auf diese Weise sollte es feindlichen Bombern unmöglich gemacht
werden, in der Nacht die Städte zu finden. Damit sich Passanten auf der Straße
gegenseitig erkennen konnten, gab es Leuchtplaketten zum Anstecken, die nach
vorheriger Belichtung so leuchteten, dass man sie auf wenige Meter Entfernung
gerade erkennen konnte. – Kartenwirtschaft: Lebensmittel und Kohlen
wurden rationiert, und dies war so organisiert, dass jede Familie monatlich
Lebensmittelkarten erhielt, auf denen einzelne Abschnitte (Marken) für Brot,
Fett, Zucker usw. mit einer aufgedruckten Mengenangabe waren, die dann beim
Einkauf vom Verkäufer abgeschnitten und einbehalten wurden. Es gab Karten
verschiedener Gruppen: Schwerstarbeiter erhielten Gr.1, Schwerarbeiter Gr.2
usw., Lehrer Gr.3 usw. bis Gemeinderat.4, anfangs sogar 6. Da auch Tabakwaren
rationiert waren, erwies es sich als großer Vorteil, dass unsere Eltern nicht
rauchten und ihre Rauchwaren zum Tausch gegen wichtige Lebensmittel einsetzen
konnten, besonders in der Notzeit nach dem Krieg. Die Kartenwirtschaft dauerte
in der DDR noch bis in die 50er Jahre, und jeder Verkäufer von Lebensmitteln
oder Kellner mußte nicht nur Geld kassieren, sondern auch mit der Schere eine
Marke aus der Karte herausschneiden. Als Student habe ich das in Jena noch
erlebt, wenn ich auf dem Holzmarkt eine Rostbratwurst gekauft habe.]
7.7.1940 [Eintrag von Mutter]
Neun Monate
lang tobt nun schon der Krieg: Norwegen und Dänemark, Holland und Belgien, ja
sogar auch Frankreich, alle sind sie schon besiegt. Zu allererst war ja Polen
besiegt. Und wie! Nun kommt noch England dran. Gebe es der Himmel, daß wir auch
hier so siegreich sind wie bisher! – In unserem Thüringen hier spürt man nicht
viel vom Krieg, nur daß man die Lebensmittel alle auf Karten bekommt. Da wir 2
kleine Kinder haben, ist die Menge für uns sehr reichlich. Und in unserer
Familie spürt man überhaupt nichts vom Krieg.
15.9.1940 [Nach einer 2-tägigen Radtour im
Thüringer Wald]
Als ich
abends zuhause ankam, berichtete Mutti, daß auch in Gotha Alarm und arge
Schießerei war. Inge Frihe [Fritze?] aus Hamburg und Mutti allein mit den
Kindern im Keller! Die Armen! Aber in der nächsten Nacht gings dann wieder los,
bis jetzt insgesamt 10-mal, in einer Woche davon 5-mal. Wir haben aber jetzt
den Keller ganz wohnlich eingerichtet und alles ganz gut organisiert: Jeden
Abend trage ich einen größeren Koffer mit Kissen, Decken, Trainingsanzügen, Filmapparat
in den Keller, oben wird für Gerd alles zurechtgelegt, ein kleines
Handköfferchen mit Proviant und unserer Geldkassette zurechtgestellt. Wir
ziehen dann bloß schnell die Mäntel über, tragen Paulchen in seinem Stubenwagen
runter, meist kommt dann Onkel Spittel schon entgegen, um Gerd in Empfang zu
nehmen. Im Keller ziehen wir uns dann fertig an und kriechen in die
Schlafsäcke, Gerd kommt mit in Muttis, und dann liegen wir in unseren
Liegestühlen und versuchen zu schlafen. Paul wird leider meist wach und fängt
an zu schreien. Dann stelle ich seinen Wagen neben meinen Liegestatt und rolle
ihn eine Viertel- bis eine halbe Stunde hin und her. Ist er dann endlich
eingeschlafen, kommt die Entwarnung und wir ziehen wieder in den ersten Stock.
Gerd spielt
am Tage mit Begeisterung Sirenenheulen, Alarm, In-den-Keller-gehen und von
seinem Flugzeug lässt er Bomben fallen. Zum Glück ist jetzt schon eine Woche
Ruhe, die Engländer machen nachts ihre Großangriffe auf Berlin.
20.10.1943
Am 4.9. war ich mit Tilde nach Offenbach
gefahren um die Schwiegereltern zu besuchen. Man weiß ja heute nie, ob man sich
noch mal wieder sieht, denn jede Nacht oder sogar jetzt jeden Tag kann das
Verhängnis über eine Stadt hinweg brausen und einen Trümmerhaufen aus dem machen,
was vorher Häuser, Kirchen und Türme waren. Unter diesem Gesichtswinkel sahen
wir uns auch noch mal die Altstadt von Frankfurt an. Es war ein beklemmendes
Gefühl, all diese traulichen und bekannten Gässchen und Winkel zu sehen und
dabei denken zu müssen: wie lange steht das alles noch? Und richtig, wenige
Wochen später kam der Großangriff, der auch Offenbach stark in Mitleidenschaft
zog. Nach dem Bericht von Oma Fuhr fiel ein Phosphorkanister aufs Dach, rollte
aber ab und fiel in den Hof. Sein Inhalt wurde in den Nachbarhof geschleudert
und dort abgelöscht.
Wir rechnen
auch jeden Tag damit, dass Gotha angegriffen wird. Weisungsgemäß haben wir
viele Sandtüten und Behälter mit Wasser aufgestellt. Und Abend für Abend
schleppen wir unser Luftschutzgepäck, einige Koffer und Rucksäcke in den
Keller. Wir haben schon an verschiedene Leute geschrieben, unter anderem auch
an unseren Onkel Gustav Adolf Mendrim in Bernsdorf, ob sie Tilde mit ihren
Kindern aufnehmen können, wenn unser Haus zerstört werden sollte. Aber alle
haben abgesagt. Na, da müssen wir uns eben von der NSV [Nationalsozialistische
Volkswohlfahrt] betreuen und verschicken lassen.
Es ist jetzt
bei uns auch häufig Tagesalarm oder öffentliche Luftwarnung, wenn nur einzelne
Flugzeuge das Gebiet hier anfliegen. Dann geht das Leben seinen gewohnten Gang
weiter. Wenn nachts Alarm ist, reißen wir die armen Kinder aus dem Schlaf und
ziehen sie erst einmal an. Ist und bleibt es ruhig, legen wir sie aufs Sofa,
brummt es aber verdächtig, oder fängt die Heimatflak gar an zu schießen, dann
spritzen wir in den kalten Keller.
Die Kinder haben jetzt auch jedes
ihre Gasmaske. Margrit allerdings noch nicht. Ab und zu machen wir einen
Gasmaskenappell. Glücklicherweise sperren sich die Kinder nicht gegen das
Aufsetzen. Im Gegenteil muß man aufpassen, dass sie keinen Unsinn anstellen.
23.11.1943
Wir haben
jetzt auch allerhand Vorbereitungen getroffen: eine Holzkiste mit einer
Garnitur Kleider für jeden und einigen weiteren für den Notfall unentbehrlichen
Sachen habe ich zu einem Herren meines Betriebsbüros, Herrn Reich, nach
Georgenthal geschafft. Des weiteren habe ich mir eine angeblich luftdicht
schließende Stahlblechkiste von Meister Weisheit bauen lassen, in welche wir
nun die 2. Garnitur Wäsche und Kleider verstaut haben. Diese Kiste kam in den
Keller, damit man jederzeit noch ran kann. Auch Film- und Fotoapparat befinden
sich darin, weitere Fotoalben und 3 Bücher.
20.1.1944
Vor 8 Tagen
war Mutti im Kino. Als sie nach Hause kam, sagte sie, es wird gleich Alarm
geben, „ich hörte eben, dass der Deutschlandsender abgeschaltet hat.“ Die
Kinder waren gerade von Hedi [dem Pflichtjahrmädchen] ins Bett gebracht worden.
Mutti lüftete noch mal und sah dabei vom Fenster aus am Horizont ein dauerndes
Aufblitzen. Ich ging auf den Boden, da sah ich schon in nordöstl. Richtung den
Himmel rot, und dann kamen nacheinander Leuchtbomben, aber noch in weiter
Ferne. Nun zogen wir aber fix die Kinder an, trugen alles in den Keller,
zuletzt auch noch das eben fertig gewordene Abendessen, Bratkartoffeln in der
Pfanne und Kohlrüben. Dann kam erst der Alarm.
Wir hatten
diesmal auch viele Kleider runtergeschleppt und es war sehr eng. Schnell wurde
der Ofen angezündet, denn es ist auf die Dauer doch unangenehm kalt. Zum
Überfluss musste Margrit auch noch 2-mal ganz fürchterlich brechen. Als alles
aufgewischt war, Margrit mit warmem Wasser gesäubert und wieder im Wagen
eingepackt war, konnten wir endlich die auf dem Ofen im Keller wieder angewärmten
Bratkartoffeln essen. Die Kleider hingen an den Haken, der Kinderwagen,
Waschschüssel und Windeln, Kisten und Koffer, Decken und Kissen, das alles
veranlasste Tilde zu der Bemerkung, es käme ihr vor wie in einer
Hafenkaschemme.
24.2.1944
Seit
Sonnabend haben wir jeden Tag und jede Nacht Alarm oder zumindest öffentliche Luftwarnung. Gerd
wird bald jeden Tag vorzeitig aus der Schule nach Hause geschickt. Wie lange
soll das noch so weiter gehen? [An anderer Stelle erwähnt Vater, dass in
letzter Zeit jeder Theater- und Kinobesuch infolge eines Alarms vorzeitig
abgebrochen wurde.]
7.6.1944
[Bei einem
Ausflug zur Freundwarte, als es beim Mittagessen Alarm gab] Als die Vorwarnung
kam, zogen wir mit unserer Karawane los und lagerten auf der „Igelwiese“ in der
Nähe der Mehlishütte. Plötzlich hörten wir wieder „Meiers Waldhorn“ (Hermann
Göring, Reichsmarschall, Chef der Luftwaffe, sagte einmal am Anfang des
Krieges, er wolle Meier heißen, wenn ein feindliches Flugzeug zu uns hereinkäme!),
als die Sirenen Vollalarm gaben. Da in letzter Zeit auch in unserer Gegend
Personenzüge und Passanten von engl. Tieffliegern beschossen worden waren,
traten wir etwas unter dichte Tannenbäume. Nach ein paar Minuten kommt Gebrumm
auf uns zu, und als es gerade über uns ist, fängt die Flakbatterie unterhalb
der Freundwarte an zu schießen. Gerd und Paulchen fingen gleich an angstvoll zu
schreien, aber nur die ersten Augenblicke. Über uns hörte ich dann noch die
dumpfen Explosionen der krepierenden Flakgranaten. Und was ich sofort
befürchtete, trat dann auch bald ein. Ich ließ alle dicht an dicke Bäume
treten, jeder Erwachsene hatte ein Kind vor sich. Dann ertönte ein feines hohes
Surren und eine Menge Flaksplitter flogen uns um die Ohren. Ab und zu knackte
es in den Ästen und Kronen der Bäume, und dann fiel etwas auf den Boden. Tilde
hatte geglaubt, dass nun „Matthäi am Letzten“ sei und der Flieger Phosphor und
sonstwas auf uns herunterwarf.
Aber auch
wenn man wusste, dass es „bloß Splitter“ sind, war es keine sehr angenehme
Lage. – Hinterher waren wir aber doch noch sehr vergnügt und tollten mit den
Kindern umher, spielten Ringtennis und Kasperletheater.
Am 16. Juni
hörten wir nun die so lange erhoffte Nachricht: die Vergeltung hat begonnen
durch Beschießung von Südengland und insbesondere von London. Nur einen Wunsch
haben wir: Möge sie gründlich sein und den Krieg mit entscheiden zu unseren
Gunsten.
8.8.1944
Nach dem
wahnsinnigen Attentat auf unseren Führer am 20.7.44, das uns alle furchtbar
erschüttert und bestürzt hatte, betrachtet man die augenblickliche Lage sehr
ernst. Die Russen an den Toren Ostpreußens, in Italien die Amerikaner in
Florenz, im Westen die Bretagne in Gefahr abgeschnitten zu werden oder bereits
abgeschnitten, dasselbe Schicksal den Armeen im baltischen Raum drohend. Wenn
nicht bald eine entscheidende Wendung kommt, was uns kürzlich Dr. Goebbels
ankündigte, dann sehe ich für die Zukunft schwarz.
Unsere
Vergeltungswaffe hat uns ja allen wieder neuen Mut gegeben, wenn man sich die
Auswirkungen auch viel gewaltiger vorgestellt hatte. Aber der „V1“ soll ja V2
usw. folgen. Hoffentlich verzögert der anglo-amerikanische Bombenterror nicht
den Einsatz. Denn es geht ja doch allerhand kaputt dabei. Am 20.7. war auch
wieder ein neuer Luftangriff auf die Waggonfabrik und besonders auf den
Fliegerhorst. Wir fuhren 8 Tage später vorbei nach Gierstädt zum Johannisbeeren
pflücken und waren wiederum erschüttert über die furchtbaren Löcher und
Zerstörungen. Und die Abschüsse halten sich jetzt auch wieder in
bescheideneren Grenzen von 20 bis 40 Flugzeugen.
30.8.1944
Opa’s 76.
Geburtstag und mein letzter Ferientag. Heute Nachmittag wollen wir drüben mit
Kaffee und Kuchen feiern. Man darf bloß nicht an die augenblickliche Lage, die
geradezu niederschmetternd ist, denken: Paris gefallen, die Amerikaner an der
Marne, Yonne [linker Nebenfluss der Seine] und Seine, Rückzug das Rhonetal
hinauf, Abfall Rumäniens, die Truppen dort bei Ploesti eingeschlossen, die
Rumänen nehmen feindliche Haltung an, verstärkter Luftterror über dem
Reichsgebiet. Als wir neulich in Luisenthal waren und es gab gerade Alarm,
gingen wir mit den Kindern in den öffentlichen Luftschutzraum bei unserem
Sägewerk. Er besteht aus einer 20 – 30 m tiefen Höhle, kalt und sehr naß. Ich
stand draußen und zählte 300 feindliche Flugzeuge, die unbehelligt am Kamm nach
Osten flogen. Ab und zu Flakfeuer von Eisenach und Gotha. Es ist deprimierend,
so zuzusehen. Erst nachmittags gingen wir dann ins Schwimmbad.
Am 25.8.
erschien in der Zeitung ein Aufruf von Dr. Goebbels, wonach der Urlaub gesperrt
würde. Alle diejenigen, die gerade im Urlaub sind, sollten sofort ihre
Arbeitsplätze aufsuchen, sofern sie noch mehr als eine Woche Urlaub hatten. Ich
hatte glücklicherweise nur noch 5 Tage, sodaß ich mich nicht betroffen fühlte,
wenngleich mir diese Bestimmung mit der einen Woche auch recht sonderbar und
eigentlich ungerecht vorkam. Sicherheitshalber rief ich K. A. Maelzer [den
Firmenchef] noch an, daß ich bereit wäre zu kommen, wenn er mich brauchte. Und
meinen Urlaub habe ich mir wohl auch redlich mit hunderten von Überstunden
verdient, oft kam ich abends erst um 8 oder ½ 9 aus der Fabrik und habe dabei
bereits um ¾7 früh angefangen.
[Mittlerweile
ist der totale Krieg proklamiert worden, wo Theater und Schulen geschlossen
werden, Post und Eisenbahn aufs schärfste eingeschränkt werden. In einem
Rundbrief (als Lagebericht bezeichnet) schreibt Vater: „Wir haben auch eine
ganze Reihe Bühnenangehöriger in unseren Betrieb bekommen. In meinem Büro ist
ein „Seriöser Bass“ als Zeichner tätig, außerdem eine junge Opernsängerin als
Stenotypistin. In der Fertigung selbst war ein Kapellmeister, ein
Ballettmeister und einige Musiker bei mir beschäftigt. Den meisten ist bereits
ein Arbeitsplatzwechsel ins Tintenkleckserische geglückt. Vereinzelt arbeiten
noch ein paar Sänger und Sängerinnen in der Montage und das Ballett arbeitet in
einer Presserei mit seinen Händen statt mit seinen schönen Beinen.“]
12.11.1944
Heute haben
wir meinen Geburtstag gefeiert, merkwürdigerweise ohne Alarm bis jetzt. Denn
ansonsten gehen wir ziemlich regelmäßig 1x am Tag und 1x abends zwischen 7 und
9 in den Keller. Jetzt auch immer ziemlich beflissen, nachdem am 10.11.
(Freitag) um 19.45 drei Luftminen ins Stadtzentrum geworfen wurden. Die erste
auch noch ohne Alarm oder Vorwarnung. Ich war bis ½ 8 in der Fabrik und fuhr
mit meinem Rad nach Hause. Gerade stieg ich vor unserer Toreinfahrt ab, als es
sehr stark brummte oder eigentlich mehr hohl dröhnte. Ich dachte an V2 oder
etwas ähnliches, es wurde nämlich erzählt,
dass diese Geschosse in unserer Gegend abgeschossen würden. Und seit
Dienstag oder Mittwoch wissen wir, dass seit einigen Wochen V2 fliegt. Ich
starrte also gespannt in die schwarze Nacht, als schon ein kurzes Aufblitzen
sich über den ganzen Himmel hinzog, einen Augenblick später aus der Stadtmitte
eine rote Feuerlohe mit schwarzen Brocken emporschoss und ein ohrenbetäubender
Knall erfolgte. Ich ließ das Rad fallen und warf mich auf die Erde an das
eiserne Tor unseres Nachbarhauses. Als sich das Motorengeräusch entfernte, packte
ich mein Rad und rannte in den Garten und in unser Haus. Tilde war mit den
Kindern schon im Keller, natürlich sehr aufgeregt und außer Atem. Wir holten
noch schnell ein paar Sachen, als es wieder brummte, krachte es zum 2. und 3.
Mal. Und dann ging das Licht aus. Wir hatten glücklicherweise Kerzen bei der
Hand. Nachher sahen wir, dass zwei starke Brände entstanden waren. Ein paar 100
Soldaten marschierten mit Schaufeln aus den Kasernen an uns vorbei. Der Alarm
war gegen 9 Uhr zu Ende. Tilde und ich gingen
erst ½12 ins Bett. Um 12 war bereits wieder Alarm. – Die Minen fielen zuerst
neben die Landesbrandversicherung gegenüber dem Schloß, dann auf den Neumarkt
neben Kaffe Wollenberger und dann gegenüber dem Capitol-Lichtspielhaus in das
Eckhaus Handelsschule Kaesgen, wo jetzt eine Karten-und Bezugscheinstelle ist.
Alle Häuser der nächsten Umgebung wurden vollständig zerstört, die weiteren
stark demoliert mit sehr vielen Dach- und Fensterschäden. Es soll ca. 40 Tote gegeben haben. Die
Schutt- und Trümmerhaufen sehen grauenhaft aus.
3.12.1944
Soeben
kommen wir aus dem Keller, 1h öffentliche Luftwarnung, man ist jetzt sehr
vorsichtig geworden und gibt bei jedem einzelnen Flugzeug Voralarm oder Alarm.
Dafür haben wir beinahe jeden Tag 3 – 4-mal Alarm und nachts ebenso oft. Am
Mittwoch dem 15.11. war auch wieder Alarm um etwa 19 Uhr, und dann kamen wieder
diese Schweinehunde, die Moskitos und warfen ein paar Minen. Erst hörte man es
brummen und röhren, dann dumpfe Detonationen. Das waren scheußliche Augenblicke,
wo man so den heimtückischen Tod über sich spürte. Wieder wurden ein paar
Häuser am Schloßhotel zerstört und viele stark beschädigt. Mehrere Minen fielen
in den Park, eine davon ca. 80m vom Fabriktor entfernt. Als ich am Donnerstag
früh in die Fabrik kam, sah es schaurig aus. Hunderte von Fenstern kaputt, fast
alle Verdunkelungen zerstört, manche Innenwände herausgedrückt, viele
Fensterrahmen herausgerissen, ebenso Türrahmen, Dächer beschädigt, beinahe alle
Oberlichter durchgebrochen. Bei mir im Büro die Holz- und Glastrennwände
verschoben, alle Fenster kaputt, eiserne Schränke umgefallen, im 2. Stock Teile
der Decke heruntergefallen. Am Dach über der Kantine mehrere schwere
Simssteine herunter gefallen. Na, es gingen dann gleich die Aufräumungsarbeiten
los. Die Nachtschicht fiel ein paar Tage aus, gearbeitet wurde von 7.30 bis 17
Uhr. Gleich am Donnerstag nachts hatte ich Luftschutzwache im Werk. Sehr ruhig
habe ich natürlich nicht geschlafen. Tilde war auf mein Anraten nachmittags mit
den Kindern nach Emleben gefahren. Viele Gothaer waren ausgerissen und fuhren
in die Umgebung. Bei Zenkers [einem Vorarbeiter der Firma] fanden sie Aufnahme,
trotzdem sie dort ganz unangemeldet hinkamen. Es gab natürlich ein tolles
Umräumen. Tilde mit unseren 3 Kindern schlief in den Ehebetten, Fritz und Frau
schliefen in einem Bett, Regina in einem Kinderbett im Kämmerchen, nebenan im
Zimmer auf dem Sofa Hanser, oben bei seiner Großmutter im Bett Lothar.
Sonnabend und Sonntagnachmittag fuhr ich dann noch mit dem Rad nach Emleben und
schlief auch noch dort: Vater, Mutter und 3 Kinder in 2 Betten! Die Kinder
vertrugen sich mit Zenkers Kindern ganz gut, Paulchen hatte jedenfalls nicht
die geringsten Hemmungen, während Gerd schon abfällig äußerte, daß man doch
nicht beim Essen seinen Ellenbogen auf den Tisch legen dürfte! Überhaupt war es
ihm auf dem Land zu dreckig, er ging auch kaum raus und malte lieber den ganzen
Tag um die Wette mit Hanser, der der beste Schüler in seiner Klasse ist. Gerd
ging auch ein paar Tage in die Dorfschule, was ihm auch ganz viel Spaß machte.
Es war ihm doch ganz neu, daß mehrere Schuljahre in einer Klasse zusammen
waren.
8.1.1945
Nach 5 oder
6 Tagen kehrte Tilde mit den Kindern wieder nach Hause zurück. Sie hatte
Heimweh und die Verhältnisse waren dort doch zu gedrückt. Und den Alarm von
Gotha und das Brummen der feindlichen Flieger hörte man auch dort ganz genau.
Ich ging bei jedem Alarm im Dunkeln in der Wohnung herum und machte Fenster und
Türen auf. [Durch diese Maßnahme sollte deren Zerstörung bei einer
Luftdruckwelle von einer in der Nähe explodierenden Bombe verhindert werden]
Alle Doppelfenster hängte ich aus und verstaute sie z.T. im Keller, z.T. unter
den Betten, in Decken eingewickelt. Und viel Porzellan, Glasvasen usw. packte
ich allein in Papier und schaffte es in die Holzkiste im Keller. – Die ersten
paar Tage nach Tildes Rückkehr war wenig Alarm, dann aber ging es wieder los, 2
– 3-mal am Tag und ebenso oft in der Nacht. Scheußlich war das, am schlimmsten,
wenn der Alarm zu Ende war und man lag gerade wieder ½ Stunde im Bett und dann
ging es von neuem los. Wir entschlossen uns nun, ganz im Keller zu schlafen. Es
waren ja 4 Liegestühle und 2 Luftschutzholzbetten, eins davon aufgeschlagen,
vorhanden. Wir schleppten also täglich unser gesamtes Bettzeug außer den
Matratzen in den Keller, dann noch Sofakissen und Wolldecken, die
Faltboot-Schlafsäcke und Luftmatratzen. Ich legte noch einen Anschluß für den
Rundfunkapparat, sodaß wir nun im Keller Luftlageberichte hören konnten. Wir schliefen
gut und unbehelligt von den Alarmen, natürlich ½ oder ¾ angezogen, denn es war
natürlich empfindlich kalt und teilweise auch etwas feucht. Nur Margrit störte
uns oft durch ihren Husten. Und wenn die Kinder nachts bacheln [pinkeln]
mussten, war das ein langes Aus- und Einpacken. Zu allem Unglück kam noch
hinzu, daß unser Goldtöchterchen fast täglich ins Bett pinkelte.
Unter diesen
Umständen hatten wir gar keine Lust zu Weihnachtsarbeiten. Schließlich fingen
wir an, nachdem die Kinder zu Bett, d.h. in den Keller gebracht waren, einige
Spielsachen zu reparieren und neu zu lackieren.
Als wir
erstmal beim Basteln waren, kam doch wieder etwas die nötige
Weihnachtsstimmung, zumal die Alarme plötzlich auffallend abnahmen, sodaß wir
nach etwa drei Wochen wieder in unsere Betten oben zurückkehrten. Und dann kam
die frohe Botschaft von unserer Westoffensive, und alles munkelte von der
bereits Tatsache gewordenen Brechung des Luftterrors. Leider war es damit noch
gar nichts. Denn ausgerechnet zu Weihnachten ging der Sirenenzauber wieder in
aller Frische los.
Gestern
Vormittag hatte ich zum 2. Mal Volkssturmdienst. Es war wieder ein paar Grad
unter Null. Wir besetzten den Krahnberg, machten Geländeübungen und exerzierten
ein bisschen. Wegen der Kälte wäre es mir sehr erwünscht gewesen, wenn man uns
etwas mehr herumgejagt hätte, Im übrigen war es sehr schön, morgens in der
weißen sonnigen Winterlandschaft herumzustiefeln.
25.2.45
Jetzt
schreibe ich auch mal bei Voralarm im Keller der Fabrik. Es ist Sonntagvormittag,
und eigentlich hätte ich wie jeden Sonntagvormittag seit 1.1. Volkssturmdienst.
Aber Luftschutz geht vor. Um 9 ging ich mal eben schnell ins Liak [Kino], wo
ein Lehrfilm der Heimatschule über Elektrotechnik lief. Leider kam um 10 Uhr Voralarm und ich mußte
nach ½ Programm in die Fabrik. – Am 6.2. war hier wieder ein Angriff auf Gotha,
insbesondere auf den Bahnhof und das Reichsbahnausbesserungswerk. Die
umliegenden Stadtteile wurden zum Teil schwer in Mitleidenschaft gezogen. Blödner
hatte wieder Glück, es gingen nur wenige Fensterscheiben entzwei. Vereinzelt
fielen auch Bomben in unsere Gegend, die nächste Willy-Marschler-Str. bei der „
Weißen Wand“ [Kino an der Ecke Cosmar-Reinhardsbrunner Str.]. Zu Hause gottlob
nichts passiert. In der Fabrik hörte man das Krachen schon sehr deutlich, das
Licht versagte, und ich dachte es würde über uns ein Bombenteppich gelegt. Es
brannte an verschiedenen Stellen, am Bahnhof erhielten 2 Splittergräben und
die Bahnsteigunterführung einen Volltreffer, was viele Opfer forderte. Auch die
Obergeschosse der Bahnhofshalle krachten herunter, der Wartesaal ein
Trümmerfeld. In der Feuerbank ebenfalls ein Volltreffer in den Luftschutzkeller
= 50 Tote, meist alles junge Mädchen und Frauen, die für uns an Maschinen Halteschrauben
schlitzten, als Verlagerungsbetrieb. Im Park wieder eine ganze Menge
Bombenkrater.
Es war
scheußlich, mehrere Tage ohne Gas und Licht zu sitzen. Natürlich schliefen wir
wieder beinahe jede Nacht im Keller, da ohne Strom ja auch die Sirenen nicht
gingen. Ein Flakschuss sollte ersatzweise das Signal sein. Darauf wollten wir
uns im Schlaf nicht verlassen. – Da wir in der Fabrik sowieso nicht arbeiten
konnten, kam unsere Belegschaft für Aufräumungsarbeiten am Bahnhofsgebäude zum
Einsatz. Viele Gleise aufgerissen, Werkstätten zerstört, eine Brücke der
Ohrdrufer Bahn eingestürzt. Und doch auch wieder Glück: die Drehscheibe
unbeschädigt, ebenso der Lokschuppen und der große Viadukt über die Ohrdrufer
Straße. Das Gelände der Güterabfertigung sah auch toll aus: mitten zwischen und
in abgestellte Wagen waren die Bomben hinein gehauen. Ein Gewirr von
Drehgestellen, Trägern, Holzplanken. Ein
Güterwagen war sogar ca. 38m weit in ein Haus geflogen, welches dann
ausbrannte. Überall musste mit Schneidbrennern und Kran gearbeitet werden. –
Ich habe in den Tagen viel erlebt und gesehen, unter anderem auch, wie schwer
die Masse Mensch sich bewegen und dirigieren lässt, wie kopflos alles nach
solchen Ereignissen wird, wie stinkfaul die meisten Leute sind. Keinen Schlag
machen sie, wenn nicht dauernd einer dahinter steht oder sonstige Zwangsmittel
vorhanden sind.
Ich leitete
den Einsatz der ca.300 Blödner-Leute und kam mit allen maßgebenden
Eisenbahnern zusammen. Zum Schluss fühlte ich mich auf dem Gelände schon ganz
zu Hause. - Übrigens haben wir schon seit 1.2. Evakuierte in unserem
Fremdenzimmer. Ein älteres Ehepaar aus Breslau, sehr freundliche und stille
Leute, die einen 15-jährigen Sohn verloren haben. Wir kommen sehr gut mit ihnen
aus, und Frau Gutsche hilft auch viel im Haushalt und gibt auf die Kinder acht.
Besonders Margrit hat sie ins Herz geschlossen.
Es ist eben
eine schreckliche Kohlennot, und es ist ein großes Glück, dass ich im Sommer
„Holz machte“. Vom Bahnhof brachte ich auch öfter Holz aus den Trümmern mit,
bis jetzt 6 Traglasten. Gerd half mir schon beim Kleinmachen mit der
Schrotsäge, Paulchen natürlich auch. Und als Mutti dann noch …………..Zweige
zerhackte, mußte natürlich auch jeder mit dem Beil arbeiten. Es ging ganz gut,
bis Paul plötzlich das Beil los ließ, weil es ihm zu schwer wurde, und sich ins
Bein hackte. Es blutete ordentlich, und Opa musste die Wunde zusammen klammern.
Sicherheitshalber gab er dem kleinen Pechvogel noch eine Tetanusspritze. Jetzt
muss er den ganzen Tag auf dem Sofa in der Küche liegen und piepst, wenn er in
den Keller getragen wird. Denn wir müssen jetzt sehr sehr oft in den Keller.
Das anglo-amerikanische Pack hat nach der Konferenz von Jalta, wo sich die 3
Kriegsverbrecher Churchill, Roosevelt und Stalin ein Stelldichein gaben, die
Generaloffensive in der Luft begonnen. Vier-, auch 5-mal am Tag, manchmal eben
so oft in der Nacht, heult die Sirene, oft nur öffentliche Luftwarnung ( =
Voralarm genannt), aber auch richtige Alarme von 3½ h Dauer kommen vor.
Mehrmals hatten wir innerhalb von 24 h bis zu 10 h Alarm oder Voralarm. Und im
Osten sieht es geradezu katastrophal aus, wenngleich auch in den letzten Tagen
die Russen nur noch sehr langsam Boden
gewinnen. Weit östlich von Breslau stehen sie schon, Sagan, Bunzlau,
Frankfurt/O, Arnswalde, Pyritz und fast ganz Ostpreußen haben sie. Das
Flüchtlingselend muss grauenhaft sein. Bei der scharfen Kälte sind Frauen zu
Fuß mit Kleinkindern 150 km marschiert. Oft wurden Trecks von russischen
Panzern eingeholt und überwalzt. Und dann wurden die Auffangstädte Dresden,
Cottbus, Görlitz und Berlin wiederholt von den Luft- und Lustmördern wahnsinnig
bombardiert, es soll ungeheure Verluste gegeben haben. Das alles wirkt so unendlich
niederdrückend, am schlimmsten, dass der Luftterror nicht gebrochen wird und
die Abschusszahlen sich in so bescheidenen Grenzen halten. Fast ungestört und
ohne Risiko können Tausende (!) viermotorige Bomber einfliegen, Jagdflugzeuge
beschießen bei Seebergen und Emleben die Züge und nichts, gar nichts passiert.
Fernzüge
haben jetzt manchmal 1 oder 2 Flakwagen mit Vierlingsschnellfeuerkanonen. Und
wie haben wir nach den Reden von Goebbels und den Zeitungsartikeln auf eine
Wendung zum Guten gehofft, geglaubt. Und es wird immer schlimmer. Entweder
kommen wir durch den Bombenterror um, oder die Bolschewisten geben uns den
Genickschuss. Wir machen uns schon Gedanken, wie wir uns bei einem etwaigen
Russeneinfall verhalten, d.h. auf welche beste Art wir mit den Kindern aus dem
Leben scheiden. Wer hätte an so was früher gedacht, etwa als ich das Buch hier
begonnen habe! Wenn man aber die furchtbaren Gewalt- und Schandtaten liest,
die die Russen bei ihrem Vormarsch in Ostpreußen und Schlesien begangen haben,
kommt man auf diese Gedanken.
Unser
schönes erinnerungsreiches Zelt haben wir beim „ Volksopfer“ der
Spinnstoffsammlung abgegeben. Und manches andere dazu, aber nichts ging uns so
nahe wie das Zelt, womit ja auch die Kinder im Sommer gespielt hatten. Opa hat
2 Fracks und sehr viel anderes abgegeben. Einmal sammelten wir auch vom Volkssturm
aus am Sonntagvormittag. - Sehr schöne Stunden verlebten wir noch im Januar als
genügend Schnee lag. Da gingen wir mehrmals am Sonnabendnachmittag oder
Sonntagnachmittag (ich habe ja jetzt seit 1.1. jeden Sonntagvormittag
Volkssturmdienst) mit den Kindern rodeln und Ski laufen.
6.3.1945
Regelmäßig,
tagtäglich um 20 Uhr ist Alarm, und ebenso regelmäßig vormittags. Vor ein paar
Tagen wollten wir endlich mal wieder oben schlafen, einen Alarm hätten
wir in Kauf genommen. Natürlich war nachts 5x Alarm. Nach dem 3.oder4. zogen
wir dann reumütig mit Sack und Pack wieder in den Keller. Es war
gegen 2 Uhr und die Kinder torkelten nur so vor Schlaftrunkenheit. Leider ist
es zu allem Unglück auch noch sehr kalt und windig geworden. In der Fabrik wird
seit 14 Tagen nicht mehr geheizt, und unsere Küche wird auch nie so recht warm.
Das Eßzimmer können wir nicht mehr heizen. Es gibt kein Gas, und alles muss auf
dem Kohlenherd gekocht werden. So spielt sich das ganze Leben nur noch in der
Küche ab. Man lernt sich bescheiden. Aber schon an 2 Sonntagen haben wir
nachmittags wieder musiziert. Es lenkt einen etwas ab.
Vorigen
Samstag hatte ich frei. Der ganze Betrieb ruhte wegen Stromsperre. Wir
schaufelten im Vorgarten eine Sandböschung an den Keller [d.h. vor das Kellerfenster
als Splitterschutz] und ließen uns durch die vielen Alarme nicht allzu sehr
stören.
Gerd hat nur
noch 3x in der Woche Schule, und dann fällt sie auch noch meist wegen Alarm
aus. Mutti gibt ihm ab und zu mal eine Privatstunde, besser gesagt eine
Privatviertelstunde. Das macht Gerd keineswegs Spaß und öfter gibt es dabei
Tränen.
Spittels
haben jetzt auch Gothaer Evakuierte: Frau Spohr, Lehrerin mit ihrem Sohn Rainer
3 Jahre und ihre Mutter Frau Fett, da wimmelt es nur so im Luftschutzkeller.
Rainer brüllt meist, wenn er so aus dem Schlaf gerissen wird. Und wenn man erst
mal 2 bis 3 Stunden im Keller steht oder sitzt, friert man ganz erbärmlich.
26.3.45
Wer weiß, ob
ich noch mal außer heute zum Schreiben komme. Ich befürchte, daß wir den Krieg
bereits verloren haben. Heute im Wehrmachtsbericht ist gesagt, daß der Feind
bei Hanau und Aschaffenburg steht. Es lief uns kalt den Rücken herunter. Und
alle unsere Verwandten in Offenbach, Rheinhessen und Buchschlag im Kampfgebiet
oder schon in Feindeshand. Nicht auszudenken, daß es bis zu uns nicht viel mehr
als 150 km sind. Dazu der ununterbrochene Bombenkrieg. Heute wieder von 13.00 –
15.45 Alarm. Die vielen Voralarme zählt man schon gar nicht. Und seit 2 Monaten
keine Nacht ohne Alarm oder Voralarm. Mal schlafen wir ein paar Tage im Keller,
mal ein paar Tage oben. Oft legen wir auch die Kinder um 7 Uhr in den Keller,
um sie nach dem Alarm rauf in die Betten zu holen. Vorigen Freitag hatten wir
Christa Schondelmeier [Geschäftsbekanntschaft aus dem Schwarzwald] zu Gast. Sie
war mit dem Lastwagen nach hier unterwegs, wurde bei Mellrichstadt von
Tieffliegern beschossen und durch Glassplitter verwundet. Das Auto kaputt.
Die letzten
Tage war sehr schönes sonniges und warmes Wetter. Gottseidank hatte ich
Sonnabendnachmittag Luftschutzwache und kam um die Nachtübung des Sturmvolks
herum. Weisheit 2 erzählte mir früh, daß es eine furchtbare Pleite war. Sonntag
gruben wir einen großen Teil des Rasens im hinteren Garten um. Trotzdem ich
mächtige Schwielen kriegte, war es herrlich so im Freien zu schaffen. Auch
unsere Möhrenmiete leerte ich aus, die Rüben haben sich tadellos gehalten.
Vor 8 Tagen
fragte eine vorbeikommende Bauersfrau Tilde, ob sie nicht ein Kinderstühlchen
abzugeben hätte. Es kam ein Tausch zustande, der uns 20 Pfund Bohnen, 1 Pfd.
Butter und eine schöne Blutwurst einbrachte. Die Lebensmittelrationen sind
bedeutend gekürzt worden, und man kann sich nicht mehr mit gutem Gewissen
dauernd satt essen. Die Kinder sehen aber glücklicherweise noch recht blühend
aus, während Tilde und ich schon beachtlich abgenommen haben. Tildebutz wiegt
ca. 123 und ich 132 Pfd. Alles wird zu weit.
20.4.45 Margrits Geburtstag heute und Geburtstag
des Führers! Es ist strahlender
Sonnenschein wie schon seit 2
Wochen, und alles blüht und grünt draußen, daß es eine Freude sein könnte.
Statt dessen dumpfe Verzweiflung in uns in dunkler Ahnung der Dinge, die noch
kommen werden. Russen und Amerikaner kaum 120 – 150 km noch auseinender. Vor
Hamburg stehen sie, Lüneburg, Uelzen, Soltau (?), Magdeburg, Halle, Leipzig,
Plauen, Hof, Schweinfurt, Nürnberg im Westen. Und Stettin, Frankfurt a. O.,
Wriezen! Cottbus, Spremberg, Bautzen, Mährisch Ostrau, bei Brünn, Skt. Pölten!
Im Osten. Ist da bei klarer vernünftiger Überlegung überhaupt noch ein
Hoffnungsschimmer? Es stürzt eine Welt von Glauben, Hoffnung und Wünschen ein,
und man zweifelt an allem, was gesagt und geschrieben wurde. Schweren, blutenden
Herzens muß man jenen Recht geben, die sagen, daß man uns von jeher belogen
hat. Diese Leute sind jetzt natürlich oben auf, schimpfen in der ordinärsten
Weise auf den Führer und den Nationalsozialismus. Dabei vergessen die meisten
ganz, daß sie am lautesten Hosiannah gebrüllt hätten, wenn der Erfolg gekommen
wäre. Und der Erfolg ist eben nicht gekommen, sondern schmähliche Niederlage,
freilich gegen 10- oder 20-fachen Gegner. Und von all den hochtönenden Phrasen
über Vergeltung und neue Waffen nichts wirklich Entscheidendes! Und die
geschichtliche Wende, die der Führer am Jahresbeginn prophezeit hat, scheint
da zu sein, aber leider zu unseren Ungunsten. Es sind viele, viele und schwere
Fehler gemacht worden, es liegt eben am Menschen, daß er menschlich ist und
seine Schwächen hat. Am Menschen ist wohl auch die Idee gescheitert, die sonst
gut und groß ist. Und wenn die gesamte Welt über uns herfällt, was soll da das
kleine Deutschland mit bloßen Fäusten gegen Bombergeschwader und Tanks
ausrichten? Das Verkehrsnetz zerstört und in Unordnung, die rumänischen
Ölquellen weg und damit kein Treibstoff, die Kugellagerindustrie, die
Flugzeugindustrie, die Hydrierwerke zerstört, keine Schmiermittel, keine
Kohle, kein Strom und Gas, es ist furchtbar!
Aber nun
will ich Tatsachen berichten, zum Abwägen von Schuld und Schicksal mögen später
andere berufen sein. – Die Woche vor Ostern starrten wir gebannt auf die
Karten, wie die Front unaufhaltsam näher rückte. Wilde Gerüchte durchschwirrten
die Luft, wonach die Feindspitzen schon in Fulda, Vacha, Würzburg sein sollten,
während der Wehrmachtsbericht erst Aschaffenburg, Gemünden, Hammelburg,
Gelnhausen nannte. Von Freitag bis Ostersonntag sollte nicht gearbeitet werden,
auch ein Zeichen des Niedergangs, wo wir hätten Höchstleistungen vollbringen
müssen. Stattdessen dauernd Volkssturm-Dienst. Aber wie! Am Dienstag vor Ostern
hieß es um 19 Uhr plötzlich: Alarmstufe 2, sofort antreten. Ich wurde als
Melder aufs Schloß, wo die Befehlsstelle sein sollte, geschickt. Alles sollte Decken
und Verpflegung mitbringen. Gegen 9 und 10 wurde alles abgeblasen und die
Bataillone wieder nach Hause geschickt. Wir Melder durften noch bis gegen 24
Uhr weiter warten und nichts tun. Denn niemand der maßgebenden Männer war da.
Am Karfreitag war Ruhe, ich spielte mit den Jungens Eisenbahn. Aber am
Sonnabendnachmittag plötzlich wieder der Befehl: Sofort am Finanzamt antreten.
Von 3 – 5 gewartet, es passierte nichts. Dann wieder als Melder zum Befehlsstab
in die Friedrichsche Ziegelei. Dort niemand, sollten in die Waggonfabrik. Dort
bis 21 Uhr herumgesessen und gewartet, danach nach Hause geschickt. Dort lag
schon der nächste Befehl: Sonntag früh antreten zum Schanzen bei Ülleben. Wir
marschierten raus, bogen kurz vor dem Dorf rechts nach Boilstedt ab und
warteten in der alten Flakstellung der Dinge, die da kommen sollten. Bis
Mittag, ohne daß was geschah! Die Stimmung war entsprechend. Es waren auch
keine Geräte da und auch niemand, der Bescheid wusste. Nachmittags hatte ich in
der Fabrik Luftschutzwache. Da kommt wie ein Keulenschlag die Aufforderung von
Karl August [Maelzer, dem Chef], alle wichtigen Akten und Zeichnungen sofort zu
verbrennen, die Amerikaner seien bereits in Eisenach. Fieberhaft arbeitete ich,
ließ die Schreibtische und Schränke meiner Sachbearbeiter aufbrechen und holte
alle Geheimschreiben heraus. Dann sollte noch ein Teil von Engpassmaschinen
abtransportiert werden. Mein Vorschlag, sie nach Greiz zu schaffen, wurde
akzeptiert, scheiterte aber am Zustand der Lastfahrzeuge bzw. an der
Opposition der Herren Fahrer. So kamen sie in die nähere Umgebung. Als ich
todmüde gegen 20.30 nach Hause kam, schon wieder ein Befehl, nächsten früh
antreten. Das war also Ostern. Na, und die Schilderung der nächsten 2 Tage will
ich mir ersparen. [Dazu gibt es unter dem Datum vom 3.4.1946 noch Einzelheiten] Kurz und gut, am Mittag des 4. April zogen
die Amerikaner in Gotha ein, nachdem sie in der vorhergehenden Nacht die Stadt
noch ausgiebig mit Artillerie beschossen hatten. Alle Hausbewohner verbrachten
die ganze Nacht im Keller. Am nächsten Tag, ebenso an den folgenden und auch
nachts wurde immer noch gelegentlich heftig geschossen, d.h. die Amerikaner
schossen von hier aus nach Osten und Süden, und sowie ein deutsches Flugzeug
auftauchte, knallte es aus allen Strassen hoch, mehrere wurden auch
abgeschossen. Ich fuhr dann mal mit Herrn Döll, der übrigens jetzt verhaftet
und angeblich in ein Konzentrationslager bei Alsfeld gekommen ist, in die
Fabrik, wo bloß Weisheit 1, Poller, Weise, Emmerich, Bo(r)chert und Karl August
waren. Alle natürlich ratlos und sehr niedergedrückt. Es wurde gleich ein
Wachdienst eingerichtet, damit die Ausländer nicht alles wegschleppten. Denn
geplündert wurde vom ersten Tag an, sogar schon am Dienstagabend noch während
geschossen wurde. Lebensmittel, Stoffe, Stiefel, Rucksäcke und Socken aus den
Lagern in den Kasernen und in der Cosmarstrasse. Dann kamen die Güterwagen auf
dem Bahngelände dran: alles wurde erbrochen und ausgeraubt. Natürlich
plünderten außer den Ausländern auch die Deutschen, schließlich mit dem Recht,
daß sie sich sagten, ehe es den Amerikanern oder den Polacken in die Hände
fällt, nehmen wir es lieber selber. Polen und Russen haben sich fast alle
Fahrräder gestohlen bzw. einfach den Leuten auf der Strasse abgenommen. Nach
ein paar Tagen erschienen endlich Schilder: wer plündert wird erschossen, und
es sollen auch wirklich ein paar Polen beim Ausrauben eines Waggons mit
Zigarren getötet worden sein.
Am 2. oder
3.Tag holten die Franzosen, denen jetzt das Ausländerlager untersteht, alle
Lebensmittel aus unserer Kantine. Den Lagerführer hatten sie eingesperrt,
einmal weil er Lebensmittel unterschlagen hätte, und dann weil er oft
Ausländer, auch Frauen, geschlagen hat. Auf Veranlassung des amerikanischen
Stadtkommandanten wurde er aber wieder frei gelassen, weil er der richtigen
Meinung war, dass bei einem Lager von ein paar hundert Menschen und 6 oder 7
Nationalitäten gelegentlich einmal Schläge angebracht sind.
Die
Ausgehzeit wechselte anfänglich dauernd. Da keine Anschläge herauskamen, wusste
auch kein Mensch richtig Bescheid. Die wildesten Gerüchte kursierten. Aber auf
einem Anschlag stand jedenfalls, dass alle Schuss- und Hiebwaffen und alle
Fotoapparate abzuliefern seien, was ich denn auch brav tat. Ich ließ mir von
einem vorüber fahrenden Auto eine Quittung geben, während auf dem Rathaus, wo
Opa seinen Apparat, Fernrohr und Revolver abgab, alles wahllos auf einen Haufen
geworfen wurde.
In der
Fabrik war auch häufig fremder Besuch. Mal stiegen die amerikanischen Soldaten
vom Bahngelände durch ein Fenster bei Wachsmuth ein und durchstöberten dann
alle Räume, Schränke, Kästen und Behälter. Mir klauten sie von meinem
Schlafanzug die Hose, während Kissen, Schlafsack und Bücher unberührt blieben.
Im übrigen Büro und in den Meisterbuden sah es natürlich wüst aus. Dem Meister
Schuchard hielten zwei Kerle die Pistolen unter die Nase, als er in seinem
Schrank was holen wollte.
Übrigens
wurden Sonnabend vor Ostern noch mal wieder Bomben auf Gotha abgeworfen. Eine
fiel in die Zuschneiderei und zerstörte ein paar Blechscheren, der erste
schwere Maschinenschaden, den wir hatten. Die Bahnstrecke bei Seebergen wurde
wieder zerstört und der Verkehr dadurch lahm gelegt. – Bald gab’s auch
Einquartierung in vielen Häusern aller Stadtteile. Die 3 Eckhäuser der
Kaiserstrasse und Sauckelstr. wurden auch belegt, es kam eine Art Reparaturwerkstatt
rein. Natürlich mussten alle Leute raus. Drüben bei Schlothauer wurden die
Leute um 23 ½ aus den Betten gejagt! Am
Sonntagnachmittag half ich Frau Griese, einen Teil ihrer Sachen in die
Schlichtenstr. zu ihrer Schwester zu transportieren. 2x den Weg mit voll
beladenem Leiterwagen strengte mich sehr an. Frau Schröder mit ihren Eltern
Müller, Herr Friedrich und die ganze Verwandtschaft von Spittels aus der
Kaiserstr. musste raus. Bei Spittels nächtigten 15 Personen auf Liegestühlen,
Sofas, Luftschutzbetten. Unser und der Großeltern Angebot schlugen sie ab, sie
wollten zusammen bleiben. Bald wurden auch weitere Häuser der Sauckelstr.
belegt, wir waren ganz von Amerikanern eingekeilt. Und schließlich kam dann
auch das Verhängnis: ich hatte gerade Nachtdienst und stand Donnerstag den
12.4. früh auf, als Opa ans Fabriktor kam, ich sollte gleich nach Hause kommen,
wir müssten die Wohnung räumen. Um ½ 7 waren sie angerückt, bis 7 Uhr musste
die Wohnung leer sein. Nachher bekamen wir aber doch Frist bis 11. Alles half
nun mit: Opa, Oma, Herr Schröder von der Kaiserstr., Herr und Frau
Gutsche. Bei so vielen Händen konnten
wir sehr viel fortschleppen, vor allem natürlich alle Nahrungsmittel, auch
Kartoffeln und Briketts, Wäsche und Eingemachtes, Most und Wein. Und gerade
hatten wir an den Tagen vorher vieles sorgfältig versteckt, denn allenthalben
hörte man, dass die Soldaten Alkohol und Eingemachtes klauten. Sie kamen
einfach in die Wohnungen und hielten „ Haussuchungen“ nach Fotoapparaten und
Waffen ab. Dabei ließen sie dann vieles andere mitgehen. Bei Kürschner holten
sie sich Marmelade und Eingemachtes, bei Fr. Stoll stahlen sie 5 Uhren, auch
Radioapparate und Motorräder sind gesuchte Artikel. Wir zogen zu den Eltern,
deren Heim einigermaßen durch das Rote Kreuz geschützt ist. Tilde schlief im
Esszimmer auf der Couch und ich auf dem Strohsack, den wir sonst im Keller
hatten, auf der Erde. Die Kinderbetten hatten wir natürlich komplett rüber
genommen. Gerd schlief im Schlafzimmer der Großeltern, wir anderen alle im
Esszimmer. Am nächsten Tag sollte die Gesellschaft gegen Mittag wieder
abrücken, in unserer Wohnung waren nur 22 Mann! Tilde ging gegen Mittag rüber
als die Kerle gerade mit ihren Porzellantellern und Schüsseln abzogen. Sie
wandte sich an den captain, der ihr sagte, dass nach dem Mittagessen alles
wieder zurück gebracht würde. Ganz unaufgefordert zog ein boy aus seiner Bluse
unseren elektrischen Toaster hervor und gab ihn Tilde zurück. Leider fehlten
aber nachher doch ein paar Teller und Schüsseln. Gegen 13 Uhr gingen wir wieder
rüber und sahen dem Abzug von der anderen Straßenseite zu. Als die Autos
abgefahren waren, gingen wir zunächst zu Spittels, die Wohnung zu besichtigen.
Plötzlich flog irgend etwas am Fenster vorbei. Es waren aus unserem
Schlafzimmer zwei von unseren Schlaraffiamatratzen, die zwei Yankees klauen
wollten. Wir wie der Blitz hinterher und die Kerle gestellt, sie waren aus der
Nachbarschaft und sagten, sie würden die Matratzen morgen wiederbringen, sie
müssten sonst auf der Erde schlafen. Wir sagten, dass wir auch auf der Erde
geschlafen hätten und Kinder hätten. Sie machten trotzdem Miene, mit den
Matratzen abzuziehen. Außer Opa, Lotte und den Hausbewohnern stand vor dem Tor
noch eine kleine Menschenmenge. Da wurde es ihnen scheint’s ungemütlich, und
vielleicht gelang es Tilde, sie bei der Ehre zu packen, als sie ihnen sagte,
ihr Captain hätte gesagt, alle amerikanischen Soldaten wären Gentlemen.
Nun gingen
wir erst mal in unsere Wohnung rauf. Da sah es ziemlich wüst aus, wenngleich
auch mutwillig kaputt gemacht nur wenig war, z.B. die Glasplatte auf der
Frisierkommode, der elektrische Kachelofen, diverses Kinderspielzeug (die
Dampfmaschine demoliert). Vielleicht war auch alles nur aus Versehen passiert.
Aber umgeräumt war viel, der Schuhschrank in der Speisekammer, die Nähmaschine
vor der Glastür, die Wickelkommode im Flur, das Kinderzimmer vollständig
ausgeräumt, dafür die hölzernen Luftschutzbetten aus dem Keller drin, in die
Schränke alles wild hinein gestopft, an jeder möglichen und unmöglichen Stelle
Zigarettenstummel und viel Dreck und Schmutz, leere und halb volle
Konservenbüchsen, Kartons, Papier usw.
Und allerlei
hatten sie da gelassen: ein Paket Tabak, ein paar Flaschen Südwein, leere
Patronentaschen, einen Marschkompass, eine Eisenbahnermütze, eine
Unteroffiziersmütze, diverse Trophäen aus dem Rheinland, bald 15 Schachteln
Streichhölzer, einen Rasierapparat, ein Bügeleisen. Na, also den ganzen
Nachmittag brauchten wir dazu, um sauber und Ordnung zu machen. Wir schliefen
aber zunächst noch in der Kaiserstrasse [bei den Großeltern], weil ich Sonntag
den 15. wieder Nachtdienst hatte. Montag schleppten wir dann unser ganzes Zeug
wieder rüber. Ich wollte ein Törchen im Gartenzaun [zu den Großeltern in der
Kaiserstraße] anbringen, aber der Schröder [Hauswirt in der Kaiserstr.] hat
sich von seinen Weibern so einwickeln lassen, dass er es jetzt auf einmal nicht
mehr gestatten will, trotzdem er es vor ein paar Wochen zusagte. Ich machte
daher zwei Treppchen, um bequem über den Zaun steigen zu können. Gerade war ich
bei den Eltern, als Frau Spittel in höchster Aufregung rüber schrie, ich sollte
gleich mal kommen. Na, da wusste ich gleich Bescheid, wir sollten wieder die
Wohnung räumen. Wir sperrten uns eine Weile, schließlich kam ein Major und
belegte das Erdgeschoss mit Beschlag, für eine Nacht sollten 7 Leute dort
schlafen. 3 davon aber waren Nachrichtenhelferinnen oder Victory-Girls oder so
was. Spittels und Gutsches kamen dann eben zu uns rauf. Wir waren gerade mit
dem Abendessen fertig, als schon wieder 1 finsterer Bursche hereinkam, um nun
auch noch unsere Wohnung zu beschlagnahmen. Ich redete eine Weile mit ihm, er
kehrte um, kam aber gleich mit einem anderen bewaffneten Kerl wieder, der trotz
aller Proteste bloß immer radebrechte: „ Du muß raus, Du muß raus“.
Gentlemanlike gab er uns 15 Minuten Zeit. Nun ging also wieder die wilde Jagd
los. Nachher hat man uns doch eine halbe Stunde Zeit gelassen. Es kamen 7
Soldaten, die allemal morgens abzogen und abends ins Quartier zurückkamen.
Spittels konnten aber schon am anderen Tag wieder in ihre Wohnung. Trotz der
Anwesenheit des Herrn Major hat die Bande viel gestohlen: Skistiefel von
Helmut, ebenso seine besten Krawatten, ein halbes Dutzend neue Strümpfe von
Frau Spittel, eine Uhr und noch so verschiedenes. Unsere „ Mieter“ hingegen
waren, als wir heute die Wohnung wieder in Besitz nahmen, scheinbar ganz ordentliche
Leute, oder sie hatten wenig Zeit. Außer meiner Fototruhe war diesmal nichts
durchgewühlt, alle Schränke und Behälter waren so wie wir sie gelassen hatten.
Nur mit dem Bügeleisen haben sie ein paar große Löcher in das Sofa gebrannt.
Der Überzug war ohnedies nicht mehr viel wert. Wir wissen nun gar nicht, ob wir
wieder alles sauber und zurecht machen sollen, es kommt dann vielleicht gleich
wieder Einquartierung. Leider ist die Fritz-Sauckel-Str. jetzt eine ganz
unruhige Gegend. Zumal das Eckhaus mit der früheren Postfiliale gänzlich
beschlagnahmt worden ist und alles am Mittwochnachmittag räumen mußte. Die
ganze Nachbarschaft half mit, wir auch, und es war eigentlich ein Zeichen
schöner Volksgemeinschaft, die sich in der Not bewährt. Ohne fachmännische
Hilfe schleppten wir die schweren Möbel vom 2. und 3. Stock und stellten sie
auf den Bürgersteig bzw. in die gegenüber liegenden Gärten. Denn manche
Familien wussten noch gar nicht, wo sie unterkommen sollten und wie sie die
Möbel abtransportieren sollten.
Neulich
waren mal 2 amerikanische Fachleute, Soldaten in unserem Werk. Der eine sprach
fließend deutsch und ließ sich genaue Einzelheiten sagen. Er tat so, als ob er
in höherem Auftrag käme ( „ein Teil der Maschinen wird abtransportiert, sie
bekommen sie dann von der deutschen Regierung bezahlt“ und „ sie werden wieder
von uns hören“), ich glaube aber bestimmt, dass sie nur aus Privatvergnügen
herumschnüffelten, denn sie schämten sich nicht, zwei Reiseschreibmaschinen zu
stehlen und weigerten sich, eine Quittung zu geben. Der eine fragte mich, wie
wir die Franzosen behandelt hätten, ich sagte, wenn sie gut gearbeitet hätten,
wären sie auch gut behandelt worden. „Und wenn sie nicht gut gearbeitet haben?“
„ Dann sind sie mal richtig, wie man bei uns sagt, angeforzt worden, genau wie
unsere deutschen Leute auch.“ „Oder ins Konzentrationslager gebracht und halb
tot geprügelt“. Man sieht also, wie verhetzt die Bande ist. Übrigens geht hier
hartnäckig das Gerücht um, in Ohrdruf wären von der SS ca. 4300 Häftlinge kurz
vor dem Einmarsch der Amerikaner umgebracht worden, weil sie nicht mehr
weggebracht werden konnten oder zu entkräftet waren. Ich kann das einfach nicht
glauben, daß von Unsern auch so viehisch wie von den Sowjets verfahren wird.
Und wenn schon, daß das durch Befehl von oben veranlasst wird. Denn wie haben
wir uns damals über Katyn und Winniza entsetzt. Aber man muss befürchten, dass
es in jedem Lager menschliche Bestien gibt.
An Arbeiten
in der Fabrik ist vorläufig gar nicht zu denken. Es wird einem noch gar nicht
bewusst, dass man aus der tollen Arbeiterei urplötzlich ins entgegengesetzte
Extrem verfallen ist, nämlich die Arbeitslosigkeit. Es tauchen die schlimmsten
Probleme auf, keine Anstellung kein Verdienst, keine Lebensmittel vorhanden oder
kein Geld sie zu kaufen, Deportation, Verhaftung, Aufstände der Ausländer und
des Pöbels, Kommunistenherrschaft. Man wundert sich nur, dass es bis jetzt so
ruhig bei uns ist. Es scheint eben alles noch mehr überrascht und gelähmt von
der unerwarteten Wendung zu sein, als tatendurstig, die früheren Verhältnisse
zu „verbessern“. Gestern abend sprach
Goebbels ¾ Stunden im Radio zum Geburtstag des Führers. Wie man so sprechen
kann, wenn fast 2/3 vom Reich besetzt ist und die Vernunft keinen
Hoffnungsschimmer erlaubt, ist mir ein Rätsel. Die alten schön klingenden Worte
vom Aushalten im Wellental und der Sieg muß doch kommen und dem Führer den
Lorbeer bringen. Ich muß gestehen, es hörte sich alles wieder sehr schön an, zu
gut und schön, wenn nur die nackten Tatsachen dem nicht alles Hohn sprächen.
Phrasen also, nichts als Phrasen. Daneben in den Nachrichten neue Verordnungen
über Krankenversicherung, die am 1.5. in Kraft treten, so als wäre nichts
geschehen.
Übrigens
hatten wir die ersten 2 Wochen keinen Strom und mussten mit den Hühnern ins
Bett, konnten also auch kein Radio hören. Bei Spittels haben die Amerikaner
einen Radioapparat mitgenommen und den zweiten kaputt gemacht. Bei den tollen,
unkontrollierbaren Gerüchten hatten wir natürlich einen Hunger nach Nachrichten
und sowie wieder Strom da war, schalteten wir den Radioapparat ein. Da sahen
wir vom Fenster 2 Soldaten hereinkommen. Schnell versteckten wir den Apparat
und richtig kamen sie, und wollten einen Radioapparat stehlen. Ich sagte, wir
hätten keinen, aber unten im Erdgeschoß sei einer. Damit führte ich sie runter
und zeigte ihnen den zerstörten. „Oh no, nix gut“, den wollten sie nicht haben
und machten Gott sei Dank kehrt.
Trotz aller
trüben Aspekte saßen wir jetzt manchen Abend gemütlich in der Dämmerung im
Wohnzimmer der Eltern und süffelten eine Flasche nach der anderen, mit der
annehmbaren Entschuldigung: „Besser, als wenn sie uns die Amerikaner abnehmen“.
Sogar ein bisschen Klampfe spielte ich dann.
5.5.1945 Seit dem 2.5.
arbeiten wir wieder in der Fabrik. Natürlich nicht im alten Stil. Fa. Blödner
hat vom Kommandanten die Erlaubnis bekommen, Reparaturen für lebenswichtige
Betriebe auszuführen. Dreißig bis fünfzig Mann sind etwa wieder am Schaffen.
Und eine Reihe führender oder nicht führender Angestellter. Dazu gehöre auch
ich, was ein großes Glück für uns bedeutet. Denn sonst ist von meinem Büro noch
niemand wieder zur Arbeit aufgefordert worden. Und ich und die anderen sind
auch bloß Tagelöhner, die jederzeit auf die Straße fliegen können. Es wird
stundenweise bezahlt, und wir müssen wie die Arbeiter stempeln. Ich soll für
die Reparaturabteilung und für die Stahlmöbel, wenn die erst mal wieder
laufen, eine Arbeitsvorbereitung
aufziehen. Vorläufig mache ich Kehraus in meiner schönen Abteilung B,
Auftragsrestabwicklung, Inventur, Aufräumen, Lehren und Messgeräte einpacken
zwecks Verlagerung. 40 Stunden wird nur gearbeitet, und entsprechend gibt es
dann wenig Geld. Dann kommen noch alle 3 Nächte Bereitschaft à 3 Mark, was man
unter den jetzigen Umständen gern mitnimmt.
Der Führer
ist tot. In den deutschen Nachrichten von Prag heißt es, er ist gefallen. In
den Feindsendern sprechen sie von Selbstmord, von Gehirnblutungen, schweren
Verletzungen. Wer lügt mehr, was ist wahr? Die Auslandssender berichten in
schadenfroher Weitschweifigkeit vom Zusammenbruch der Wehrmacht und des Reiches
und bemühen sich, durch tägliche Wiederholungen der schlimmsten Gräuelmärchen
aus den Konzentrationslagern dem deutschen Volk das Schuldbewusstsein einzuimpfen,
das die Alliierten für ihre durchsichtigen „ Friedensabsichten“ brauchen. Sie
„befreien“ das deutsche Volk von den Konzentrationslagern, indem sie für das
„Gesindel“, wie sie die Reichsregierung nennen, neue Lager einrichten. Es sind
auch hier schon viele Leute verhaftet worden, von denen jede Spur fehlt: Döll,
Dr.Nagel, Dr.Noltmann, der Stabsarzt vom Schützen und sein Assistent, Meister
Kästner. Man darf nicht an die Zukunft denken und daran, was unsere Feinde mit
dem ohnmächtigen Besiegten vorhaben. Inzwischen werden die Brotrationen
knapper und ungerecht verteilt: vorige Woche für alle 2 Pfund pro Nase, diese
Woche für Erwachsene und Jugendliche 4 Pfund, für Kinder unter 6 Jahren
nichts(!), auch kein Rekompens an Nährmitteln oder sonst was. Butter überhaupt
nichts, nächste Woche pro Person 25g. Am vorigen Sonntag holte ich im
Standesamt die Lebensmittelmarken ab, 2 h stehen in einer Eiseskälte. Beim
Gemüse holen auch immer lange Schlangen.
Und dann
hatte ich den Kindern so eingeschärft und verboten, dass sie (nie) Munition in
die Finger nähmen. Paul findet zwei Gewehrpatronen, und natürlich wirft er sie
unaufhörlich an die Wand. Da gerade ein paar Tage vorher in der Kaiserstraße
ein Junge beim Spielen mit einem Zünder schwer verletzt wurde, verstand ich
keinen Spaß und versohlte Paul mit einem Stock so fest den Hintern, wie ich es
noch nie bei einem von den Kindern gemacht habe.
24.5.45
Ich glaube,
ich muß jetzt öfter schreiben, um diese „ historische Zeit“ in allen
Einzelheiten festzuhalten. Heute Nachmittag war ich mit 15 anderen
Blödner-Leuten, darunter Herr Werner und Herr Hoch, und ein paar Meistern zum
Schippen in der Saarstraße abkommandiert. Es melden sich nämlich so wenig Leute
zum Arbeitseinsatz, dass jetzt mit Aburteilung durch die Militärbehörden
gedroht wird. Mehrfach wurde dringend zur Arbeitsaufnahme in Gärtnereien und
Landwirtschaft aufgefordert. Die Leute haben eben so viel verdient, dass sie
jetzt glauben, feiern zu können. – Opa hat sein Gehalt vom Hilfskrankenhaus
Schützen um 50% gekürzt bekommen, wenn er nicht überhaupt den Posten wegen
seiner Parteizugehörigkeit verliert. Da ja außerdem bestimmt
Vermögensbeschlagnahme oder Geldentwertung, hohe Besteuerung oder sonst ein
Trick kommt, um uns um unsere Ersparnisse zu bringen, hat Opa seine Praxis
wieder aufgenommen. Die Hauptsache ist, dass er dafür ein Schild bekommen hat:
„Off limits“, das ihn hoffentlich vor Ausquartierung schützt. – Vorigen
Sonnabend mit Gerd nach Leina zu Rauch gelaufen, dort ein prächtiges Butter-
und Wurstbrotfrühstück erhalten und noch ein halbes Brot und Erbsen. Die
gesprengte Autobahnbrücke sieht trostlos aus. Die Amerikaner haben auf den
herabgefallenen Trägern eine stabile Notbrücke errichtet. Viele Landser
marschieren in ihre Heimat, bekommen in den Dörfern Brot und Unterkunft. Auf
der Autobahn ein nicht abreißender Strom von Militärautos, und außerdem
Rückwanderer zu Fuß und per Rad, Kinder und Leiterwagen nach Westen.
Vor 8 Tagen
bekamen wir in unser Fremdenzimmer neuen Besuch: Frau Ehlers mit ihren 2
Kindern wurde aus der Kaiserstr. ausquartiert. Nach ein paar Tagen kam ihr Mann
per Fahrrad. Er hatte sich von Wilhelmshaven durchgeschlagen. Die ganze
Kocherei spielt sich auf dem neuen Blödnerschen „Sparherd“, von Tilde
„Küchenhexe“ genannt, ab.
Ganz
allmählich lässt man uns die Zügel lockerer. Erst nur vor- und nachmittags je
zwei Stunden, dann von 7 bis 17, von 6 bis 18 und jetzt gar von 5 bis 21 Uhr
Ausgehzeit. „ Weil wir uns so gut geführt haben“. Landrat Guyet und
Oberbürgermeister Schmidt sitzen im Gefängnis, weil man sie für die Zustände im
Konzentrationslager Ohrdruf verantwortlich macht. – Gestern im Radio, daß in
England die Lebensmittelrationen gekürzt werden. Vor ein paar Tagen daselbst,
dass bei uns „der Leibriemen enger geschnallt werden müßte“, wir bekommen nur
noch 2/3 vom bisherigen, das Ausländerpack, das seit zwei Monaten spazieren
geht und plündert, bekommt jedoch volle Ration. Aus dem Ausland bekommen wir
nichts, höchstens bei drohender Hungersnot. Unsere Rationen seien etwa 1/3 der
des amerikanischen Frontsoldaten. – Die englischen Ärzte stellten fest, dass
bei unserem Heer katastrophale sanitäre Zustände herrschten und im allgemeinen
die deutsche Medizin ca. 10 bis 15 Jahre zurück gegen das übrige Ausland sei.
Das käme daher, dass an maßgebenden Stellen nur Nazis gesessen haben ( …. und die Juden emigriert sind! Anmerkung
der Schriftleitung!) – In den Konzentrationslagern hatte man 6 Tötungsarten,
Erhängen, Verhungern, Erschießen, Vergasen, Erfrieren (!!) und Verbrennen (?).
Und 13 Folterungsarten werden bis ins
kleinste beschrieben. Merkste was! Dresden, Köln, Hamburg, Wuppertal, Heilbronn
war nämlich nichts gegen die Konzentrationslager!
31.5.45
Wir mussten Hals über Kopf Werk 4 im Heutal
räumen, da ein Ausländerlager reinkommt. Es ist ein Jammer, welche Werte bei
so einer Räumung zum Teufel gehen. Brennholz gab’s in Hülle und Fülle. Wir
holten auch 2x einem Wagen voll Zählbretter und Holzstößel vom Aufschlagzünder
23. Außerdem ließ ich mir vom „Alten“ [dem Seniorchef von Blödner] eine
Gartenbank, und von Karl August [dem Juniorchef] ein Blechwandschränkchen,
letzteres als Arzneikasten für Opa, vermachen. Außerdem diverse Leinensäcke
für Pulver stellten wir „sicher“. Vor 8 Tagen holten wir in Leina bei Rauch
einen Zentner Kartoffeln, 14 Tage zuvor bekamen wir etwas Speck und Erbsen.
Gestern Nachmittag machten Tilde und ich einen Spaziergang nach Metebach, wo
wir zum Kaffee eingeladen wurden und auch einen Brocken Speck und ein paar Eier
erhielten. Wir hatten Teller und eine Schüssel dafür gegeben. Sonnabend war ich
mit Gerd und Paulchen in Emleben bei Zenkers und Wachtelborns, um Kartoffeln zu
organisieren. ½ Brot (!) und einige eggs sprangen auch dabei gegen Zigarren und
Zigaretten heraus. Hinzu fuhren wir auf einem Bauernfuhrwerk, das wir
angehalten hatten, zurück mit der Bahn. Zu kaufen gibt es nichts, nur zu
tauschen. Auf diese Art haben die Bauern auch an dem Plündersegen teil,
allerdings auf Umwegen, wo sie nun Kaffee, Zucker, Leder usf. gegen Lebensmittel
erhalten. – Im Garten gedeiht alles sehr schön, auch die Beete auf dem Rasen
vorn und hinten tragen gut. Ich gieße auch viel, überhaupt habe ich dieses Jahr
sehr viel im Garten gearbeitet, da ich ja Anfang April viel Zeit hatte. Jetzt
müssten wir mal nach Gierstädt fahren, trauen uns aber nicht mit den Rädern, da
immer noch sogar in der Stadt welche von Ausländern geraubt werden, was ich von
den Leidtragenden selbst gehört habe. Sie setzen einem den Dolch auf die Brust.
Ehlers
wohnen leider immer noch bei uns, ihre Wohnung ist noch weiter besetzt. Vor
allem ist mir auch unsympathisch, daß die Kinder von ihnen Würmer haben. Und es
ist uns allzu menschlichen Menschlein auch nicht ganz leicht, den Anblick zu
ertragen, wenn andere auf allen Gebieten vielmehr zu verzehren haben als wir.
Und dabei ist es ihnen durchaus zu gönnen, wo sie in Berlin ihr Heim verloren
haben und jetzt hier auch wieder so lang rausgeworfen worden sind. Übrigens
arbeitet Herr Ehlers mit Kürschner zusammen auf dem Gut Töpfleben als Landarbeiter.
Wenigstens bekommen sie täglich viel Milch und als Deputat Kartoffeln. – Ich
gehe oft abends zu den Eltern zum 2. Abendessen, und auf die Art werde ich noch
halbwegs satt. Tilde und ich haben schon tüchtig abgenommen, man kann die
Rippen zählen und stößt sich an den eckigen spitzen Knochen. Eisern lernen wir
Englisch, täglich stehe ich um 5 Uhr auf und studiere. Tilde kommt meist erst
1h später. Ab und zu gibt es eine Zeitung „ Hessische Post“. Ich sehe zu, dass
ich sie sammle, denn es sind herrliche Zeitdokumente. Auch die Radiomeldungen
sind einzigartig. So hat z.B. der Feldmarschall Montgomery heute dem deutschen
Volk erklärt, warum die englischen Soldaten Befehl bekommen haben, nicht mit
deutschen Kindern zu spielen und auf freundliche Grüße von Deutschen nicht zu
erwidern. Wir sind eben so verworfen und sind allein am Weltkrieg 14 – 18 und jetzt wieder schuld, daß erst
vollständige geistige Unterwerfung und Reue uns wieder für Aufnahme in den
Kreis der gesitteten Völker würdig macht.
Oder in der
Tschechoslowakei werden nicht alle Deutschen des Landes verwiesen oder
als Feinde behandelt. Anerkannt werden alle, die im Konzentrationslager waren,
alle die die Tschechen im Kampf gegen die Nazis unterstützt haben und die, die
in lebenswichtigen Posten sitzen. Außer Nr.3 also würdige Vertreter des
Deutschtums.
Vor ein paar
Tagen ging im Rundfunk die Meldung durch, dass die russischen Zeitungen eine
Karte veröffentlicht hätten, wonach Mitteldeutschland bis zum Westrand von
Thüringen unter die russische Knute käme. Darob ungeheure Aufregung in Gotha.
Aber unsere Breslauer Evakuierten wollen in aller Kürze nach Breslau zurück, es
wäre alles nur halb so schlimm mit den Bolschewiken wie es erzählt würde.
3.7.45
Nun ist es
leider doch wahr geworden, dass die Russen kommen. Am Sonntagnachmittag kamen
kleine unscheinbare Aushänge, dass ganz Thüringen von den Russen besetzt würde
und dass ein Verlassen des Landkreises verboten sei. Ich fuhr extra in die
Stadt, um mich persönlich von der Richtigkeit zu überzeugen. Dann anschließend
zu Maelzers, wo ich nur seine Schwägerin und Herrn Ing. Rech antraf. Frau
Walther will mit ihren zwei kleinen Kindern schnellstens weg nach Hamburg zu
ihrem Mann, Herr Rech nach Frankfurt zurück. Er wollte nur sein Gepäck holen.
Jetzt wollen beide mit einem Zirkus Williams (früher Althoff) auf der Bahn nach
Nauheim zurück. Hoffentlich gelingt es. Ich habe Briefe nach Hamburg und
Offenbach mitgegeben. Bisher haben wir nur Nachricht von Hamburg und Weimar,
wo alles gesund geblieben ist. [An anderer Stelle der Chronik steht, dass der
Zirkus bei seinem Gastspiel in Gotha bei der Fa. Blödner viele Reparaturen
machen lassen hatte.]
Wir fuhren
vor etwa 3 Wochen zum ersten Mal mit der Bahn „ in die Kirschen“. Es war eine abenteuerliche Fahrt. Der Zug
sollte um 8.20 nach Döllstädt abgehen, um 3/4 8 war ich am Bahnhof, da gab es
schon keine Fahrkarten mehr. Um 7 Uhr wurden die letzten verkauft. Auf den Rat
eines Bekannten vom RB Betriebsamt, Hr. Bauer, fuhren wir ohne Fahrkarten, in
dem wir „schluppten“. Wir sollten in Döllstedt nachzahlen, was wir aber dank
des fürchterlichen Gedränges auch nicht taten. Statt um 8.20 ging der Zug erst
gegen ½ 10. Gegen 10.15 in Döllstedt, marschierten wir zu Fuß in einer riesigen
Heerschlange nach Großfahner, wo wir leider bei Frau Fleischmann unseren lb.
Meister Wachsmuth antrafen. Wir bekamen aber nichts, erst als W. weg war, gab
uns die gute Frau von ihren einmachfertigen Kirschen ca. 3 Pfund und dann noch
Erbsen. Tilde hatte ihr zwei Kinderhöschen mitgebracht. Anschließend nach
Gierstädt zu Hildebrand und Griese. Tilde pflückte beim einen, ich beim
anderen. Dann noch zusammen bei Griese Kaffee getrunken. Zurück hätten wir die
17 km mit ca. 38 Pfund Kirschen laufen müssen, wenn uns nicht ein Lastauto
mitgenommen hätte.
Acht Tage
später wagten wir uns mit den Rädern nach Gierstädt, allerdings auf dem Umweg
über Warza, Bufleben, Eschenbergen, Großfahner. Der Weg durch den Wald war
gräßlich, wenn auch landschaftlich recht reizvoll. Bei Hildebrand pflückten wir
2 Spankörbe voll, einen dritten gestattete er nicht mehr. Glücklich kamen wir
nach Haus, und schon am Abend blieb uns nach Verteilung an Großeltern, Lotte,
Spittels, Gutsches, Lies Beck, Ehlers, Kürschners weniger als die Hälfte zum
Einmachen. Lies Beck gab allerdings Zucker dagegen, der bei uns sehr knapp ist.
Jockel [Beck] ist vor ca. 10 Tagen aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, noch
etwas schmaler als sonst. Etwa 8 Wochen mussten sie hinter Stacheldraht im
Freien zubringen bei erbärmlicher Kost. Es ist grausig, was er alles erzählte.
Das sind also nun die Amerikaner, die uns die Freiheit und Kultur bringen
wollen! Jockel sagte, viele wären durch diese Behandlung sehr zum Bolschewismus
geneigt geworden. Er war in einem Lager in Kreuznach und wurde in offenen
Güterwagen bis Erfurt gebracht. Auch das Betragen der Deutschen untereinander
in dieser Notzeit wäre beschämend gewesen. Z.B. hätten sich Offiziere am Boden
um einen von schwarzen Wachposten weggeworfenen Zigarettenstummel gebalgt.
Gegenseitig haben sich die Volksgenossen bestohlen, wie ja auch hier in Gotha
das üble Denunziantentum geblüht hat.
[Thema
Flucht vor den Russen nach Westen ] Wir überlegten auch, und hatten schon dies
Thema wochenlang vorher besprochen: bleiben oder nach Offenbach ausrücken, allein
„türmen“ oder mit Familie. Wie das vor sich zu gehen hatte, sahen wir in den
letzten Wochen täglich an dem Rückwanderer-Elend: mit allen möglichen
Gefährten, Handwagen, Kinderwagen, Schiebkarren, hoch bepackt mit Gepäck, müde
Kinder oben drauf.
16.7.45
Wir blieben
also da und wollten abwarten. In den ersten Tagen sah man nur ganz vereinzelt
Russen, während die Amerikaner bis auf ganz wenige Posten abgerückt waren. Das
nutzten die noch hier verbliebenen Polen aus, um Läden zu plündern. Nun schritt
aber doch die armselige Polizei mit Gummiknüppeln ein. Karl August erzählte
auch, dass er gesehen hat, wie ein russischer Offizier auf die plündernden
Polen einschlug. Nach und nach kam dann die Rote Armee an. Fast keine Autos,
aber ungeheuer viele Pferdefuhrwerke, so kleine Panjewägelchen. Geschütze,
Protzen, alles von Pferden gezogen. Und marschierende Infanterie, was man bei
den Amerikanern fast nie sah. Über das Aussehen der Truppe wunderte sich alles
und es gab nur eine Frage: die sollen unser Heer besiegt haben? Das erste war,
daß die Russen alle erreichbaren Autos requirierten. Auch viele Fahrräder
nehmen sie den Zivilisten ab. Vorher bei den Amis war schon ein lustiger, fast
friedensmäßiger Autoverkehr. Man wunderte sich, wo die vielen Autos und das
Benzin plötzlich herkamen. Jetzt natürlich alles wie weggeblasen.
In der Stadt
tauchten vereinzelt rote Fahnen mit Hammer und Sichel auf und auch Transparente
für unsere Besieger wurden angebracht: „Wir gedenken in Ehrfurcht der Opfer
der Roten Armee, die sie im Kampf gegen das Joch des Faschismus gebracht hat“.
– „Die Hitlerianer gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“. – „Wir grüßen den
Genossen Stalin“, und an einer Strasse „Rooseveltstrasse“. Ob es auch andere
Völker gibt, die in der Stunde der tiefsten Schmach und Demütigung noch so
fröhlich dem Feind und Unterdrücker die Stiefel ablecken? In Leina war ich vor
10 Tagen, dort hatte bald jedes Haus die rote Fahne draußen hängen.
Vorigen
Dienstagabend kamen plötzlich 3 Russen an und wollten die Wohnung bei Spittels
und unsere sehen. Da bei Spittels gerade Herr Gutsche krank im Bett lag und
Paul Spittel immer von seinem Fremdenzimmer sagt, dass hier sein Sohn schläft,
beschlagnahmten sie dann bei uns Herrenzimmer und Eßzimmer. Sie sahen sich erst
alle Zimmer an, fragten, wie viel Personen wir seien und meinten dann, wir
hätten mit den verbleibenden Zimmern genug. Erst sollten 4 Offiziere, dann 2
kommen. Leider war gerade an diesem Tag Familie Ehlers ausgezogen. Wenn die mit
ihren 2 Kindern auch noch herumgekrabbelt wären, wären wir vielleicht verschont
geblieben. Wir machten jedenfalls lange Gesichter, trotzdem Paul wiederholt versicherte,
er habe sie freundlichst eingeladen bei ihm zu logieren. Tilde wollte nachts zu
den Eltern gehen oder wir wollten oben in der Dachstube schlafen. Schließlich
machten wir unser Herrenzimmer durch Einstellen des Sofas zum Wohnzimmer und
das Fremdenzimmer unter dem Dach als Schlafzimmer zurecht. Glücklicherweise
nahmen sie diese fait accompli ohne Widerrede hin, und dann wohnt auch bloß ein
Hauptmann Iwan Iwanowitsch Drbischew bei uns, während sein Bursche Sergeant
Micha abends verschwindet. Das erste, nachdem sie Platz genommen hatten war,
dass sie eine volle Flasche aus der Tasche zogen und Gläser verlangten. Ich brachte
zwei an, aber sie bedeuteten mir, dass auch Tilde und ich mittrinken sollten.
Es war ein
schauriges Gesöff, eine Mischung von Bier, Spiritus und Zucker. Gegen 9 wurde
dem Gospodin Kapitanu das Abendessen vom Kasino oder der Regimentsküche
gebracht: ein Teller voll gebratener Leberbrocken, ein Teller voll Speckwürfel,
ein Brot und eine Tasse voll Zucker. Als Kavalier lud er uns zum Abendessen
mit ein, und wir futterten in derselben primitiven Art alles gemeinsam von
einem Teller mit.
Am
Sonnabendabend badete Iwan, anschließend aßen wir ein paar feine Käsebrote, und
immer trinken diese starknervigen urwüchsigen Russen 96%-igen Alkohol dazu. Sie
machten folgenden Spaß, steckten einen Streifen Papier ins Glas und zündeten
ihn dann an, worauf der Spiritus bläulich brannte und das Papier kaum versengt
wurde. Die Unterhaltung war einzigartig: Da sie kaum ein einziges Wort deutsch
können und wir ebenfalls nicht russisch, so mühten wir uns mit ein paar
Wörterbüchern bzw. Taschenheftchen ab. Wir lernten schnell proschu = bitte und
spassiba= danke. Zu den Kindern sind sie sehr freundlich und haben ihnen schon
ein paar Mal Bonbons und einmal Schokolade geschenkt. – Gestern Nachmittag kam
Micha und brachte einen Riesenhaufen Fleisch, 20 bis 25 Pfund wenigstens. Genosse
Kapitän verlangte ein Abendessen für 5 Personen, für seinen Kameraden Hptm.
Alexander Konstantinowitsch, Micha und uns beide. Tilde machte eine Brühe mit
Kartoffeln (von unsern ach so knappen Kartoffeln!) und Rindfleisch zurecht.
Natürlich große Mengen, aber die Herren aßen sehr wenig. Aber eine Wasserkanne
voll Bier brachten sie angeschleppt. Monsieur le capitain Alexandre kann
glücklicherweise etwas französisch, so viel etwa wie wir auch, so daß die
Unterhaltung nun doch etwas besser ging. Er hat auch etwas mehr Schliff, trank
„a votre santé, madame“, und war auch schon in anderen Ländern, z.B. Iran. Er
ist Jurist, während Iwan Bauingenieur ist. Alle haben sie kurze dicke Finger,
meist sind die Soldaten von kleiner schmächtiger Gestalt, selten mal ein großer
Kerl. Die Nasen typisch eingedrückt.
Im
Nachbarhaus sind die früheren Bewohner wieder eingezogen. Herr Griese ist
zurückgekommen, nur das Erdgeschoß blieb leer. Das haben ein paar russische
Soldaten mit Beschlag belegt, die uns nun mit Stangen die grasgrünen unreifen
Äpfel vom Baum schlagen. Micha nimmt übrigens auch regelmäßig eine Hand voll
Sauerkirschen vom Baum, die die Herren vor und während des Trinkens mit Steinen
essen, d.h. sie beißen sie regelmäßig unter großem Krachen auf, spucken aber
die Stückchen dann aus.
18.7.1945
Seit 8 Tagen
geht wieder das Gerücht um, dass die Russen abrücken und dafür die Engländer
kommen. Manche Tatsachen deuten auch darauf hin. Dann fehlen bloß die Franzosen
noch, dann haben wir alle der Reihe nach durch. Das Wichtigste vom Tage:
gestern Abend, als wir von Goldbach zurückkamen, lag ein Brief von Offenbach
da. Es geht den Großeltern Fuhr gut, ebenso Erika, Franzel und Mariechen mit
allen Kindern. Bloß von Eberhard noch keine Nachricht. Tilde war ganz glücklich,
endlich Nachricht erhalten zu haben. Wir feierten mit einem Anislikör, den wir
von den Eltern bekommen haben und sicherheitshalber in Medizinflaschen verteilt
haben. Gestern fuhren wir mit Rädern nach Goldbach und packten uns 2 Ztr. neue
Kartoffeln à 12 Mark auf. Das war dann doch etwas viel, und wir mussten
schieben. 3x fiel uns eines der schwankenden Räder um. Schließlich packten wir
unseren Kram auf ein Pferdefuhrwerk, und Tilde holte heute morgen mit Gerd und
dem Handwagen die 2 Säcke aus der Goldbacher Siedlung. - Im Garten ernten wir
jetzt allerlei: Pflücksalat, Kohlrabi, Möhren, Mangold.
Ich lerne
jetzt etwas Russisch, d.h. aber nicht so systematisch wie Englisch mit
Grammatik, sondern nur die wichtigsten Haupt- und Tätigkeitswörter, damit man sich
mal wenigstens notdürftig verständlich machen kann. Den ganzen Tag über lässt
sich Iwan überhaupt nicht sehen, was Tilde sehr angenehm findet. Hoffentlich
plündern die Russen nicht bevor sie abziehen, denn sie haben sich jetzt schon
mancherlei zuschulden kommen lassen. Gestern wurde unser Chauffeur Seifert
erschossen, als nachts ein paar Kerle im Werk 3 eindrangen. Vor ein paar Tagen
fiel ein Russe Frau S……. in Siebleben an, am Sonnabend kam zu Opa ein Mädchen,
welches 2 Russen vergewaltigt hatten, am gleichen Abend brachen Russen im
Berggarten ein und plünderten allerlei. Im Gut Töpfleben, wo Herr Ehlers und
Kürschner arbeiten, wurde gleich in den ersten Tagen die Frau des Verwalters
vergewaltigt. Also stimmt doch manches, was die „Nazis“ vorhergesagt haben.
Gestern
mußte ich mich in eine Liste zur Aufnahme in die Gewerkschaft einzeichnen. Oben
drüber standen die 13 Programmpunkte, die verwirklicht werden sollen, u.a.
Entfernung der Nazis aus Verwaltung und Wirtschaft und Erklärung des 1.5. zum
gesetzlichen Feiertag. Letzteres ist bereits seit 12 Jahren der Fall. Spaßig
ist nur, dass eine ganze Reihe von führenden Nazis sich bedenkenlos (oder soll
man es charakterlos nennen?) in die Liste zu ihrer eigenen Beseitigung
eingetragen haben, wie z.B. Trier, Weise, Emmerich, Kaufmann. Übrigens werden
Pg’s noch besonders „bestraft“, indem sie 14 Tage täglich 6 Stunden
Aufräumungsarbeiten machen müssen, auch Ausschachten von Kanälen und dgl.
Vor ein paar
Tagen waren Onkel Ernst und Tante Grete zu Besuch da, man kann also wieder reisen. Die Post geht
aber immer noch nicht, Briefe gehen nur durch Boten und Zufallsgelegenheiten zu
expedieren. Gestern besichtigte auch der russische Stadtkommandant, ein
schmächtiges etwa 30jähriges nicht arisch aussehendes Kerlchen, unser Werk. Ein
Benehmen wie „Rotz am Ärmel“. Schnoddrig, uninteressiert, überheblich und
unhöflich. Das kann man von den russischen Offizieren, die schon Aufträge an
uns gaben, (10000 Gewehrreiniger) nicht sagen: sie stehen auf, wenn ich ins
Besuchszimmer komme, grüßen, geben einem die Hand und haben sich offensichtlich
gefreut, als ich sie beim letzten Mal russisch dobri den (guten Tag) begrüßte.
Wir
schwimmen jetzt geradezu in Fleisch: Heute früh um ½7 Kartoffelsuppe mit
Rindfleischbällchen, zum 2. Frühstück Brot mit kaltem Rindfleisch, mittags
Rinderbraten, zum Kaffee den Rest vom 2. Frühstück und heute Abend kalten
Braten. Oma kriegt natürlich auch reichlich (die Vegetarier, die sonst so auf’s
Fleisch schimpfen), ebenso Spittels und Gutsche. Ich wollte mit Weise oder
Emmerich Fleisch gegen Zucker tauschen. Ihre Frauen haben, wie sie mir selbst
erzählten, im April je einen Sack Zucker aus der Kaserne „sichergestellt“ (lies
geplündert!). Aber sie lehnten ab mit der Begründung, sie hätten durch das Einkochen
nichts mehr.
Entzückend
ist es, wenn Margrit sich mit den Russen unterhält. So sagt sie zu Micha mit
größtem Ernst und er hört aufmerksam zu: „Hast du zu Haus auch ein Bärli? Und
hast du eine Mutti?“ Und er antwortet auf das, wovon er kein Wort verstanden
hat, in freundlichem Ton russisch, von dem wir wieder nicht die Bohne
verstehen.
Ich habe
sehr viel zu tun mit Kalkulationen und Arbeitsvorbereitung. Das Geschäft mit
Sparherden blüht auf, ebenso mit Reparaturen.
Ich fragte
neulich Iwan, ob er mir sein (geklautes) Fahrrad schenken wolle, wenn sie
abrückten. Meines hätten die Amerikaner gestohlen. Fröhlich sagte er zu.
Vorgestern war ein junger Leutnant Iphigenie [wahrsch. Jewgenij] mit, der gut
Deutsch konnte, da konnte man sich wenigstens mal richtig unterhalten. Fast
alle sind Ingenieure. Sie haben sich auch eingehend nach unseren deutschen
Verhältnissen erkundigt.
4.10.1945
Was hat sich
in der Zwischenzeit alles ereignet! Ich war fast 8 Wochen von den Russen
eingesperrt worden, und nach meiner glücklichen Rückkehr warf man mich auf
Veranlassung des Betriebsrates aus der Fa. Blödner hinaus. Für treue 8-jährige
Dienste die Quittung. Tilde ist seit 1.10.Volksschullehrerin, und ich fange
morgen als Bauhilfsarbeiter bei der Fa. Böhm an. Baustelle Leinabrücke. Was
anderes habe ich in den 1½ Wochen
Arbeitslosigkeit nicht gefunden, überall nur Achselzucken. Es liegt mir aber
aus mehreren Gründen daran, so schnell wie möglich von der Strasse wegzukommen.
Nicht nur, dass ich sonst als Drohne kein Fleisch und Butter bekäme, ich
befürchte auch, dass die Russen sich für die Arbeitslosen, besonders wenn es
noch Ingenieure sind, sehr interessieren werden. Und dann bin ich auch
zwangsläufig an dem Punkt angelangt, den wir hundertmal im Gefängnis besprochen
haben: nur erst einmal wieder frei sein und dann untertauchen als „ganz
kleiner Mann“.
Meine
Erlebnisse bei den Russen liegen in dem Tagebuch, welches ich dort geführt
habe, fest. Ich schreibe es gelegentlich ab. [Dieses Tagebuch bzw. eine Abschrift
davon liegt mir nicht vor, wohl aber eine aus dem Jahr 2002 stammende
Erinnerung, die wir hier in Kursivschrift eingefügt haben.]
Eines Tages
erschien ein deutscher Zivilist und forderte mich auf, mit zu kommen nach
Erfurt, wo im Hotel Kossenhaschen eine Ingenieurkonferenz stattfinden sollte.
Morgen käme ich zurück, ich sollte auch die Zahnbürste nicht vergessen, sagte
dieses russenhörige Schwein. Es ging aber nicht nach Erfurt, sondern in ein
Haus in der Robert-Blum-Straße. Dort befanden sich ca. 15 – 20 Herren im
Parterre und augenblicklich wurde mir klar, dass wir Gefangene der Russen
waren. Der erste Stock war von einer Familie noch bewohnt. Am nächsten Tag nahm
ich mit dieser Familie über den seitlichen Balkon Kontakt auf. An einer Schnur
zog der Mann einen Zettel mit meiner Adresse und der Telefonnummer meiner
Eltern nach oben. Und so besuchten mich dann in den nächsten Tagen täglich
meine Eltern und Tilde mit den Kindern. Es wollte mir das Herz zerreißen, als Paulchen
beim Verabschieden sagte: „Vati, komm doch mit uns heim“. Ich schlug meinem
Vater vor, ehe wir alle in die Zwangsarbeitslager kämen, uns alle 5 mit einer
Spritze zu töten. Er schlug das natürlich brüsk ab. Es war richtig, und so
konnten wir noch 10 Jahre mit meinen Eltern Familienfeste feiern, Ausflüge und
Reisen machen, sogar im Auto nach Westdeutschland fahren.
Also an dem
betreffenden Morgen fuhren Lastautos vor, und wir wurden wie Vieh verladen.
Sitzplätze gab es nicht. Ich war so verzweifelt, dass ich manchmal bei der
rasenden Fahrt dachte, wenn doch der Laster nur umfiele und wir alle umkämen.
Irgendwo kurz vor Halle lagerten wir auf einem Feld, wo schon viele andere
Gefangene auf der Erde saßen. Ich kam mit einem pommerschen Mann ins Gespräch,
der hungrig auf meine belegten Brote sah: Er hätte den ganzen Tag noch nichts
gegessen. Ich gab ihm eine Stulle, und er erzählte, dass er aus der Gegend
von Schneidemühl stamme und von der Flucht meines Verwandten, dem Mann von
Cousine Margarete ( geb. Hillmann, Tochter von Vally Mendrim, der Schwester
meines Vaters,) Otto Paech, Distriktskommissar im Netze-Distrikt, von dessen
Flucht [vor der russischen Armee] nach dem Westen wußte, und dass er sich und
seine Frau erschossen habe, als das Auto versagte und sie nicht weiter konnten.
Dann wurden
wir Gefangenen nach Halle gebracht und in einer vornehmen leer stehenden Villa
abgesetzt. Nach etwa 2 Tagen in der Hallenser Villa marschierten wir (ca. ein
Dutzend Mann) nachts durch die Stadt und überquerten dabei eine Saale-Brücke.
In meiner tiefen Depression dachte ich wieder, wenn ich jetzt aus dem Trupp
heraus renne und über das Brückengeländer in die Saale springe, bin ich frei!!
Endlich kamen wir in ein umzäuntes Barackenlager und wurden alle in einem
völlig leeren kahlen Raum als unserer Wohnung für die nächsten 2 bis 3 Wochen
eingesperrt. Inventar: ein „Scheißeimer“ und ein Wandbrett mit einer Kanne
Wasser zum Trinken, Waschen, Zähneputzen und Rasieren. Jeden Tag hatte ein
anderer Insasse „Barrasch“-Dienst, d.h. er mußte den Scheißeimer weg tragen,
ausleeren, sauber machen und die Trinkwasserkanne füllen.
Sitzgelegenheit
gab es keine, nur der nackte Fußboden, auf dem wir Tag und Nacht standen, saßen
oder lagen. Um die Zeit tot zu schlagen, erzählten wir uns unsere
Lebensgeschichten, Erlebnisse und Ereignisse, etwas über unseren Beruf. Die
meisten waren Ingenieure, zwei waren Chefkonstrukteure für Flugzeugbau in der
Gothaer Waggonfabrik. Die Essenzuteilung übernahm ein etwas älterer Herr aus
Gotha, und es wurde bei der knappen Suppe eifrig darauf geachtet, dass keiner
etwa einen Schöpflöffel mehr bekam. Nach und nach wurde jeder einzeln von einem
Major verhört. Herr Hühnerjäger beschwerte sich, dass wir nicht einmal im
Freien frische Luft schnappen durften. Er hatte Erfolg: von da ab durften wir
täglich eine Stunde in dem umzäunten Hof spazieren gehen. Natürlich fieberten
wir jeden Tag der Freistunde entgegen. Ein einziges Mal durften wir uns in
einem Waschraum duschen.
Nach 2 oder
3 Wochen fuhren wieder Lastautos vor, die Leichtgläubigen dachten, jetzt ginge
es nach Gotha zurück. Irrtum! Es ging in ein großes Gefangenenlager in
Wansleben mit großen Ziegelhäusern, offenbar noch im Krieg als Unterkunft für
Zwangsarbeiter genutzt. In den großen hellen Räumen standen zweistöckige
Luftschutz-Bettgestelle mit Matratzen. Wir hatten das Gefühl wir kommen in ein
Hotel. Alles war besser und lockerer als in der elenden Baracke in Halle: den
ganzen Tag standen im Erdgeschoß ein oder zwei beheizte Waschkessel zur
Verfügung. Im Lager waren vielleicht 100 Gefangene, ich traf auch Leute von der
Firma Blödner. Die Wachtposten im Lager drückten ein Auge zu (gegen Zigaretten)
wenn Schleuser Pakete ungeniert ins Lager trugen. Hier traf ich auch den Mann
wieder, dem ich auf dem Feldlagerplatz vor Halle eine Scheibe Brot geschenkt
hatte. Hier im Lager hatte er gute Beziehungen nach draußen, und eines Tages
gab er mir eine Tomate und ein Stückchen Schinken. Ich verzog mich in meinen
Schlafsaal, setzte mich auf den Bettrand und erlebte die schönste Mahlzeit meines
Lebens. Nach ein paar Tagen [lt. Chronik am 13.9.] war ich gerade in der
Waschküche und hängte etwas auf die Wäscheleine, als ich zum blutjungen
Kommendanten gerufen wurde, der sich auf einem Sessel vor seinem Schreibtisch
fläzte. Er teilte mir mit, gegen mich läge nichts vor, ich könne nach Hause
gehen. Dasselbe passierte den Flugzeugkonstrukteuren von der Gothaer
Waggonfabrik, die ja im Krieg Flugzeuge baute. Der Grund: wir 4 Leute waren
nicht in der NSDAP. Mir unfassbar: die hoch spezialisierten Ingenieure ließen
sie laufen, den elendsten Hilfsarbeiter oder Bauern aber hielten sie ca. 4
Jahre in Lagern fest. Einer erzählte mir später, sie hätten freiwillig arbeiten
oder gelangweilt herumlungern können. Er hätte sich für „Arbeit“ entschieden,
hätte es dann aber sehr bereut.
Also wir 4
Entlassenen zogen los, meldeten uns beim Bürgermeister in Eisleben und bekamen
eine handvoll Lebensmittelmarken. Dann ging’s in ein Gasthaus, und seit Wochen
saßen wir endlich [lt. Chronik nach 7½ Wochen] wieder einmal an einem gedeckten
Tisch und konnten von Tellern (!) essen.
Es war ein glücklicher Tag. Und Butter und
Wurst auf dem Brot, welch lang entbehrter Genuß! Die Fahrt in den warmen
Herbsttag und Abend war trotz der Fülle ein Genuß. Um 10 Uhr waren wir in Gotha
und um ½11 stand ich vor der Glastür, nachdem mich Frau Gutsche ins Haus
gelassen hatte.
Mein
geliebtes Tildebutzchen war rein fassungslos, hatte sie mich doch in Russland
geglaubt, denn außer dem ersten Brief von Halle, den ich gleich nach der
Ankunft verschickte, war nie mehr ein Lebenszeichen von uns nach Gotha gelangt.
Erst 8 Tage nach meiner Rückkehr kam ein weiterer Brief aus Wansleben. – Ich
zog mich auf der Treppe erst einmal pudelnackt aus und legte alle Sachen in
meine Zeltbahn, das Ganze dann in die Waschküche, um kein Ungeziefer in die
Wohnung hereinzubringen. Dann wurde ein heißes Vollbad genommen, welche Wonne
nach der langen wascharmen Zeit. Und dann ging’s ans Erzählen, und wenn wir um
4 Uhr früh nicht endlich aufgehört hätten, wären wir überhaupt nicht mehr zum
Schlafen gekommen.
Am anderen
Morgen, nach genießerischer Toilette unter fließendem Wasser und einem solennen
Frühstück, schaffte ich erst mal sämtliche Sachen in die Entlausungsanstalt am
Fliegerhorst. Als ich nämlich in die Waschküche kam, saßen traurig 2 dicke
Wanzen da, die ihr gewohntes Nachtmahl vermißt hatten.
15.11.1945 So, nun geht’s endlich mal wieder weiter, nachdem ich
in der Zwischenzeit wieder 3 Wochen „gesessen“ habe. Langsam kommt man sich
wie ein Gewohnheitsverbrecher mit so und soviel Vorstrafen vor. Die ersten
Tage nach meiner Rückkehr von den Russen waren herrlich. Der eine Gedanke schon
machte einen selig: frei, frei, frei. Und Tilde kochte, was die schmale
Speisekammer und die Marken hergaben, so dass ich mich endlich mal satt essen
konnte. Und sogar von Tellern am Tisch sitzend, und Obst und Gemüse, ja sogar
Fleisch! Am Sonntag machte der „Barraschklub“
einen Frühschoppen in der Goldenen Schelle. Danach ging ich ins Geschäft
[Geschäft war der übliche Ausdruck für den Betrieb, für mich als kleines Kind
insofern etwas verwirrend, als wir dieses Wort auch in der Form „ein Geschäft
machen“ für die Verrichtung der Notdurft gelernt hatten], denn der Alte
[Firmenchef] hatte mich schon rufen
lassen. Es lägen wichtige Aufträge von den Russen vor. 700000 Pferdehufeisen.
Ich bat dann aber erst mal um eine Woche Urlaub, um mich etwas zu erholen und
um aufs Land zu fahren wegen Obst und Nahrungsmitteln. Dann wollte ich den
Frauen all der Männer, die noch in Wansleben steckten, Bescheid geben, fuhr
mal nach Pferdingsleben zu Fr. Merten, nach Eschenbergen wegen Stecher, nach
Burgtonna zu Stein. Auch Hildebrand und Griese besuchte ich. Dann gingen wir
wiederholt in die Obstbaumschule und sammelten Saubohnen auf den abgeernteten
Feldern, auch mal mit den Kindern. Es waren ein paar sehr schöne sonnige Tage,
bevor die nächsten düsteren Wolken am Himmel aufzogen. Nach 8 Tagen teilte mir
H.Trier in seiner Wohnung mit, dass mich die Firma aufgrund einer Entschließung
des Betriebsrates entlassen müsse. Ich hätte mich „in hervorragendem
militaristischen und nazistischen Sinne betätigt, trotzdem ich kein Pg war“.
Und diese Jammerlappen von Trier und Maelzer sen. wagten nicht, gegen den
Beschluß des Betriebsrates aufzustehen, weil sie um ihre eigene Stellung
fürchteten. [In den Erinnerungen heißt es noch: Inzwischen wurde nun das
übelste kommunistische Pack nach oben auf die Direktionssessel geschwemmt und
kündigte mir.] Nach Rücksprache mit Meister Weisheit 1, H. Schröder von Fa.
Graf und Herrn Ihling vom Arbeitsamt erhob ich Einspruch und Klage beim
Arbeitsgericht. Bei der Vorinstanz, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund
(FDGB) war ich schon durchgefallen, wobei noch bemerkenswert ist, dass in der
Sache Mendrim, Mitglied des FDGB, kontra Betriebsrat, eingesetzt durch den
FDGB, der FDGB als Schiedsrichter gegen sein eigenes Mitglied geurteilt hat.
[Erinnerungen: Nun schlug das Pack zu und ließ mich durch die Polizei verhaften.
Mehr dazu weiter unten]
In der
Zwischenzeit versuchte ich überall eine Stelle zu bekommen, natürlich
vergebens. Endlich als Schlosser bei der Mitropa und beim Reichsbahnausbesserungswerk.
Bei letzterem wäre ich genommen worden wenn - ….. ja wenn ich nicht von 1934 –
1935 der SA angehört hätte. Also auch nicht als Arbeiter darf ich beschäftigt
werden, während solche „Nazis“ wie Kaufmann, Emmerich, Bochert ruhig in ihren
Posten bleiben. Ich fuhr extra noch mal nach Erfurt deswegen, auch dort Absage.
Und das, trotzdem ich zufällig Zeuge eines Telefonates zwischen dem hiesigen
Werksdirektor Winter und dem Arbeitsamt war, wonach dieser dringend 100
Arbeiter anforderte und mit seinem auftraggebenden russischen General drohte.
Überschrift: Wiederaufbau mit allen Kräften. Es blieb mir nichts anderes übrig,
als bei der Fa. Richard Böhm als Bauhilfsarbeiter am 5.10. anzufangen. Mit
Hacke und Schaufel arbeitete ich nun in der 2. Schicht an der
Leina-Reichsautobahnbrücke mit. Natürlich fällt unsereinem die Arbeit nicht
leicht, aber man gewöhnt sich dran. Und nichts ist so schlimm als daß es nicht
auch was Erfreuliches mit sich brächte. Wir kriegen dort warmes Mittagessen
ohne Marken und können täglich einen Rucksack voll Holz mitnehmen. Und der
Arbeitseifer ist im 2. und 3. Reich wie auch im 4. Reich genau der gleiche geblieben. Als ich in den ersten Tagen zu meinen
Kollegen, die schon lange klönend herumstanden, sagte: „los, wir wollen noch
was arbeiten, da vorne kommt auch gerade der Polier“, erwiderte einer:“ was
geht uns das an, du scheinst das Arbeitstempo hier noch nicht zu kennen“. Und
da ich ja schon einmal wegen zu viel Arbeitens als militaristisch und
nazistisch gemaßregelt worden war, gab ich hier schleunigst klein bei und
passte mich an.
Am 16.10.
sollte nun beim Arbeitsgericht Termin sein. Da wurde ich am Sonnabend den 13.,
als ich abends von der Arbeit nach Hause kam, von zwei Polizisten verhaftet.
Natürlich dachten wir anfänglich, es ginge wieder von den Russen aus. Schon
bald aber stellte es sich heraus, dass ich in den Händen der deutschen
„Kriminalpolizei“ war. Die Unterbringung [in den Fabrikationsräumen einer Spielwarenfabrik am Schützenberg ] war
wesentlich besser als bei den Russen: ein großer heller Raum mit Betten,
Tischen und Stühlen, Waschraum und Klo, letzteres im Hof. Tilde und Eltern
konnten mich täglich besuchen, und ich konnte unter polizeilicher „Bedeckung“
sogar zum Einwohnermeldeamt, zu Dr. Graf, zur Bank und zum Frisör gehen.
[Erinnerungen: Ich bekam eine „Anklageschrift“, wie schlecht ich bei
Blödner meine Arbeiter und die Werkfrauen behandelt hätte. Ich entwarf
für jeden „Fall“ eine Richtigstellung.] Hässlich aber war wieder die
Ungewissheit, und fast dauerte es 3 Wochen, bis ich erst mal verhört wurde. Das
war zum 1. Mal am Donnertag den 2. November, dann aber gleich von morgens ½ 9 –
19 Uhr. Und nun stellte sich heraus, was ich längst geahnt hatte: dem
Betriebsrat, an seiner Spitze Range, verdanke ich die Verhaftung. Er hatte am
15.10. einen Bericht an das Arbeitsgericht mit seiner Stellungnahme und seinen
Anklagepunkten geschrieben, gleichzeitig eine Kopie an die Kriminalpolizei
gesandt. Da ich aber schon am 13. verhaftet wurde, muss also Range, der auf der
Polizei ein und aus geht, vorher schon mündlich einen Wink gegeben haben. Er
hat mir damit übrigens schon früher bei einer Aussprache mit der
Kriminalpolizei gedroht. Verhört wurde ich durch Herrn Kriminalobersekretär
Radzek. Er wollte mir „goldene Brücken bauen“ wie er sagte, wenn ich klein
beigäbe. Und das hatte ich ja auch schon 8 Tage früher getan, als ich durch
Herrn Rechtsanwalt Kibath meinen Einspruch beim Arbeitsamt zurückziehen ließ.
Radzek sagte mir klipp und klar, dass ich nicht eingesperrt worden wäre, wenn
ich still gewesen wäre und jetzt erst mal ½ oder 1 Jahr von der Blödner-Bühne
verschwunden wäre. – Ich mußte einen
Lebenslauf schreiben, dann zu den „Anklagepunkten“ ausführlich Stellung nehmen.
Das meiste diktierte ich in die Maschine. Nachher wurde ein Teil der Zeugen
bzw. Ankläger in meinem Beisein vernommen, wobei fast alle „Vergehen“
gegenstandslos oder zumindest unbedeutend wurden. Im Einzelnen kam folgendes
vor: 1. Vorarbeiter Gutt behauptete, ich hätte gesagt: „Tretet den Ausländern
in den Arsch und haut sie in die Fresse“. Mir gegenübergestellt gibt er an: er
hat das überhaupt nicht dem Betriebsrat zu Protokoll gegeben, sondern nur
gesprächsweise dem Pförtner Bauer gesagt. Haut sie in die Fresse hätte ich auch
nicht gesagt, und der Ausdruck „tretet den Ausländern in den Hintern“ sei einer
der üblichen rauen Betriebsredensarten, von denen er keinesfalls annehme, dass
sie von mir wörtlich gemeint seien. Pluspunkt Nr. 1.
[Es geht im Text noch weiter mit einer Reihe
solcher aufgebauschter Lappalien wie Androhung von Geldstrafen und anderen
Strafen bei Verursachung von Ausschuß oder Arbeitsverweigerung am Sonntag,
wobei Sonntagsarbeit im letzten Kriegsjahr üblich war]
Freitag
gegen ½ 11 wurde ich dann nach Hause geschickt. Tilde, die ja seit 1.10. wieder
als Lehrerin tätig ist, war gar nicht zu Hause. Sie bekam einen freudigen
Schreck, als sie nach Hause kam und mich da im Hof stehen sah. Die Tage vorher
war ich noch sehr niedergeschlagen und Tilde hingegen sehr zuversichtlich.
Nach der
Entlassung erholte ich mich erst mal einen Tag, und nun arbeite ich schon
wieder 1½ Wochen in Dreck und Regen, Kälte und Nebel auf der Baustelle. Aber es
ist doch schön, vor allem wenn man frei ist und abends gemütlich in der Küche
bei seinem strümpfestopfenden Frauchen sitzen kann. Musiziert haben wir auch
schon wieder zweimal, Dr. H. [der Bratscher des Streichquartetts] freute sich
so offensichtlich, als er mich wieder frei sah, dass es einem ordentlich wohl
tat. Tilde hatte übrigens mit Lotte in aufopferungsvoller Weise Unterschriften
für mich gesammelt, in dem Sinne, dass ich den Unterzeichner persönlich
anständig behandelt hätte.
Jetzt droht
schon wieder ein neuer Schlag: die Enteignung alter Nazis vor 1933 und auch von
Nicht-Pgs, wenn sie sich in hervorragenden militaristischen …….
Spittels
haben jetzt seit ein paar Tagen einen russischen Oberst als Einquartierung.
Wohn- und Schlafzimmer mussten sie abgeben, dann haben noch Gutsches ein
Zimmer. Wir haben seit 1.10. Fremden- und Herrenzimmer an einen Studienrat aus
Oberschlesien mit Frau und 9 jährigem Töchterchen vermietet, damit wir
nach Verlust unseres Vermögens und
meiner guten Einnahmen wenigstens die Wohnungsmiete bezahlen können. Die
Wohnungsmiete kostet 77 Mark, die möblierten Zimmer bringen allein 50 Mark.
30.12.1945
Das erste
„Friedensweihnachten“ ist nun vorbei, und das erste Friedensjahr 1946 steht
drohend vor der Tür. Ich arbeite immer noch bei Böhm draußen an der
Leina-Brücke, jetzt aber nicht mehr in der 2. Schicht sondern am Tage,
zeitweilig von 7 – 17 Uhr, jetzt in den letzten Wochen von 8-16 Uhr. Es war
auch schon sehr kalt, bis - 120
und Schnee gab’s auch. Das war nun freilich weniger schön, vor allem im
Schneetreiben oben auf der Brücke, wenn obendrein der Wind noch ungehemmt
dahinpfiff. Leider hat seit dem 23.12. das Mittagessen auf der Baustelle
aufgehört, was sowohl mich als auch Mutti hart getroffen hat. Und auch mit dem
Holz wird es elend knapp. Immerhin habe ich einen ganz schönen Haufen
heimgeschleppt und gestern beim Nachbar Schmidt auf der Kreissäge schneiden
lassen. Ich bekam noch Krach mit ihm wegen dem Preis. Er verlangte 2.50 M, was
mir für die 20 min doch etwas hoch erschien. Schließlich ging er auf 2.- M
herunter. Von Böhm bekam ich einmal 80 Pfd. Gemüse und später noch mal 50 Pfd.
Kohlrabi, was heute sehr viel wert ist.
Die Russen
haben im Sandwerk die Maschinen beschlagnahmt, Herr Rey [der Inh. der Fa. Böhm]
ist nach Berlin gefahren um Protest einzulegen, denn ohne Sand ist die ganze
Bautätigkeit im Kreis Gotha gefährdet. Entlassungen und Arbeitslosigkeit
drohen.
Anfangs
sollte zwischen Weihnachten und Neujahr nicht gearbeitet werden, aber auf
Befehl der russischen Militäradministration müssen Verkehrs- und lebenswichtige
Betriebe arbeiten, sogar Sonnabend d. 29.12. voll und Sonntag d. 30.12. halb.
Da der größte Teil der Belegschaft aber nicht an die Arbeit kam, ließ ich mir
auch gestern und heute freigeben. Die Fahrbahn ist übrigens am 15. Dezember
fertig geworden, jetzt werden nur noch die Windverbände angenagelt und ein
Flutgraben als Hochwasserschutz für Leina ausgehoben.
[Es folgt
eine Beschreibung des Weihnachtsfestes, bei der die Zeitverhältnisse dadurch
illustriert werden, dass in Ermanglung von käuflichem Spielzeug nur vorhandenes
repariert werden konnte und einige Bauklötzer, die mit dem Werkzeug des Haushalts
zu fabrizieren waren, auf den Gabentisch kamen. Während des Krieges konnte
unser Vater mit den Maschinen der Tischlerei in der Firma sehr schöne
Spielsachen bauen, z.B. einen funktionstüchtigen hölzernen Kran, ein Lastauto,
eine Puppenwiege oder eine Schwebebahn mit Station. Die Feiertage seien trotz
der Mangelsituation recht gemütlich und harmonisch gewesen, woran die folgende
Betrachtung anschließt.]
Wieviel
Millionen armer unschuldiger Menschen haben das nicht mehr. Und nicht genug des
durch die Sieger erzwungenen Elends all der Ostflüchtlinge, bemühen sich die
tüchtigen „Antifas“, das Elend noch zu vergrößern durch Hetze und Enteignung
aller Pgs, durch Verhaftung und Schikanen, Entlassungen und sonstige Reformen.
Auf der einen Seite rufen sie auf zur Hilfe und allgemeinen Mitarbeit aller
bei der „Thüringer Aktion gegen Not“, auf der anderen Seite gemeinster Raub und
Diebstahl an rechtschaffenen Menschen, die bestimmt an den Verbrechen, die in
den KZ ja wohl begangen worden sind, unschuldig sind, genauso unschuldig wie an
der Entfesselung des Krieges, den keiner von ihnen gewollt hat. Opa schwebt
auch zwischen Hangen und Bangen, ob man ihm nicht die Praxis wieder schließen
wird, die er doch nur mit Aufbietung seiner letzten Kräfte ausübt, um sein Leben
zu fristen, nachdem sein Vermögen zum 2. Mal dahin ist. In der Zeitung stand,
daß auch der Ärztestand von nazistischen und faschistischen und hitleristischen
„Elementen“ gereinigt werden muß. Wenn man dazu noch den Nürnberger Prozess
halbwegs unvoreingenommen verfolgt, wo sie von jedem Pg, SA- und SS-Mann als
Straßenräuber und Verbrecher sprechen, möchte man die Hände vor das Gesicht
nehmen und heulen vor soviel Schmutz und Verlogenheit.
Hier sind
auch schon viele Pg und führende Leute enteignet worden bzw. aus ihren
Wohnungen rausgesetzt worden, so z.B. Frau Weise, deren Mann seit Anfang
Oktober verhaftet ist, Frl. Schoch, die Klavierlehrerin von Gerd, Frau Wagner
aus dem Haus von Jockel Beck, deren Mann vor 3 Monaten von den Russen über den
Haufen geschossen wurde. Auch hier schwebt das Damoklesschwert über Opa, der
sich die 5 Kriegsjahre freiwillig für
die leidende Menschheit aufgeopfert hat. Beraubungen in Eisenbahnzügen ist
übrigens was Alltägliches, wie Frau Gutsche erzählte, als sie kürzlich in Berlin
ihre Schwester besuchte. Ein junger Kollege vom Bau wurde über Weihnachten, als
er seinen Koffer verteidigte, von Russen angeschossen.
Die Lehrer
bekamen übrigens eine schöne Ferienaufgabe. Es muß eine Bevölkerungszählung
durchgeführt werden nebst Grundstücksverwendung. Tilde machte sich gleich an
die Arbeit. Jetzt hinterher kommt noch eine zusätzliche Fragestellung, nämlich
wie viele Aborte mit und ohne Wasserspülung auf jedem Grundstück vorhanden
sind, also muss sie noch mal überall rum! - Langsam kommt eine Teuerung
und Steuererhöhung ins Land, genau wie nach dem 1. Weltkrieg. Zunächst wurde
die Lohnsteuer um 25% erhöht. Seit ein paar Tagen muss für jede Kinokarte
50Pfg. extra, für jede Vergnügungsveranstaltung 1 M, für eine Straßenbahnfahrt
0,05M und für 1Liter Bier 0,50M extra bezahlt werden, um die Finanzen der Stadt
angeblich zu sanieren. Außerdem soll jeder einmalig 10% seines Monatseinkommens
opfern. Aber öffentlich haben sie auf das dauernde Sammeln und Opfern bei den
„Nazischweinen“ geschimpft.
Glücklicherweise
haben wir jetzt schon von vielen Seiten Nachricht, wenn auch nicht immer die
besten. Aus Hamburg hörten wir, dass Onkel Max verhaftet ist und sich in einem
Lager befindet. Aus Offenbach bekamen wir schon 2 Briefe, auch von Erika aus
Altenburg 1 Schreiben. Ebenso von Frau Wegehaupt, ihr Mann ebenfalls
verhaftet. Also überall das gleiche Elend. Hier haben die Nazis bei ihren
vielen lügenhaften Voraussagen mal wirklich Recht behalten, nämlich, dass wir
rechtlose Sklaven der Sieger werden würden.
1.1.1946
Jetzt hat
der Oberst , der bei Spittels wohnt, noch seine Familie, bestehend aus Frau,
14-jähriger Tochter Dagmar und 8-jährigem Jungen Victor herkommen lassen. Die
armen Gutsches mussten darauf auch noch ihre letzte Zuflucht räumen. Und das
ausgerechnet zwei Tage vor Weihnachten. - Kürzlich beobachtete ich ein
herrliches Schauspiel. Victor nahm sich einen Stock, hielt ihn sich vor den
Bauch [wie ein Gewehr im Anschlag] und pflanzte sich vor Hans Hennemann
[Spielkamerad aus dem Nachbarhaus] auf. Dann führte er ihm erst die eine, dann
die andere Hand hoch, und nun erst begriff ich langsam das nette Spiel, vor
allem als der kleine GPU-Scherge seinen Gefangenen nach Waffen am Körper
abtastete. Schließlich schubste er ihn herum, bedeutete ihm, vorwärts zu
marschieren und rief laut und vergnügt: dawai,dawai! Alles natürlich mit hoch
erhobenen Armen. Kommentar überflüssig!
Täglich
denke ich mehrmals an meine armen Ingenieurkollegen, die noch immer von den
Russen gefangen gehalten werden. Wenn ich mir das vorstelle, dass ich jetzt
dort sitzen müßte, so trostlos öde eingesperrt, ich glaube, ich würde es nicht
ertragen. Wo ich schon in Halle manchmal ganz verzweifelt war. – Karl August
Maelzer ist auch noch nicht zurück. Ich besuchte vor ein paar Tagen Anni
Maelzer, sie hat jetzt auch 2 Familien im Haus, dazu kommt, dass sie ihr schon
ein paar mal Möbel aus der Wohnung fort holten, angeblich zur Ausstaffierung
von Russenwohnungen. Es sah auch sehr öde in dem früher so feudalen Eßzimmer
aus.
Ich habe
mich zur Umschulung als Volksschullehrer gemeldet, 3 – 6 Monate Ausbildung,
dann „Laienlehrkraft“ mit einem Gehalt von 220 M. Dazu brauche ich aber noch
eine politische Unbedenklichkeitsbescheinigung, und am besten müßte ich in eine
Partei eintreten, wozu ich mich aber nicht entschließen kann. Tilde verdient
als Lehrerin ein Heidengeld, ich glaube über 350 M sind es. Da kann ich mit
meinen 130 M freilich nicht mit.
4.2.1946
[Es folgt
die Beschreibung einer Odyssee zur Erlangung der Unbedenklichkeitsbescheinigung,
d.h. von der Politischen Polizei über das Antifa-Komitee und das Parteibüro der
KPD zum Büro zur Betreuung der Opfer des Faschismus. Dort sagte man ihm:]
Um das
politische Unbedenklichkeitszeugnis zu erhalten, sollte ich aber erst vom
Betriebsrat meiner früheren Firma eine Bescheinigung bringen, Tableau! Vierzehn
Tage später versuchte ich es noch mal über die politische Polizei, mit Hilfe
„meines Freundes“ Radzek [zu Radzek s.o.]. Von dort ging die Sache weiter zu
den vier Antifa-Parteien, und schließlich mußte ich dann auf dem Rathaus hören,
daß außer der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) alle anderen Parteien
Einspruch erhoben haben. Ich bin also politisch bedenklich, wahrscheinlich ein
„verkapptes Nazi-Element“, oder drastischer, ein „Nazischwein“. Gerührt von so
viel Güte bei der LDP traten Tilde und ich einige Tage später in diese Partei
ein. Aber meinen Traum vom Volksschullehrer habe ich an den Nagel gehängt.
Inzwischen bekam ich [als Reaktion auf schriftliche Bewerbungen] auch
verschiedene Aufforderungen, mich wegen einer Stellung persönlich vorzustellen,
z.B. Reichsbahnausbesserungswerk Gotha, Technischer Überwachungsverein Weimar,
Verkehrsamt Weimar, Landesamt für Arbeitsschutz (Gewerbeaufsicht). Überall
scheiterte es an meiner politischen Anrüchigkeit, Leistung ist Nebensache, wie
auch bei den Lehrern.
Ich besuchte
Onkel Ernst und Tante Grete, brachte ein paar Briketts mit, die ich vorher von
einem Lastauto gegen eine Zigarette eingetauscht hatte. Die Züge waren sehr
voll, auf der Rückfahrt allerlei Erlebnisse mit Russen, wie sie Koffer klauen,
Abteile räumen und Kinder einfach aus dem Fenster reichen, so daß in Erfurt
eine Mutter verzweifelt eines ihrer 3 Kinder suchte.
Es erfolgte
wieder mal eine Aufforderung, alle Waffen abzugeben. Während die Alliierten
aber nur Feuerwaffen und Munition verlangen, geht unser Oberbürgermeister
darüber hinaus und verlangt, daß auch Luftgewehre abgegeben werden. Ehe ich
meins abgegeben hätte, hätte ich es lieber kaputt gemacht. Glücklicherweise
konnte ich es „unserem“ Oberst für 2 Brote, 1 Pfd. Mehl und 13 M verkaufen.
Jetzt schießen unsere Kinder mit Viktor um die Wette die Bolzen auf die
Scheibe.
Übrigens hat
ein Kollege vom Bau, früher Ingenieur bei der Gothaer Waggonfabrik, das
politische Unbedenklichkeitszeugnis bekommen, trotzdem er Pg war! Das ist also
dasselbe wie bei Blödner, wo Pgs auch weiter in leitenden Stellungen sind, wie
z.B. der Alte [Seniorchef Maelzer], Kaufmann, Emmerich, Bochert, Weisheit 2.
Übrigens ist „mein Freund“ Range jetzt Direktor geworden, jedenfalls sitzt er
im Zimmer von Trier und hat Prokura, während Trier [der kaufmännische Direktor]
auch rausgeworfen worden ist.
Nun noch
kurz in Schlagzeilen ein paar wichtige Tagesereignisse. In der ganzen Welt
Streiks, Meutereien, Spannungen, besonders zwischen England und Russland wegen
Griechenland, Persien, Syrien und Libanon, Indonesien, wo englische Truppen
stehen, die dort die Sicherheit aufrechterhalten. Umgekehrt gehen die Russen
nicht aus Mandschukuo [der 1932 – 1945 bestehende Satellitenstaat Japans in der
Mandschurei], sondern schleppen dort Maschinen und Industrieeinrichtungen weg,
wozu sie nicht berechtigt sind. Frankreich strebt Abtrennung des Rheinlandes
und Internationalisierung des Ruhrgebietes an und widersetzt sich der Bildung
einer Zentralverwaltung des ganzen Deutschen Reiches. Und gegen Franco-Spanien
wird jetzt von überall, selbst aus Ländern, deren Bewohner z.T. kaum wissen
dürften, wo Spanien liegt, der diplomatische Generalangriff gestartet.
Gestern
Nachmittag war ich mal bei Trier. Er soll aus der Wohnung, wo er sowieso nur
noch ein Zimmer und Küche bewohnt, ganz raus und enteignet werden. Opfer des
Antifa! Abends waren wir im Theater ……..
Leider fand der Abend einen häßlich-gräßlichen Abschluß. Wegen der
nächtlichen Unsicherheit hielten wir uns schon immer bei anderen Leuten auf dem
Nachhauseweg. Als wir gerade in der Leesenstr. waren, ertönten 2 Schüsse, und
markerschütternde Hilfeschreie einer Frau, die einem durch und durch gingen.
Und nun nicht helfen zu können und diese bewaffneten Bestien gewähren lassen zu
müssen, statt sie halb tot zu schlagen, ist furchtbar. Und die Schreie hörten
nicht auf, schließlich bellte noch ein Schuss auf. Wir drückten uns seitlich in
die August-Blödner-Str., als uns im Nebel eine Gestalt entgegenkam. Schließlich
gingen wir 5 Personen doch zur Waltershäuser Str., dann schräg zu Dr. H. rüber,
wo wir Leute sahen. Nun hörten wir, dass ein Mädchen vom Ballett, das bei H.s
im Haus wohnt, angeschossen worden war und jetzt bei H. drin lag. Der Vater des
armen Dings stand mit einem Offizier auf der Strasse, wir gingen vorbei, da
kamen uns von der Kaiserstr. ein halbes Dutzend Gestalten im Nebel entgegen.
Ich dachte, es wären Zivilisten und drängte schnell nach Hause. Es waren aber
Russen, die uns zurücktrieben und „stoj“ brüllten, was wir anfangs gar nicht
verstanden, bis endlich ein Deutscher rief: „nicht laufen, bleiben sie doch
stehen, sonst schießen die“. Wir sammelten uns nun alle bei dem Offizier, der
mit seinen Leuten palaverte. Endlich konnten wir dann nach Hause gehen, wo uns
Oma schon an der Haustür in 1000 Ängsten erwartete. Na, das war eine schöne
Aufregung und wir konnten lange nicht einschlafen. Wir haben die Nase voll vom
abendlichen Ausgehen. Heute früh kam Frau Spittel, ein Major war beim Oberst
und sagte, sie hätten den Kerl erwischt, heute würde er erschossen.
Beruhigungspillen fürs Volk? [Etwas später schreibt er: Also das Mädchen vom
Ballett ist nicht angeschossen worden. Ein Russe hat sie hingeworfen, sie
wehrte sich und trat, worauf der Kavalier ihr mit ihrem eigenen Köfferchen ins
Gesicht schlug, so daß sie blutete. Und den Kerl haben sie nicht erwischt, denn
vor 2 oder 3 Tagen war ein Kriminalbeamter bei Spittels und wollte hören, ob
der Oberst als evtl. Täter in Frage käme.]
17.3.1946
Seit Montag
arbeite ich wieder am Wiederaufstieg mit, indem wir die Hallen im Fliegerhorst
wieder abreißen. Sie sollen nach Russland verladen werden. [Erinnerungen: Dort
lernte ich auch, Telefonleitungen aus den Wänden zu reißen und den
erstklassigen Kupferdraht mit nach Hause zu
nehmen, wo er mir noch jahrelang wertvolle Dienste bei Reparaturarbeiten
im Haushalt leistete.] Das einzig Erfreuliche ist, dass es wieder täglich
einen Rucksack voll Holz gibt. Am Sonnabendnachmittag fuhr ich mit den Kindern und unserem
Leiterwagen zum Fliegerhorst, um Holz aufzuladen. Da ich leider keinen Beleg
hatte, konnten uns zwei seit neuestem dort postierte Schupos daran hindern, die
zersplitterten Bretter, die wir selbst vom Dach heruntergeworfen hatten,
mitzunehmen. Da fuhren wir dann zum Sandwerk von Böhm und holten wenigstens die
1½ Ztr. Briketts ab, die jedes Gefolgschaftsmitglied bekam. [Der Begriff Gefolgschaft stammt noch aus
dem 3. Reich und war gebräuchlich für
die Belegschaft, an deren Spitze der Betriebsführer stand.]
2.4.1946
Sonnabend
fuhr ich mit Tilde bei bester Stimmung und schönem warmen Wetter per Rad auf
die Kartoffeljagd. Zuerst nach Leina zu Frau Schott, wo wir zwar keine
Kartoffel, aber wenigstens Kaffee und Kuchen und 4 Eier erhielten. Bei Rauch
und Schottmann nichts, nicht eine Bohne. Alsdann nach Gospiteroda, dort 1Liter
Magermilch, und schließlich nach Emleben, wo wir von Wachtelborns ca. 10 Pfd.
Kartoffeln und von Herrn Willing trotz wütenden Einspruchs seines bissigen Eheweibs
noch 8 Pfd. erhielten. So muss man also heute betteln.
Vor 8 Tagen
kam plötzlich die Kunde, dass Blödner seine Maschinen putzen, ölen und
einpacken muß. Das habe ich ja schon lange kommen sehen. Es wird gesagt, 25%
der Kapazität dürfte das Werk behalten. [In einem Rundbrief vom 6.8.1946
schreibt Vater: „Meine frühere Firma ist im Frühjahr restlos ausgeräumt worden,
die Leute in alle Winde zerstreut. Die Demontage erstreckte sich nicht nur auf
die Maschinen, sonder auf alles außer dem Mauerwerk, also z.B. Heizung,
Rohrleitung, Kabel, Elektroleitungen, ja sogar Fenster- und Türrahmen.
Schauerlich sieht der Bau jetzt aus, beinahe wie ausgebrannt.“]
Jetzt kamen
die Befehle der Sieger, wie die Wirtschaft in Zukunft aufgebaut sein darf.
Werkzeugmaschinenbau 11% der Vorkriegskapazität; Schiffbau, Flugzeugbau,
selbstverständlich Kriegsgerätebau verboten, chemische Industrie 40-70%,
Motorräder über 250 ccm verboten, 60-250 ccm 10.000 Stück im Jahr 1949;
Kugellager, Funkgeräte, synthetischer Gummi und Treibstoff, Ammoniak verboten,
Automobile ca. 1/6 der Vorkriegsproduktion. In der Tonart geht das weiter. Das
Ziel ist erreicht, der schlimmste Wirtschaftskonkurrent ist vernichtet, und man
hat dazu noch ein gutes, gottgefälliges Werk getan.
3.4.1946
Heute vor
einem Jahr war Feindalarm. Am Tag vorher mußte ich morgens früh wieder im
Finanzamt antreten. Es wurde ein neues Sturmbataillon gebildet. Neue Gruppen,
neue Führer, unbekannte Kameraden. Dann wurden Volkssturmgewehre ausgegeben,
aber keine Munition. Uniform hatten wir auch nicht, noch nicht einmal
Armbinden. Dann bezogen wir eine Stellung am Galberg, zunächst am Friedhof
gegenüber der Oberrealschule [heute Arnoldischule]], die schon seit längerer
Zeit als Lazarett diente. Dort verjagte uns bald ein Stabsarzt, weil dadurch
der Bezirk, der sonst durch das Rote Kreuz geschützt war, gefährdet wurde. Ich
wurde dann als Melder zum Bataillonsstab abkommandiert, weil ich mein Fahrrad
mit hatte. Nun begann wieder der alte Spruch Wahrheit zu werden: „3/4 seines
Lebens, wartet der Soldat vergebens“. In der Süßmostkelterei von Zeidler [in
der Goldbacher Str.] hatte der Stab sein Quartier, Bataillonschef war ein
Direktor Flicek von der Firma Perthes. Nachmittags konnte ich mal mit dem Rad
für eine Stunde nach Hause fahren, wir Melder wechselten uns dabei ab. Es gab
Verpflegung, Brot, Wurst, Butter und Käse, sogar Sahnebonbons. Abends Reisbrei,
der im Gewerbevereinshaus [Ecke Schützenberg/Schützenallee] gekocht wurde.
Zutun hatten wir nichts, außer Stroh fürs Nachtlager zu besorgen und Holz für
den Ofen aus dem Schießhaus [Stadthalle] zu holen. Nachmittags kam mich Opa
noch mal besuchen. Ich hatte wenigstens ein militärisches Kleidungsstück, den Luftschutzsicherheitshilfsdienstmantel
von Opa und seinen Ledergürtel an. In der Nacht Alarm, den wir im tiefen
Weinkeller, der auch als öffentlicher Luftschutzraum diente, zubrachten. Am 3.
Feiertag sollten wir Uniformen in der Luftwaffenkaserne empfangen und um 18
Uhr nach Hause gehen, da sich die Lage geklärt hätte und eine unmittelbare
Gefahr nicht vorhanden wäre. Der Feind sei zurückgeschlagen. Wir marschierten
also nach dem Kaffee ohne Waffen (Munition hatten wir immer noch nicht
bekommen) durch die Stadt zur Kaserne an der Ohrdrufer Landstraße. Dort wieder
langes Warten, plötzlich die Sirene. Es hieß, sofort das Kasernengebiet zu
räumen. Wir liefen auf die angrenzenden Felder nach dem Seeberg hin. Das
Sirenengeheul hörte gar nicht mehr auf, so daß wir langsam auf den Gedanken
kamen, es könnte der 5-Minuten-Feindalarm sein, was uns dann aus Gotha
herausströmende Leute bestätigten. So recht wollten wir es noch nicht glauben,
denn wir sollten ja entlassen werden, da „sich die Lage geklärt hatte“. Als wir
den Kamm des Seeberges erreicht hatten, hörten wir Artilleriefeuer und sahen
die ersten Einschläge in Gotha. Es war ein furchtbares Gefühl und ich weiß
noch, wie in meinem Inneren das ganze Gebäude meines Lebens zusammenstürzte
und nichts als Scherben zurückblieben. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Wir beratschlagten, was wir tun sollten. Unser neuer Gruppenführer, dieses
feige Schwein, sagte zu uns, jeder solle versuchen, sich einzeln nach der Kampfstellung
durchzuschlagen. Er selbst mit einem Kumpan nahm sofort Richtung Siebleben auf,
wo er wohnte. Wie ich später von meinem Kamerad Rosenburg hörte, war er
unverzüglich nach Hause gelaufen und den ganzen Tag nicht mehr aus dem Keller
herausgegangen. Er hatte sich abends, als R. ihn mal aufsuchen wollte,
anfänglich verleugnen lassen. Wir paar anderen gingen durch die Stadt zu
unseren Einheiten und hielten noch bis abends aus, wo dann am Rathaus und am
Schloßturm die weiße Fahne gehißt wurde. Ich begab mich wieder zum
Bataillonsstab, der wegen dem langsam näher kommenden Artilleriebeschuß sein
Quartier etwas verlegte, und zwar in ein Nachbarhaus an der Goldbacher Str., wo
man bessere Übersicht hatte. Uniformen hatten wir noch immer nicht, Munition
bekam ich jetzt endlich, allerdings ohne bis dato jemals einen Schuss aus einem
Volkssturmgewehr abgefeuert zu haben. Eine Weile wurde ich zum Beobachten auf
einen Dachturm eines Hauses geschickt, dann wieder sollte ich Verbindungsmann
zwischen den an der Eisenacher Straße postierten HJ-Jungen, welche sich dort
mit Panzerfäusten eingegraben hätten, und einer 8,8-Flak sein. Diese war in der
Goldbacher Str. in Stellung gegangen, da feindliche Panzer aus Richtung
Sonneborn gemeldet waren. Der Batterieführer, ein Feldwebel, verlangte mein
Fahrrad, um eine Erkundungsfahrt in Richtung Freundwarte zu machen, da er
Stellungswechsel vornehmen wollte, wenn Panzer evtl. die Eisenacher Straße
herab kommen würden. Ich sollte auf ihn an dem Geschütz warten. Die ganze Zeit
kreiste ein feindliches Beobachtungsflugzeug über dem Krahnberg und es dauerte
nicht lange, da schlug eine Salve in die Goldbacher Straße, kaum 20 m vom
Geschütz ein. Wir Volkssturmmänner liefen in den nächsten LS-Keller in der
Werderstr. [Blumenbachstr.] und warteten dort ¼ Stunde das Ende des Feuerüberfalls
ab. Dann marschierten wir wieder nach dem Schützenberg zu, bei einem
neuerlichen Artilleriebeschuß gingen wir in den Keller des Eckhauses im Brühl.
Ich war derart deprimiert und hoffnungslos und erschüttert, daß ich dort
wünschte, ein Volltreffer möchte in den Keller fahren und ein Ende machen.
Manchmal waren auch die Einschläge recht nah und deutlich zu hören. Na, aber
dann mußten wir wieder raus, das Geschütz war schon abgerückt, es stand am
Brühl und ich fand meinen Feldwebel auch wieder. Das Rad aber war weg, er hätte
es in der Goldbacher Straße an ein Haus gestellt, als ich nicht da war. In dem
Augenblick war mir das aber auch ziemlich egal. – Das Bataillon hatte sich auch
mehr und mehr verkrümelt, und im Stab wurden es auch immer weniger. Wir hörten
dann schon Schüsse in unserem Rücken, zogen noch durch verschiedene Strassen
und Gärten und schließlich auf die Befehlsstelle im Schloß, wo aber bereits
alles ausgeflogen war, oder wie der offizielle Ausdruck heißt: sich abgesetzt
hatte. Da war nun auch für uns der Krieg aus und wir gingen nach Hause, wobei
uns schon die plündernde Meute entgegen kam. Das waren so ein paar Erinnerungen
an die „schweren Kämpfe“ um Gotha. [In den im Jahre 2002 niedergeschriebenen
Erinnerungen steht noch folgende Passage: „In einem Haus am Schützenberg
hatten wir uns „verschanzt“. Aus der Annastraße kam ein Panzer angerollt,
vorneweg ein amerikanischer Soldat mit Gewehr im Arm. Auf den zielte ich und
gab meinen einzigen Schuß im Krieg ab. Ich traf ihn nicht, aber er flüchtete
hinter seinen Panzer. Dann flüchteten wir durch die Gärten …..]
4.4.1946
Tilde hat
jetzt täglich 5 Stunden bei 2 Klassen 1.
und 4. Schuljahr Mädchen. Gerd’ Klasse mußte sie wieder abgeben, die kam in die
Aufbauschule [Reinhardsbrunner Str.] ins Neulehrerseminar zwecks Schulung der
kommenden Größen. Herr Kürschner ist Dozent für Mathematik und erzählte
Wunderdinge über den Wissensstand der zukünftigen Erzieher, so daß das jetzt
umlaufende geflügelte Wort Berechtigung zu haben scheint: dumm wie ein
Neulehrer. Herr Kürschner und seine Frau wurden übrigens vor ein paar Wochen
von einem braven Russki angefallen, beraubt und bedrängt, als sie nachts um ½1
von einem Besuch nach Hause gingen. Die Sache spielte sich am Klosterplatz ab.
Kürzlich wurde auch die Wirtin vom Kaiserhof erschossen, als sie sich weigerte,
an Russen Schnaps auszugeben. – Vor 14 Tagen mußte Gerd die Klavierlehrerin
wechseln. Frl. Schoch darf keinen Unterricht erteilen, weil sie „Nazischwein“
war und in der Frauenschaft einen Posten bekleidete. Aus der Wohnung hat man
sie schon vor ein paar Monaten rausgeworfen.
Noch ein
paar politische Schlagzeilen: Viele militaristische und nazistische
Straßennamen wurden umgetauscht, so die Kaiserstr. Zunächst 14 Tage in Kepplerstraße
und jetzt in 18.-März- Straße; Dietrich-Eckard-Strasse in Waidstraße und jetzt
wieder in ihre alte Bezeichnung Jüdenstraße; Dorotheenstraße in Thälmannstraße,
Scharnhorststraße erst Ifflandstraße, jetzt Robert-Blum-Straße. Auch
Ostpreußische, Malmedy-, Olpener Str., Saarstr. mußte verschwinden. Selbst
Tilde, die aufrechte Antifaschistin, meinte nun doch, das deutsche Volk sei
reif zum Untergang. Heute früh im Radio kam der Befehl, daß das Tragen von
Uniformstücken streng verboten ist, wenn sie nicht durch Färben unkenntlich
gemacht sind. Und wie viele entlassene Soldaten haben nichts anderes als die
paar Lumpen auf dem Leib. Als Strafe kann sogar die Todesstrafe verhängt
werden. – In Berlin im englischen, französischen und amerikanischen Gebiet
Urabstimmung bei der SPD, ob Verschmelzung mit der KPD gewünscht. Der Londoner
Rundfunk berichtet, dass in der russischen Zone die Abstimmung verboten war,
die russisch zensierten Zeitungen sagten, dass in den russischen Berliner
Bezirken die SPD die Urabstimmung einstimmig abgelehnt habe, weil sie Unsinn
sei. Wer lügt nun eigentlich? Bisher hieß es doch immer, nur die Nazis.
28.4.1946
Ich wollte
es bisher nicht glauben, aber nun habe ich es mit eigenen Augen gesehen, dass
die Russen von der zweigleisigen Hauptstrecke Eisenach-Erfurt ein Gleis
abmontieren. [Noch mindestens bis zum Ende meiner Studienzeit Anfang der 60er
Jahre gab es nur ein Gleis, was zu langen Wartezeiten an kleinen Stationen wie
z.B. Seebergen führte, wenn erst ein Gegenzug vorbeigelassen werden mußte.] Und
bei meinem Weg zur Arbeit sehe ich, dass sie die
Blechbearbeitungsmaschinenfabrik Grübel, die Bohrmaschinenfabrik Loos und
Hempel und eine Trafo-Station ausräumten. Armes Deutschland ! – Vorige Woche
hörten wir wieder nachts zweimal Hilfegeschrei von weiblichen Stimmen. Am
nächsten Tag erzählte ein Sundhäuser, er habe auf der Reinhardsbrunner Strasse
eine Riesenblutlache gesehen. Folgender Tatbestand lag vor: ein Architekt ging
mit zwei Mädchen die Strasse entlang, da kommt ein Auto an, hält, es stürzen Russen
raus und zerren ein Mädchen ins Auto. Der Mann springt nach, um dem Mädchen zu
helfen, da wird er einfach niedergeknallt. So geschehen im 20. Jahrhundert in
einer mitteldeutschen Stadt. – In der Karwoche besuchte ich mal meine Kumpels
auf der Baustelle. Sie reißen jetzt auch die Wände von den Hallen [des
Fliegerhorsts] ab um die Profileisenstiele zu gewinnen, das ganze Mauerwerk
muß dabei zerstört werden. Dort hörte ich, dass sich wieder mal alle Hoch-und
Fachschüler registrieren lassen müssten. Ich ging also am nächsten Tag aufs
Statistische Amt im Rathaus. Dort sagte mir aber ein Herr mit mokantem Lächeln,
die Aktion sei bereits am 13.4. abgeschlossen, eine Nachmeldung hätte keinen
Zweck. Eine blonde Schöne grinste dabei auch vielsagend.
7.6.1946
Jetzt ist
schon länger als 1 Jahr „Frieden“, dabei leiden wir mehr Hunger als im Krieg.
Und überhaupt gibt es jetzt noch weniger zu kaufen, dafür wird umso mehr
geschoben und schwarz gehandelt. Wir sind schon wieder knapp mit unseren Kartoffeln.
Und weitere habe ich trotz aller Tauschangebote noch nicht wieder bekommen. In
der Not (und weil Frau Gutsche immer so dick schält) wendet Tilde ganz neue
Rezepte an, die im wesentlichen darin bestehen, dass alle Kartoffeln mit Schale
gegessen werden, z.B. in der Kartoffelsuppe oder bei Kartoffelpuffern und
Klößen. Und nun ein ganz neues Gericht, gestern zum 1. Mal probiert, eine Art
Knäckebrot. Kartoffelschalen durch den Fleischwolf, mit Kümmel und Salz
vermischt, auf ein Kuchenblech und dann gebacken. Tilde lässt sich von Gutsches
und Spittels noch die Schalen geben, so
können wir unseren Vorrat strecken.
Auf der Abbruchstelle Fliegerhorst nähern sich die
Arbeiten dem Ende, jedenfalls wurden gestern ca. 20 Mann entlassen, nachdem im Laufe
der letzten Wochen massenweise Leute eingestellt wurden, Kaufleute, Beamte,
Konditor, Archivar und sogar ein Schauspieler. Wie unser Betriebsobmann sagte,
bekämen sie aber gleich wieder Arbeit bei der Post, nämlich Kabel ausgraben.
Überhaupt stand in der Zeitung, dass in Thüringen 125.000 Arbeitslosen ca.
450.000 offene Stellen gegenüber stehen, also pro Mann 4 Stellen. Es ist nur
merkwürdig, daß alle nicht die Arbeit kriegen, die ihren Fachkenntnissen und
Neigungen entsprechen. Am liebsten schickt das Arbeitsamt „Nazischweine“ in die
Kalibergwerke, aber auch aus der amerikanischen Zone wurden nach einer
Zeitungsnotiz 25.000 deutsche Sklaven nach der englischen Zone zum Einsatz in
den Ruhrkohlebergwerken deportiert. Die Kohle ist freilich nicht für uns,
sondern für Frankreich und sonst alle Nachbarstaaten, die Anspruch auf
Reparationen geltend machen. Sehr erheiternd wirkt in diesem Zusammenhang, dass
auch Österreich von uns Reparationen will.
11.6.1946
Nun ist
Pfingsten auch wieder vorbei. Je weiter wir in den Frieden hineinkommen, umso
mäßiger werden die Kuchen und die ganze Ernährung überhaupt. Sonnabend machte
ich blau und fuhr mit Gerd nach Metebach wegen Kartoffeln. Es war nichts damit,
aber wenigstens 2 Fl. Milch in einer Güte, wie wir sie nur noch vom Hörensagen
kennen, ½ Brot und 7 Pfd. Erbsen. Da ist man dann ganz glücklich über den
großartigen Erfolg der Bettelei, die einen im Grunde der Seele zum Erbrechen
anekelt. Aber es war sehr schönes heißes Wetter und konnte gleichzeitig als Spazierfahrt
gelten.
22.6.1946
Also die
ingenieurlose, die schreckliche Zeit ist vorbei. Ab 1.7. trete ich bei der Fa.
Carl-Zeiss als Betriebsingenieur im status nascendi ein. Vorgestern war ich in
Jena, und gestern schied ich gleich bei Richard Böhm aus, nicht ohne am letzten
Tag noch einen Riesenrucksack Holz mitzunehmen.
Gerade heute
vor 8 Tagen, als ich von der Arbeit nach Hause fuhr, hielt mich Kollege Hermann
an, stellte mich seiner Frau vor und gab mir einen Tip: die Russen würden
wieder Ingenieure deportieren. Deshalb machte ich mich ein paar Tage in
Gierstädt unsichtbar [bei Familie Griese].
Jena, den 5.7.1946
Also nun bin
ich schon in Jena. Mit dem Arbeitsamt ging es auch ziemlich schwierigkeitslos
(ich war ganz überrascht), und dann hätte ich eigentlich noch eine Woche Urlaub
verleben können. Der „Urlaub“ bestand aber nur in einer einzigen Kartoffeljagd.
Einmal fuhr ich nach Metebach ohne Erfolg, einmal nach Friemar. Hier brachte
ich wenigstens 25 Pfd. von Walter und auch noch von meinem früheren Vorarbeiter
Bienert mit. Dann war ich mit Tilde an einem Nachmittag über Bufleben nach
Eschenbergen zu Frau Buwa gefahren, um dort Stachelbeeren zu pflücken.
Erfreulich war, dass sie uns mit Kaffee und Kuchen bewirtete. [Solch eine Extramahlzeit
ohne Einsatz von Lebensmittelmarken war in doppelter Hinsicht ein Geschenk. Es
war der Erwähnung wert, wenn es mal in einer ländlichen Gaststätte etwas ohne
Marken gab, z.B. eine Scheibe trockenes Brot auf der Freundwarte.] Eine
anschließende Rundfahrt über Burgtonna, Warza und Goldbach brachte nicht eine
Kartoffel, wohl aber eine sehr schöne Spazierfahrt ein. Am letzten Gothaer
Sonnabend fuhr ich mit Tilde und Mutter nach Gierstädt, obwohl wir erst eine
Woche später zum Johannisbeerenpflücken bestellt waren. An einem Nachmittag
gingen wir in die Obstbauschule, um für andere Erbsen zu pflücken. Denn 80%
der Ernte mussten abgegeben werden, wir
brachten von einem Nachmittag nur 20 Pfd. nach Hause und waren 3
Personen (mit Tilde und Mutter).
Sonntagabend
schaffte ich mit den Kindern meine Koffer an die Bahn und wir verdienten uns
als Gepäckträger mit unserem Handwagen auf dem Rückweg 2 Zigaretten und 1,20 M
Trinkgeld. Zeichen der Zeit! Anderntags
ging’s um ½4 aus den Federn [und ab nach Jena]. Der Montag ging noch so mit den
Anmeldeformalitäten bei Zeiss und verschiedenen Ämtern hin, Dienstag war dann
Antreten im Ausstellungsraum, wo ich erst mal das ganze Fabrikationsprogramm
kennen lernen soll.
Ich bin bei
einer noch recht jungen, blonden Pfarrerswitwe, die bei ihren Eltern wohnt,
eingezogen, und wurde abends von Frau Pichler, ihrer Mutter, verpflegt. Einmal
aß ich abends in der Stadt. Es war eine Katastrophe. Fast 2 h nahm es in
Anspruch, drei Portionen aß ich, keine Kartoffel gab’s, immer nur Brot und obendrein
kostete das bescheidene Essen 2,65 M. Mittags esse ich in der Werkskantine, wo
angeblich 8000 Personen beköstigt werden. Es ist aber auch sehr bescheiden,
allerdings kostet es nur 0,30 M und im ganzen Monat an Lebensmittelmarken nur
400g Brot, 150g Fleisch und 50g Fett. Es fehlen vor allem Kartoffeln, und ich
Esel brachte in Gotha noch 20 Pfd. zum Gemüsehändler, damit ich eine
Bescheinigung bekam, auf welche ich dann vom Ernährungsamt Reisemarken erhielt.
Und jetzt gibt es auf die Marken hier nicht eine Kartoffel.
29.7.1946
Sonnabend
vor 14 Tagen fuhr ich, kaum von Jena zu Hause angekommen, gleich wieder mit
Tilde per Rad los nach Gierstädt wegen Kartoffeln. Hildebrand rückte nur 15
Pfd. raus, trotzdem wir einen Film opferten. Aber bei einer Frau bekamen wir ½
Ztr. Und am Sonntag früh fuhren wir gleich noch mal hin und holten noch einen
Zentner. Dann badeten wir erstmalig in dem niedlichen Schwimmbädle von
Gierstädt, besuchten Grieses und hauten befriedigt ab, zumal uns die Frau
Fleischmann für den nächsten Sonntag noch einen Zentner versprochen hatte. Aber
der nächste Sonntag war eine Niete. Die Kartoffeln weg, eine Reifenpanne, keine
Baderei und auf dem Rückweg Regen.
In Jena
versuche ich mir das Leben so angenehm wie möglich zu machen, gehe viel in die
Umgebung spazieren, besuche Theater, Kino und Konzerte. Vorige Woche
akademisches Konzert im vollgerammelten Volkshaussaal. Es wurde das
Forellenquintett gespielt, einfach hinreißend. Man war in einer anderen Welt.
Dann sah ich einen russischen Film „ Wolga-Wolga“, schauderhaft.
Meine
Wirtsleute sorgen rührend für mich und versuchen dabei, mich tüchtig übers Ohr
zu hauen, indem sie meine Seife und Seifenpulver unterschlagen, an meine Bücher
gehen, selbst im Gemüse schwimmen, während es auf meine Marken angeblich nichts
gibt. Obst haben sie auch, und ihr russischer Kapitän bekommt in meiner
Gegenwart sofort einen Teller Beeren, während man mir nichts anbietet, trotzdem
ich den Sohn mit meinem Verbandszeug verbunden habe.
5.8.1946
Ich lebe
immer bloß vom Wochenende zum Wochenende. Was dazwischen liegt ist unbedeutend.
Vorigen Sonnabend ging es ganztägig mit Tilde nach Großfahner, wo wir bei
Fleischmanns einen Ztr. Kartoffeln holten und 20 M, 2 Zigarillos, 3 Paar
Kindersocken hinbrachten. Aber noch 2 Pfd. schöne Pflaumen gab es auch, und
verlangt hatte Frau F. überhaupt nur 10 M. Da wir aber bei Fleischmann in
Gierstädt 20 M an wildfremde Leute bezahlten und „unser“ F. immer recht zuverlässig
war, gab Tilde großzügig 20 M. Mit Aussicht auf Birnen und Körner. Auf dem Weg
von Gierstädt nach Hause trafen wir meine frühere Sekretärin, Frl. Volknant mit
ihrem 3.Verlobten (2 sind gefallen), in 3 Wochen heiraten sie. Vor 14 Tagen war
sie bei uns, um mir zu sagen, daß die Mitropa Ingenieure einstelle.
Gerd und Paulchen
spielen nach wie vor Ritter und Helden. Übrigens machen sich die Jungens jetzt
laufend Königskronen aus Pappe und tragen sie auch noch dauernd. (Hoffentlich
nimmt kein fanatischer Kommunist an diesen monarchistischen Regungen der
Kinderseelen berechtigten Anstoß!)
Am
Sonntagfrüh trinken wir immer so gemütlich im Sonnen-durchleuchteten
Herrenzimmer Kaffee. [also wohnt der russische Oberst nicht mehr hier].
Sonntagvormittag fuhr ich mit den 2 Buben nach Boilstedt wegen
Bohnen oder anderem Gemüse, nichts. Aber wir tranken eine Brause, was für die 2
Ritter bereits die Erfüllung aller Wünsche bedeutete, und dann war das Wetter
so schön, dass die Fahrt ein Vergnügen war, zumal wir beim Nachhauseweg von
Herrn Wagner aus seinem Garten 3 Krautköpfe kriegten.
4.10.1946
Anfangs
dieser Woche bin ich umgezogen. Frau Pichler hat mir gekündigt, angeblich weil
ihr Neffe hier studieren will. In Wirklichkeit, weil sie spitz gekriegt hatte,
dass ich ein Zimmer suchte, ohne mich allerdings bis dahin entschließen zu
können. Nun wohne ich im Kernbergviertel auf luftiger Höhe. Und dann habe ich
heute vor 2 Wochen meine große Aufgabe bekommen: Terminjäger fürs
Contax-Programm. Der Geschäftsleitung für alles verantwortlich. Ich muß sagen,
dass ich schwere Sorgen hatte und habe. 1. liegt mir diese Arbeit nicht. 2.
sind die Termine bereits ein paar mal hinausgeschoben. 3. sind schon ein paar
Leute ausgestiegen. 4. steht im Hintergrund der Russe. Und gewaschenes Kind
scheut das Wasser.
Einmal waren
wir auf dem Inselsberg und nahmen außer unseren Kindern auch noch Swetlana mit.
Es ist die Tochter des russischen Obersten, der bei Spittels in unserem Hause
wohnt. Es ist ein freundliches, hilfsbereites Mädchen von ca. 8 Jahren, das
viel mit Margrit und den Jungens spielt und schon schön deutsch spricht. Für
Herrn Oberst ließ ich bei Carl Zeiss ( CZ ) ein Mikroskop reparieren und kaufte
verschiedenes für ihn ein: Botenlohn ½ Ltr. Oel und zwei Brote. Zigaretten
stehen noch in Aussicht.
Einmal waren
wir an einem herrlichen Sonnentag auf dem Hörselberg. Ich bekam in Jena Platten
und fotografierte mit meinem uralten Plattenapparat eifrig. Zwei oder dreimal
waren wir im Waltershäuser Schwimmbad, und verschiedentlich haben wir Ähren
gelesen, wofür Tilde dann Brot eintauschte. Ein mühseliges Geschäft! Und noch
zwei Mühlburgtouren machten wir. Eine war herrlich an einem sommerlich warmen
Tag, an dem es sich wundervoll auf der Autobahn fuhr. [Das war mit Rädern
möglich auf den erst halbfertigen Abschnitten der Autobahn] Den Kindern machten
die Touren immer große Freude, und vor allem das Herumklettern in dem
Burggemäuer war herrlich.
Meinen
früheren Polier, Armin Beutler in Illeben, besuchten wir an einem
Sonntagmorgen. Einen ganzen Spankorb Falläpfel und fast ebenso viel Zwetschen
sammelten wir. Der Segen war unwahrscheinlich groß und musste von in ihrer
Arbeit gestörten Felddieben hergekommen sein. Armin war geizig. Tilde war
mehrmals in Friemar und hatte auch Erfolge mit Gemüse und Kartoffeln. Ich
graste Emleben ab, bei allen alten Kunden war nichts zu machen. Besonders
empörend fand ich, dass Fritz Zenker nicht ein Ei und nicht eine Kartoffel
rausrückte. Aber eine gute Seele in Gestalt einer früheren Arbeiterin, Lisa
Baumbach geheißen, fand sich, die mir schon 2 ½ Ztr. Kartoffeln gegeben hat.
Nun war auch
das diesjährige Vogelschießen. Weil es Frieden ist, dauerte es gleich 2 Wochen,
und nichts war billiger als 20 Pf., manches kostete auch 30 oder 50 Pf. Die
Kinder waren 3x dort, einmal allein, einmal mit uns Alten und einmal mit Oma.
Letzten
Sonntag wollten wir bei herrlichem Herbstwetter noch einmal in den Thüringer
Wald. Da die Waldbahn [Überlandstraßenbahn] überfüllt war und nicht hielt,
gingen wir auf den Krahnberg.
Paulchen kam
am 1.9.46 zur Schule. Liebenswürdigerweise hatte General Kalasnitschenko für
jeden Schulanfänger aus unseren Beständen 5/4 Pfund Zuckerwaren gestiftet.
Wir mussten
übrigens der kleinen Räuberbande die letzten 4 Wochen vor der Ernte den Zutritt
zum Garten verbieten, da sie mit ihren zahlreichen Freunden und Freundinnen
reichlich Obst plünderten.
8.10.1946
Weil wir
jetzt schon im 2. Friedensjahr sind, bekommen wir nur noch 2 Ztr. Kartoffeln
zum Einkellern. Es wird jedes Jahr schlimmer. Den Tiefpunkt im „Wiederaufbau“
haben wir offenbar noch lange nicht erreicht. Ich glaube, in diesem Jahr ist
noch kein Wochenende da gewesen, an dem ich nicht Sonnabend oder Sonntag mit
dem Rad auf Tour wegen Kartoffeln, Gemüse oder Obst war. Herr Spittel wurde
vorige Woche, als er mit 2 Säcken Kraut auf dem Rad von Goldbach nach Hause
fuhr, von 2 Russen überfallen, die ihm sein Fahrrad unter Bedrohung mit einem
Dolch wegnahmen. Hier in Jena habe ich sein 2. Rad und habe auch damit verschiedene
Fahrten gemacht, um die weitere Umgebung von Jena kennen zu lernen. Nach
Möglichkeit kaufte ich, wenn Leute gerade auf dem Feld beschäftigt waren,
Kartoffeln, Gemüse und „Saale-Zwetschen“ ein. – Tilde war vorige Woche mit dem
Handwagen und allen 3 Kindern in Emleben zum Kartoffelnstopfeln. (d.h.
nachroden und lesen). Sie bekamen über 3 Ztr., allerdings weniger durch
Stopfeln als durch den annehmbaren Preis von 30 M/Ztr. und Rauchwaren. Hier in
Jena habe ich nun Gr. 2 bei den Lebensmittelkarten, das sind 450g Brot, 40g
Nährmittel, 25g Zucker, 50g Fleisch, 30g Fett, 30g Marmelade pro Tag. Ein
schwacher Trost für mein Strohwitwerleben. Meine neue Bude liegt in der Nähe
von Russenkasernen, aus denen bis in die späte Nacht hinein vollkommen
übersteuerte Lautsprecher grässlich verzerrte Musik in die Gegend hinaus
brüllen. Leider war das gerade bei der Besichtigung des Zimmers nicht der Fall,
sonst hätte ich es nicht genommen.
4.11.1946
Meine
Ahnungen und mein Unbehagen bei Übernehme der neuen Aufgabe! Am 22.10. wurden
frühmorgens um 4 Uhr ca. 300 Mann von Zeiss und Schott aufgeladen, die Familien
und Möbel mit, dann ging’s zum Bahnhof, wo geheizte D-Zugwagen und für die
Möbel je ein Güterwagen bereit stand. Mittags kam das Todesurteil für Jena:
Demontage! Leider läuft das Contax-Programm weiter, und da man meinen Vorgänger
und einen weiteren wichtigen Mann von Zeiss Ikon verhaftet bzw. deportiert hat,
bin ich jetzt der 1. Mann an der Spritze. Hätte ich doch damals den Auftrag
nicht angenommen, wie ich erst wollte. Zuerst war alles wie gelähmt. Einen Tag
später fuhr ich nach Gotha, kam gegen 23 Uhr dort an und fuhr andern früh um
4.40 Uhr schon wieder nach Jena. [Erinnerungen: In Gotha zu Hause war das
zentrale Thema: Soll ich in den Westen flüchten? Die Phantasie ging bei meiner
pessimistischen Einstellung noch weiter: Würden die Russen in diesem Falle
vielleicht Tilde erpressen: „Du Mann zurückholen oder Du mit Kinder allein nach
Sibirien.“ Tildes Meinung war energisch: „Wir bleiben zusammen, auch wenn wir
nach Russland geholt werden. Meine Angstpsychose war so groß, daß ich jeden
Morgen vom Fabriktor in meinem Büro anrief und fragte, ob auch niemand in der
Nacht geholt worden sei. Mehrere Nächte schlief ich nicht in meinem Zimmer,
sondern in der Wohnung eines Zeiss-Mitarbeiters.] Dann versuchte ich auszusteigen [aus der Fa.
CZ]. Leider ohne Erfolg. Am Wochenende ergaben sich neue Perspektiven bei der
Berufsschule durch den treuen Kürschner. Montag früh „Aufnahmeprüfung“ und
dann sofort Anstellungsschreiben als Gewerbelehrer. Alles schön und gut, aber
in Jena kam ich nicht frei. Mit eisernen Klammern, schlimmer als bei den Nazis,
halten sie einen fest: Befehl der Russen: keine Kündigungen und Entlassungen.
Aus der Traum von der Schule und vom Absetzen eine Minute vor 12. Nun steure
ich bzw. wir, denn Tilde will auf jeden
Fall mit, rettungslos auf die Deportation zu. Vorige Woche machte ich am
Donnerstag eine Dienstreise auf dem Lastwagen nach Erfurt und Gotha mit. Dabei
schaffte ich schon Kartoffeln, Briketts und Gemüse nach Hause. Ich mußte hinten
auf der Ladefläche sitzen. Das war nicht schön, deshalb blieb ich in Gotha.
Dort gab es den schlimmsten seelischen Kampf, den ich jemals auszufechten
hatte. Und dann kam noch Anni Maelzer, und da war ich eigentlich schon entschlossen.
[Ich vermute, entschlossen nach dem Westen abzuhauen.] Aber dann blieben Tildes Argumente stärker:
treiben lassen. Sonntag feierten wir meinen Geburtstag im Voraus, da es nicht
sicher ist, ob ich nächsten Sonntag zu Hause sein kann. Denn es wird ja wohl
bald Sonntag gearbeitet werden. Und diese gleisnerischen Reden im Radio, wo’s
jeder miterlebt hat! Es ist der nackte Hohn.
14.11.1946
Die Arbeit
am Contax-Programm und Demontage geht weiter, beides auf hohen Touren. Seit
gestern ist nun täglich ein „Appell“ aller Contax-Leute in der „Reichskanzlei“,
das ist der große Sitzungssaal bei Dr. Schrade. Der ist unnahbar wie ein
kleiner Herrgott. Ich konnte jedenfalls noch keinmal zu ihm vorstoßen und wurde
immer nur von der eingebildeten, aufgeblasenen Sekretärin abgefangen. Ich zapple
wie eine Fliege im Spinnennetz, je mehr ich mich wehre, umso fester halten mich
die Fäden. Und unaufhaltsam geht es im Sog dem Strudel entgegen. Nun bin ich
schon fast täglich mit den Russen zusammen. Gestern sagte Herr Ing. Safanoff,
als die Rede war von den Schwierigkeiten, zwei neue Spezialisten aus Dresden
herbei zu holen, man würde den Leuten die Versicherung geben, daß sie nicht
nach dem Osten verschickt würden! Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und
wenn er auch die Wahrheit spricht.
Jetzt
bekomme ich dauernd Besuch von Leuten, die neugierig sind bzw. Anteil an meinem
Schicksal nehmen, z.B. Hühnerjäger, Wundes, Kürschner. Auch eine ganze Reihe
besorgter Briefe sind eingegangen, von Tante Else, Onkel Max, Elisabeth aus der
Schweiz sogar. Die Sache hat Gottseidank recht viel Staub aufgewirbelt, sodaß
man einen leichten Hoffnungsschimmer hat. Trotzdem kommen ganz tiefe
Depressionen und vor allem die bohrenden Zweifel über eine Entscheidung, die
das ganze zukünftige Leben bestimmt und die doch nur ein blindes Tappen nach
mehr oder weniger stichhaltigen Gründen und Gegengründen bedeutet. Tilde ist
nach wie vor bestimmt für Zusammenbleiben, komme was wolle. Also trafen wir
schon alle möglichen Vorbereitungen für die wahrscheinliche Reise nach dem
unheimlichen Erdteil: Es wurde eine Liste aufgestellt, welche Möbel mitgehen,
was verkauft wird und welche Sachen in das Wagenabteil mitzunehmen sind. Nach
und nach beginne ich mich auch ins Unvermeidliche zu schicken, wenn ich auch
manchmal wild nach einem Ausgang aus der Falle, in der ich mich gefangen habe,
suche. In Jena ist das noch nicht einmal so schlimm wie in Gotha. Hier gehe ich
oft aus, um mich abzulenken.
Seit langer
Zeit spielte ich auch mit Tilde mal wieder Mozart-Sonaten. Das macht mir große
Freude und lenkte mich von dem immer auf einen Punkt gerichteten Gedankenwirbel
ab. Überhaupt befand ich mich die letzten vier Wochen in einer
Nervenanspannung, die bald nicht mehr zu ertragen war. Meine Eltern sind
natürlich auch sehr gedrückt, da wir uns bei einer etwaigen Deportation ja
voraussichtlich nie mehr wieder sehen würden. Ich staune übrigens, wie Opa die
Schicksalsschläge trägt. Wie auch im vorigen Jahr, als mich erst die Russen
verschleppten und später die Polizei mich ins Gefängnis steckte. Opa ist
wirklich zu bewundern. Dabei nehmen seine körperlichen Kräfte immer mehr ab,
sodaß ich befürchte, daß er nicht mehr lange mitmachen wird.
Außer in
Emleben war Tilde auch noch mal mit dem Handwagen zusammen mit Oma und Paulchen
in Metebach und holte dort ein paar Ztr. Kartoffeln. Es war eine
anstrengende Fahrt, aber sie lohnte
sich. Beachtlich die Laufleistung des kleinen Paulchen, denn Tilde wählte für
Hin- und Rückfahrt die Asphaltstraße über Aspach [zus. 20 km].
Als ich vor
1½ Monaten mein möbliertes Zimmer in
Jena wechselte, konnte ich leider feststellen, dass in der jungen Demokratie
der Amtsschimmel nicht etwa dürrer geworden ist, im Gegenteil, er feiert
Orgien. Zunächst einmal gibt es polizeiliche An- und Ummeldeformulare in
keinem der 3 Papiergeschäfte, die ich aufsuchte. Nur im Einwohnermeldeamt zu
haben. Also gut, man geht, da das Amt natürlich nur vormittags auf ist, wie
alle Ämter, während der Arbeitszeit hin und kauft die Formulare. Dann geht man
nach Hause und hat vom Vermieter unterschreiben zu lassen. Danach zum
Arbeitsamt abstempeln. Vorher zum Wohnungsamt die Genehmigung zur Mietung
des neuen Zimmers einholen. Kann erst nach Vornahme einer Lokalbesichtigung
erteilt werden. Dann noch Ernährungsamt, wobei zunächst eine Ummeldebescheinigung
der zuständigen Stadthelferin benötigt wird. Und dann mit allem zusammen
endlich aufs Einwohnermeldeamt zur eigentlichen polizeilichen Meldung. Leider
hatte die Stadthelferin vergessen, auf dem Ummeldeschein zu vermerken, dass sie
mir keinen Kartoffeleinkellerungsschein gegeben hatte. Also noch mal hin. Auf
dem Ernährungsamt glaubte man aber meiner Sekretärin nicht, dass ich als Gruppe
2 Anspruch auf 2½ Ztr. hatte und gab ihr nur 2 Ztr. Denn leider hatte das die
Stadthelferin auch noch vergessen zu vermerken, dass ich Gruppe 2 bin. Nochmal
hin zum Ernährungsamt, wobei dann der Überweisungsschein für die neue
Stadthelferin nebst dem polizeilichen
Anmeldeschein-Duplo endgültig verloren ging und also beides neu zu beschaffen
ist.
2.1.1947
Alfred Mendrim
aus Ingersleben hatte zum Weihnachtsfest einen Stallhasen versprochen. Leider
wurde es damit nichts, da man ihm alle Karnickel gestohlen hat. Es geht
übrigens bei uns hoch her, neulich erlebte ich in Weimar auf dem Bahnhof einen
Raubüberfall in unserem Abteil mit, und ein Meister von Zeiss erzählte mir, wie
kürzlich 3 Russen nachts in seine Wohnung drangen und mit vorgehaltenen
Pistolen fast alle Kleider von ihm und seiner Frau raubten.
Natürlich
war auch der Nikolaus in Gestalt von Herrn Spittel wieder gekommen. Es war
wieder eine volle Stube, die sich versammelt hatte: Großeltern, Gutsches, Frau
Spittel, Swetlana und ihr Vater, der Oberst, und noch ein kleiner Russenbengel.
Der Sack vom Nikolaus war sehr voll, wenn auch Nüsse und Pfefferkuchen ganz
fehlten. Aber Zuckerzeug, Äpfel und ein wenig Spielzeug gab es doch. Mir
brachte er das lang ersehnte politische Unbedenklichkeitszeugnis.
Die Kinder
hatten sich, Zeichen der Zeit, zu Weinachten auch Brot gewünscht. Jedes bekam
ein Laibchen. Paulchen futterte es trotz Abendessen, Plätzchen und Bonbons
schon am Heiligen Abend zur Hälfte auf, indem er einfach so hinein biss. - Zu
Weihnachten gab es wieder eine Sonderzuteilung, 500g Mehl und 250g Zucker.
Dafür verloren die Reisemarken ihre Gültigkeit am 24.12., was in der Zeitung
dann am 28.12. veröffentlicht wurde.
21.1.1947
Heute sollte
die Schule wieder anfangen. Die Kinder wurden aber wieder nach Hause geschickt,
weil wieder große Umwälzungen im Gange sind: eine neue Entnazifizierungswelle ist
im Gange, und nun sollen die letzten Nazis, auch alle die nur in Formationen
waren, noch aus ihren Ämtern und Stellungen hinaus geworfen werden. Vielleicht
muß dann Tilde, weil sie in dem „verbrecherischen“ Frauenwerk war, auch daran
glauben. Und bei Opa und Lotte sieht es auch kritisch aus.
28.2.1947
Bis heute
hat die furchtbare Kälte, die etwa am 15.12.46 einsetzte, angehalten.
Dazwischen nur 2 oder 3 Tage, wo es milder war. Sonst aber beinahe jeden Morgen
minus 15 oder 18 Grad. Gerade wo die Bevölkerung so wenig Brennmaterial hat,
bedeutet das eine entsetzliche Not für
viele Menschen. Der Schulbetrieb ruht fast ganz. Die Kinder gehen nur täglich
hin, um die Aufgaben, die sie zu Hause machen sollen, in Empfang zu nehmen.
Tilde bringt dann öfters einen Stoß Hefte mit, und ich helfe ihr dann die
Rechenaufgaben zu korrigieren. Heute war sie übrigens wegen mir beim Schulrat
Senff. Denn durch die neue Entnazifizierungswelle ist eine Anstellung von mir
als Gewerbelehrer nicht mehr möglich, weil ich ja mal in der SA war. Er hat sie
auf April vertröstet. Und heute scheide ich auch offiziell aus der Fa. CZ aus.
[Wie die letzten Wochen davor verliefen, steht im folgenden Absatz.]
[
Erinnerungen: In Gotha nahmen alle Bekannten regen Anteil an meinem
Geschick. Da kam Hilfe von unserem alten Hausarzt und
Streichquartett-Bratscher Dr. H.: „Ich
habe Sie doch früher mal wegen eines Magengeschwürs behandelt. Sie kennen doch
die Symptome. Ich schreibe Sie jetzt krank und Sie bleiben zu Hause.“ Nach 4
Wochen mußte ich zum Vertrauensarzt, und der schrieb mich gesund. Also zurück
in die Höhle des Löwen.] Am Dienstag (18.2.) früh ging’s wieder 3 Uhr aus
den Federn und 4.36 ab Gotha. Bis Erfurt brauchten wir „nur“ 4 Stunden und bis
Jena nur 12, das heißt also, in Jena war ich gegen ½ 5, so daß es sich an dem
Tag nicht mehr lohnte, ins Geschäft zu gehen. In meiner Bude war es eisig, ich
hatte vorsichtshalber meinen Schlafsack mitgebracht, der vorher in der
Kemnitzschen Wohn- und Schlafstube angewärmt wurde, außerdem bekam ich einen
angewärmten Originalziegel mit ins Bett. Am Mittwoch, als ich mich wieder
zurückmeldete, fragte ich gleich wieder wegen meiner Kündigung. Ich führte noch
an, dass ich jetzt weiter Diät halten müßte, was beim Werksessen nicht möglich
sei. K.M. wollte mich erst noch bis Ende März halten, aber ich ging dann gleich
zu Dr. Schrade. Und mittags bekam ich dann Bescheid, dass ich aufhören könnte.
Opa geht es
nicht besonders gut. Da es nun ziemlich fest steht, dass er als alter Nazi die
Praxis entzogen bekommt, entschloß er sich, die Praxis jetzt freiwillig
aufzugeben, um den Entnazifizierungsfanatikern zuvor zu kommen. Oma fuhr Mittwoch
nach Weimar, um dort alles Nötige zu veranlassen. Jetzt haben sie natürlich mit
ihrer Wohnung Sorge, wie sie 1 oder 2 Zimmer vermieten. [In ihrer 4½-Zimmerwohnung
waren bis jetzt 2 Zimmer für die Praxis reserviert, eines als Sprech- und ein
anderes als Wartezimmer. Angesichts des Wohnraummangels konnten sie gezwungen
werden, mindestens ein Zimmer zu vermieten, was dann später auch geschah.]
Die
allgemeine Kohlenknappheit zwingt auch zu drastischen Stromsparmaßnahmen. Mal
ist der Strom bis abends ganz weg, dann wieder heißt es, es darf nur noch 40%
der bisher zugestandenen Haushaltquote verbraucht werden, dann heißt es, in
einer Woche dürfen nur die Häuser einer Straße mit geraden Hausnummern Strom
verbrauchen, in der nächsten Woche umgekehrt. Und jetzt wird der Strom
überhaupt allnächtlich von 22.30 bis 5.30 abgeschaltet. Abwechselnd machen die
Bäcker zu, und vor den geöffneten Läden stehen Schlangen bis zu 100 Leuten um
Brot. Also ganz dasselbe wie im Rheinland, was hier vor ein paar Monaten mit
Genugtuung vermerkt wurde. Vorige Woche bekamen wir von Tante Wallasch 2 Pfd.-Päckchen mit Pumpernickel, was großen
Jubel auslöste.
11.3.1947
[Tildes
Geburtstag am 9.3.] Zum Kaffee kamen die Eltern, und es gab einen trockenen
„Eldesan-Kuchen“, eine köstliche Ersatzschlagsahne und einen feinen
Streuselkuchen, außerdem noch eine Stachelbeer-Torte. Diese Vielfalt der
Genüsse ließ folgenden Ausspruch entstehen: „Fast so wie im Kriege“. Abends
hatten wir Becks eingeladen, die
Räumlichkeiten stellten die Eltern zur Verfügung, und zwar aus einem ganz
besonderen Grunde: seit Mitte voriger Woche ist in Gotha allgemeine
Stromsperre. Die Zähler wurden abgelesen, und dann hieß es, es darf nichts mehr
verbraucht werden bei Androhung schärfster Strafen. Den Strom ganz einfach
abzuschalten ging nicht, da ja die Russen in ihrem manchmal recht großzügigen
Stromverbrauch in den Wohnungen nicht behindert werden durften. Aber die Ärzte
durften eine beschränkte Menge verbrauchen, und so gingen wir abends, wenn die
Kinder bei Kerzenbeleuchtung ins Bett gebracht worden waren, eben immer zu den
Großeltern.
Vor ein paar Tagen stand in der Zeitung,
dass jetzt eine größere Bande von jungen Deutschen verhaftet werden konnte, die
in russischen Uniformen mit Handfeuerwaffen Überfälle verübten.
7.4.1947
Und nun die
Hauptsache: seit dem 17.3. habe ich wieder eine Stellung. Zwar nicht als
Bauarbeiter, wie es erst als wahrscheinlich galt, da ich bei allen Maschinenfabriken
nur Achselzucken fand. Aber als Ladenschwengel, d.h. Verkäufer bei Fa. Carl
Grübel am Hauptmarkt. Ich bin da im
„Tauschring“ beschäftigt. [Erinnerungen: Der „Tauschring“ war ein
Zusammenschluß von ½ Dutzend Geschäften: Eisenwaren, Kleider, Schuhe,
Küchengeräte. Der Tauschring gab für abgegebene Sachen Gutscheine aus,
gewissermaßen Privatgeld, mit dem man in allen Geschäften, die dem Tauschring
angeschlossen waren, notwendige Dinge kaufen konnte, wenn andere Leute sie hier
abgegeben, d.h. gegen Gutscheine verkauft hatten.] Es ist eigentlich sehr
interessant und vielseitig. Und die Zeit geht meistens wie im Fluge herum, da
ein sehr starker Andrang ist. Nicht eine Minute komme ich zum Sitzen, es ist
ziemlich anstrengend. Aber was ich erst für ein Gehalt kriege! Sage und
schreibe 140 M. Ich selbst bin auch schon vom Tauschfieber erfasst und habe
Haarschneidemaschine, Rasiermesser, Klingenschärfapparat gegen Hobel und Schränkzange
eingehandelt. Der ganze Tauschring ist übrigens ein beredtes Zeugnis unserer
traurigen Zeit eines unaufhaltsamen Niedergangs. [Der Mangel war universell,
daher konnte jede Ware als Tauschartikel dienen, besonders dann, wenn sie zum
Leben wichtig ist. Auch im privaten Bereich war der Tausch von Ware gegen Ware
üblich.]
[Geburtstag
von Gerd am 6.4.] Beim Festessen (früher als zweit-oder drittklassiges
Alltagsessen bezeichnet) waren wir alle vereint. Es gab Serviettenkloß,
Rotkraut und Gulasch mit mikroskopisch kaum erkennbaren Mengen von Fleisch. Zum
Kaffee kamen noch ein paar Freunde von Gerd, wo das Fest durch ein paar
besonders bittere Torten und Kuchen seine Krönung fand.
Pfingsten,
25.5.1947
Wir sind zu Hause geblieben,
früher eine undenkbare Sache. Aber das Wetter war auch nicht so verlockend und
dann die katastrophalen Verkehrsverhältnisse: Auf manchen Strecken nur
jeweils morgens und abends ein Zug, die Waldbahn überfüllt.
12.6.1947
Gestern früh
mähte ich mit Sense, Sichel und Maschine das Gras im Garten, Das Heu sollen
unsere Karnickel bekommen, die wir uns anschaffen wollen. Vorläufig sammeln
und trocknen wir erst Kartoffelschalen, ebenso das Stroh, was ich von
Friedrichs holte und das, was wir vor ein paar Tagen auf der Straße auflasen,
als ein voll bepackter Wagen mehrere Bund gerade an der Ecke Kaiserstraße
verlor. Da kamen aber die Leute aus allen Häusern wie die Ameisen angewetzt, um
die Beute zu bergen.
Vor 8 Tagen
haben wir mal unseren Kartoffelvorrat gewogen. Bestand 190 Pfd. Täglicher
Verbrauch 10 Pfd., also sind wir in 3 Wochen blank, wie jetzt schon viele
Leute. Darauf wurde sofort die Tagesration auf 50% gekürzt und wieder die
„beliebte“ Kartoffelschalensuppe eingeführt. Man kann sich nun also auch an Kartoffeln
nicht mehr satt essen. Morgens, mittags und abends steht man hungrig vom Tisch
auf. Und worin besteht nun unser Fraß eigentlich noch, wo es auch fast kein
Gemüse mehr gibt? Seit 14 Tagen jeden Abend Kartoffeln und Salat. Den Schnittsalat
liefert glücklicherweise unser Garten, natürlich wird er ohne Oel und Zucker
angemacht. Und das im 3. Friedensjahr! Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen.
Glücklicherweise haben wir noch ein paar Pfund Weizenkörner, die wir im Herbst
gestoppelt haben, und außerdem haben wir von Ernst Paasch als Gegenleistung für
ein paar Damenhalbschuhe ½ Liter Öl und einige Pfund Leinsamen bekommen. Den
mahlen wir nun in unserer neuen Schrotmühle, und Tilde macht Vor- und
Nachtischsuppen davon..
[Ein
beliebter Kinderspielplatz im Hof war der Sandkasten, und am schönsten war
dort das Spiel mit Wasser.] Einmal bei einer Talsperrenfüllung waren wohl über
1 Dutzend Kinder da, machten ein Geschrei für 2 Dutzend und verursachten einen
fürchterlichen Dreck. Als erprobtes Mittel wendeten wir für alle Nachbarschaftskinder
ein 8-tägiges Verbot unseres Gartens und Hofes an. Das passte aber unserer Frau
Oberst nicht, denn nun mußte ihre Tochter Swetlana zu ihren Freundinnen, den
Mädchen von Grieses, gehen und nicht umgekehrt. Als sie Gerd, der Swetlana vom
Rasen gejagt hatte, anfauchte, mischte ich mich ein, worauf ich dann mein Fett
abbekam. Ich kam überhaupt nicht zu Wort, so schrie Frau Oberst, schließlich
wendete ich mich einfach ab, worauf sie wütend hinter mir her spuckte. Jetzt
sind sie ausgezogen, nach fast einem Jahr. Ein ganzes Lastauto wurde mit
Koffern, Kisten, Möbelstücken und Sachen voll gepackt, dann ging’s nach Torgau.
Als sie hier ankamen, hatten sie fast nichts mit.
26.6.1947
Wieder ein
bedeutendes Ereignis: der große Schritt zum Lehrberuf ist getan, nachdem die
Sache schon fast aussichtslos erschienen war. Gestern hatte mich Herr
Studienrat Zacharias zu sich bestellt. Von seiner Handelsschule kommen 3 Lehrkräfte
weg, u.a. auch Kollege Kürschner. Nun ist Holland in Not und auch meine kurze
SA-Zugehörigkeit kein Hindernis mehr. Sicherheitshalber hat Zacharias auch noch
mit Prof. Riesenbürger aus Weimar gesprochen, und es bestehen dieserhalb keine
Bedenken mehr. Ich soll also an die Handelsschule kommen und einen Teil der
Stunden von Kürschner übernehmen, nämlich Mathematik und ….Erdkunde [in den
Erinnerungen schreibt er: Wirtschaftskunde. Weiter heißt es dort: Direktor
Zacharias machte mich darauf aufmerksam, daß im Thronsaal von Schloß
Friedenstein jetzt ein einjähriger Kursus anfinge zur Ausbildung von
Berufsschullehrern. Ich sollte den Kurs mitmachen, er würde meine
Wochenstundenzahl abmindern und so legen, daß ich die Vormittage zu den
Vorlesungen auf’s Schloß könnte. Nun begann eine herrliche Zeit: Vormittags
Vorlesungen, Mittagessen zu Hause und dabei eifrig diskutiert und über die
Vorlesungen berichtet. Was konnte ich mir für eine bessere Mentorin wünschen
als meine geliebte Tilde, die eine tüchtige, bei Kollegen und Schülern beliebte
und geachtete Lehrerin war. An anderer Stelle erwähnt er noch, dass er
durch den Status als Studierender die Lebensmittelkarte 2 bekam, während er als
reiner Lehrer nur die schlechtere Karte 3 bekommen hätte.]
Und noch ein
Ereignis: am 24.6. bekamen wir Familienzuwachs, nämlich ein schneeweißes Karnickel
von Dr. Sieburg. Schon tagelang vorher hatte ich an einem feinen Stall mit „Wasserspülung“, nämlich
doppeltem Boden und Urinabfluß, Kuchenblech etc. gearbeitet. Die Kinder sind
natürlich begeistert und möchten es am liebsten dauernd streicheln.
[Über eine
Fahrt nach Gierstädt:] Gestern hatten wir einen schlechten Tag, nachdem er sich
erst so schön angelassen hatte, denn ab Molschleben nahm uns ein Lastauto bis
Gierstädt mit. Dort mußte ich gleich Tildes Rad wegen eines Nagels flicken.
Abends noch einmal. Auf der Plantage von Hildebrand bekamen wir nicht eine
Kirsche. Nach vielen vergeblichen Anläufen durften wir bei einem Pflücker
wenigstens das aufheben, was runter gefallen war. In Gierstädt selbst bekamen
wir 4 Pfd. gegen eine Zigarre und 2 M. So brachten wir wenigstens noch
etwas für die Kinder mit. Und „schon“ 23.30 waren wir zu Hause. Aber es ist ja
immer lange hell, wo die Uhr gleich zwei Stunden vorgestellt ist. [Sommerzeit!]
Und früh geht es immer gegen 6 Uhr raus, da arbeite ich noch ein bisschen im
Garten, weil ich sonst nicht dazu komme.
12.8.1947
Seit 8 Tagen
leben wir ohne Mutti. Tilde ist am 4.8. nachmittags abgefahren, um ihre Eltern
in Offenbach zu besuchen. Am Donnerstagnachmittag kam das sehnlichst erwartete
Telegramm mit folgendem Wortlaut: „Tochter angekommen Wilhelm Fuhr“, da atmete
ich auf. Denn man erzählt sich, dass an der Grenze die deutsche Polizei
schlimmer als Russen und Amerikaner sei, und dass auch die Amis Frauen ohne
weiteres 8 Tage einbunkern, wenn sie ohne gültigen amerikanischen Paß
angetroffen werden. [Über den abenteuerlichen illegalen Grenzübertritt gibt es
einen detaillierten Bericht von Mutti.]
Am nächsten Tag gingen wir, d.h. Oma, Gerd und ich nach Metebach zum
Ährenlesen. Ca. 15 Pfd. haben wir den ganzen Tag, der mittags durch ein
Gewitter und ein schönes Mittagessen beim Bauer Schmidt unterbrochen wurde,
gesammelt. Wir waren aber auch abends erledigt, denn schon um ½7 fuhren wir mit
den Rädern los und erst gegen 20 Uhr waren wir zu Hause. [So ging das tagelang
weiter bis zum Sonntag]: Sonntag hatte ich es endlich satt, immer bloß wegen
der „Fresserei“ auf Achse zu sein, und da fuhr ich mit den Kindern 6.43 nach
Eisenach. Dort tranken wir erst einmal bei Paul Noack [einem Studienkollegen]
Kakao, aber obwohl er 2 Lebensmittelkarten Gr. 1 jeden Monat hat, bot er uns
nicht eine Scheibe Brot an.
Vor 3 oder 4
Tagen hat Opa nun endlich den lang
erwarteten blauen Brief erhalten, wonach er „als aktiver Nazi zu entfernen
ist“. Er hat natürlich Einspruch erhoben, und nun geht die Sache vor die
Spruchkammer.
6.11.1947
Drei Monate
bin ich nicht zum Schreiben gekommen, ein Zeichen, wie wenig Zeit ich hatte.
Was wir aber auch in der Erntezeit geleistet haben, davon hätten wir uns in
früheren Jahren nichts träumen lassen. Wir hatten doch dieses Jahr im Sommer
jeden 2. Tag Kartoffelschalen gegessen, trotzdem wir im vorigen Herbst recht
gut vorgesorgt hatten. Dieses Jahr ist nun alles wegen der Dürre viel knapper,
besonders schlecht Gemüse. So mußten wir versuchen, durch verstärkten Einsatz
diese Naturkatastrophe wieder wett zu machen. Wir fuhren deshalb fast täglich
während 3 Wochen mit den Rädern über Land, mal hierhin, mal dahin und kauften,
tauschten und schacherten unsere Kartoffeln zusammen. Aber wie oft auch klopfte
man vergeblich an, trotzdem man den Bauern die verlockendsten Angebote machte.
Sie hatten eben wirklich nichts oder hatten schon den Perserteppich im Schweinestall,
so daß sie den angebotenen Bettbezug, das Seidentrikot-Nachthemd oder die
Kuhkette nicht mehr brauchten. Dabei hatte aber nur Tilde Ferien, ich in meinem
Institut nicht. Bei Tag hörte ich meine Vorlesungen, nachmittags oder auch erst
gegen Abend machten wir unsere Fahrten und nach dem Abendessen ging’s an die
geistige Arbeit: Referate ausarbeiten, Aufgaben lösen, Stunden vorbereiten.
Außerdem noch die üblichen Arbeiten im Garten und Keller, Karnickelstall
ausmisten, Besorgungen in der Stadt.
Die 2 Buben
müssen nun täglich mit dem Handwagen und einem Blechkasten auf die „Äpfeltour“
gehen, d.h. sie müssen Pferdeäpfel als
Dung für den Garten in den Straßen aufsammeln. Wenn wir das früher hätten tun
sollen! Allerdings drücken sich die 2 auch wo sie können. [Der Lastentransport
spielte sich damals zu einem großen Teil mit Pferdefuhrwerken ab.]
30.12.1947
Am Sonntag
haben wir zum ersten Mal Zuckerrübensaft gekocht. Ich hatte im Herbst einen
Rucksack voll gestopfelt, d.h. mühsam aus dem steinharten Boden mit dem Absatz
heraus gestochert. Im Ganzen waren es vielleicht 40 Pfd. Zum Kochen im Großen
zu wenig, zum Strecken von Marmelade zu viel.
Sonntag den
21.12. mußte ich auch noch mit 3 Berufsmusikern Streichquartett spielen. Die
Feier zu Stalins Geburtstag sollte musikalisch umrahmt werden. Anfangs wollten
die 3 Berufsmusiker nicht, weil sie gerade vor Weihnachten besonders
eingespannt sind, und da ihren Hauptverdienst haben. Aber da wurde einer zum
Kommandanten bestellt und ihm bedeutet, wenn sie nicht spielen wollten, wäre
das Sabotage und sie würden dann eingesperrt werden. Da waren sie natürlich
gleich bereit.
[Von dem
Weihnachtsfest ist als zeittypisches Detail vermerkt]: Leider wurde der
Christbaum immer nur kurze Minuten angezündet, um die Kerzen zu sparen. Denn
man weiß ja nicht, wie viel Jahre wir keine neuen bekommen.
Großvater haben
sie jetzt endgültig abserviert. Die Approbation wurde ihm entzogen. Er ist also
jetzt kein Arzt mehr, und die Polizei kam nachsehen, ob er auch sein Arztschild
entfernt hat. Bloß die Leute kümmern sich nicht darum und kommen bei Unfällen
weiter zu ihm gelaufen. [An anderer Stelle steht, dass ihm durch das
Praxisverbot auch das Telefon entzogen wurde. Telefonanschlüsse waren bis zum
Ende der DDR Mangelware.]
2.1.1948
Nun mal
etwas vom Kuchen und Backen. Sonntags gibt es auch heute noch wie im Frieden
gewöhnlich einen Kuchen. Eine Zeit lang war der so genannte Kaffeekuchen
allerseits (außer bei mir ) sehr beliebt. Damit man nicht merke, daß der Kuchen
wegen des schwarzen bitteren Mehls ganz dunkel ist, wurde in den Teig noch eine
Portion Malzkaffeepulver hineingeschüttet. Da ist dann der fertige Kuchen ganz
dunkelbraun, fast schwarz, was ihm den Namen „Kohlenanzünder“ eingetragen hat.
Mutti macht dann falsche Schlagsahne dazu, sodaß es zumindest sehr schön
aussieht und auch nicht ganz schlecht schmeckt. Die Buben müssen immer die
Kuchenbleche zum Bäcker tragen [um Heizmaterial zu sparen]. Seit einiger Zeit
verlangen aber auch die Bäcker, dass man für jeden Kuchen ein Stück Holz
mitbringt.
Vor einigen
Monaten brachte Tilde aus einer Lehrerkonferenz folgendes mit: ob ein Schüler
von der Grundschule [nach der 8. Klasse] in die Oberschule kommt wird u.a. auch
von den Parteien und dem FDGB nach der politischen Haltung der Eltern
entschieden.
Im Sommer
hatte ich die Torfgrube von Wangenheim besucht und verschiedene Vorschläge
gemacht. Wir bekamen auch ein paar Ztr. Torfbriketts. Sie sind zunächst
klitschnaß, aber nach dem Trocknen brennen sie mit Holz oder Kohle zusammen
ganz gut. Bloß sehr viel Asche gibt es.
7.2.1948
Von
Elisabeth [Muttis in der Schweiz lebende Schwester] sind nun mehrfach Pakete
eingegangen. 2 große mit Kleidern und 2 kleinere mit herrlichen Lebensmitteln,
darunter Feigen, Nüsse, Reis und kondensierte Milch. Wir waren ganz glücklich,
besonders Tilde über ein paar Schuhe für Paulchen. Jetzt kann der arme Bub
wenigstens auch bei nassem Wetter raus,
und 1 Paar von ihm wurde auch durch die Schule repariert. Ganz überraschend
erhielten wir auch von Brünings ein paar Halbschuhe für Gerd, sodaß er jetzt
nicht mehr ausschließlich mit seinen klobigen Holzschuhen, auf die ich noch
dicke Autoreifenstücke (vom Fliegerhorst! ) genagelt habe, herumlaufen muß. Margrit
hat genügend Schuhwerk von ihren älteren Brüdern.
4.4.1948
Gerd und Paul
brachten sehr gute Zeugnisse mit nach Hause. Trotzdem gebe ich Gerd fast jeden
Tag 1 – 2 Dutzend Rechenaufgaben mit
Brüchen, denn ihr Schulunterricht in den letzten Monaten war wirklich sehr
bescheiden: wenige Stunden in eiskalten
Räumen, die Kurzstunden noch verplempert mit Brötchen austeilen, Geld kassieren,
Listen aufstellen und dgl. Ich bin übrigens jetzt in den Elternrat gewählt
worden. Es hat wohl mehr symbolische Bedeutung, denn Änderungen der
jämmerlichen Schulverhältnisse werden wir auch nicht erreichen können. Es wird
überhaupt jedes Jahr trostloser mit allem. Mit der Ernährung, mit Verbrauchsgütern,
mit Strom und Gas. Schrecklich, daß so gar keine Aussicht auf Besserung
besteht. Und an allem sind nur diese verdammten Reaktionäre,
Monopolkapitalisten, Junker und Nazis im Westen schuld. So steht es wenigstens
in der Zeitung.
9.5.1948
Ich wollte
mit Herrn Jäckel, dem neuen Leiter vom Pädagogischen Institut, rüber [d.h.
schwarz über die Zonengrenze in den Westen, natürlich nur besuchsweise], aber
dann hatte ich doch Angst gekriegt, man könnte uns schnappen und uns den Russen
ausliefern. Und das wäre für mich wohl das Schlimmste, was mir passieren
könnte. Denn leider bin ich schon auf der schwarzen Liste. Vor etwa
3 Wochen kommt ein Schupo mit einer schriftlichen Aufforderung, mich auf
der russischen Kommandantur zwecks Registrierung zu melden. Schon beim Anblick
des Polizisten ahnte uns nicht Gutes, Tilde ebenso wie ich hatten sofort ein
Gefühl des Abscheus vor etwas Finsterem, Drohenden, vor einem schrecklichen
Unheil. Und so entwickelte es sich dann auch. 8 Tage später ging ich hin. Ein
Muschik [salopp für russischen Soldaten] als Schreiber und ein Zivilist.
Letzterer beruhigte gleich: „Sie brauchen keine Sorge zu haben wegen Wegkommen.
Wir wollen bloß alle Ingenieure an den richtigen Platz bringen, um den
Wiederaufbau zu beschleunigen.“ Wenn ich das schon höre, wird mir’s schlecht.
Wie viel mal sind wir so schon belogen worden. Dann wurden Fragebogen
ausgefüllt, aber wie ich merkte, waren alle Angaben überhaupt schon vorhanden,
sogar meine früheren Mitarbeiter lagen schon vor. Da wird wohl nun die große
Reise bald fällig sein, zumal bei einem Kommilitonen schon 2 Offiziere waren,
die ihm ein glänzendes Angebot machten: 5000 Rubel Gehalt, 5-Zimmerwohnung,
Urlaub, Vertrag und was weiß ich noch. Vor allem: wenn es ihm nicht gefallen
sollte, könnte er nach Vertragsablauf wieder nach Deutschland zurück. Wenn man
nun die grausige Wirklichkeit kennt und dann diese Reden hört, läuft es einem
kalt den Rücken hinunter.
20.6.1848
Endlich ist
auch der neue Karnickelpalast [d.h. ein Stall für zahlreiche Tiere] fertig, den
ich nach meinen Angaben von Fa. Schlothauer habe bauen lassen. 140 M hat
es gekostet, dazu kommen noch etliche Zigarren und Zigaretten für Dachpappe,
Teer und Nägel. Die Nägel mußte ich liefern, das kg zu 32 M auf dem schwarzen
Markt; und außerdem habe ich noch mehrere hundert Nägel mühselig aus alten
Brettern herausgezogen und gerade
geklopft. Nach der Rechnung bin ich fast noch öfter gelaufen als nach
dem Stall. Da die Währungsreform in Sicht stand, hatte ich es mit dem Bezahlen
eilig, und Schlothauer natürlich im Gegenteil gar nicht. Nun ist die
Währungsreform gestern im Westen in Kraft getreten unter vielem Geschrei von
beiden Seiten. Jeder wirft dem anderen vor, an der einseitigen Reform schuld zu
sein, und damit die endgültige Spaltung Deutschlands besiegelt zu haben. – Als
Gegenmaßnahme zum Bruch der Potsdamer Beschlüsse durch die westlichen
Alliierten schließt der Russe jetzt hermetisch seine Grenzen und verbietet die
Einfuhr der „Deutschen Mark“ und der alten Reichsmark. Und da hoffte man nun
schon seit Jahren auf das Fallen der Zonengrenzen. [Späterer Eintrag an dieser
Stelle: „Nach 42 Jahren wurden dann die Hoffnungen erfüllt, die
Wiedervereinigung kam, der SED Staat verschwand.“]
18.7.1948
Jetzt geht
wieder die Jagd nach Kartoffeln, Obst und Gemüse los. Gestern war ich in
Metebach, leider ohne mit einem Körnchen oder einer Kartoffel zurück zu kommen.
Vorgestern mit Großmutter in Gierstädt, dort bekamen wir 2 Rucksäcke und 2 Spankörbe
voll Gemüse. Vorige Woche war ich auch mit Großmutter zum Johannisbeerpflücken
in Gierstädt. Es ist erstaunlich, dass sie noch solche anstrengende Touren
durchhält [im Alter von 64 Jahren].
Inzwischen
war ja auch hier eine Währungsreform, aber praktisch hat sich am Warenmangel und Geldüberfluß und an den
Schwarzmarktpreisen nichts geändert. [Auch die Hilfsmittel zur
Lebensmittel-Beschaffung wie z.B. die Fahrräder litten unter dem Warenmangel,
denn an verschiedenen Stellen der Chronik wird erwähnt, dass Schläuche immer
wieder geflickt werden mußten und die schon weitgehend abgefahrenen Reifen
immer wieder vulkanisiert werden
mussten, weil es keine neuen gab. Ich bekam damals auf mein Jugendrad eine
pannensichere Vollgummibereifung.]
19.12.1948
Seit 21.9.
bin ich nun an der Ingenieurschule für Bauwesen als „Dozent“ tätig. Bis ich
nachträglich die schriftliche Berufung erhielt, dauerte es mehrere Wochen. Und
ich bekomme auch fast nicht mehr Gehalt als vorher an der Wirtschaftsschule.
Ich war dieserhalb Ende Oktober in Weimar, damit man mir die Berufsjahre anrechnen
möchte. Man war dazu sehr liebenswürdig bereit, aber erst später, denn augenblicklich
sei kein Geld da. – In Weimar war ich gleich beim 85. Geburtstag von Onkel
Ernst. Ich war wieder erschüttert, wie furchtbar heutzutage das Leben für alte
Leute ist. Kein richtiger Ofen, keine behaglich warme Stube, nicht genügend zum
Essen. Ich kaufte daraufhin von Blödner den Stubenofen aus unserem Schlafzimmer
und ließ ihn nach Weimar schicken.
Ohne daß wir
uns bemühten, kamen die 2 Buben zu einem 4-wöchigen Erholungsaufenthalt in
einem kirchlichen Kinderheim in Oberhof. Vor 4 Tagen kamen sie sehr befriedigt
wieder zurück, es hat ihnen gut gefallen und in mehreren Briefen schrieben sie,
dass sie sich satt essen konnten [ein längst noch nicht selbstverständliches
Vergnügen und der eigentliche Zweck der „Kur“].
Zum ersten
Mal haben wir auch Sirup gekocht. Wir machten es anders als die meisten Leute, die alles
hintereinander in einem Rutsch erledigen. An einem Nachmittag säuberten wir die
Rüben, am nächsten wusch Tilde sie, am übernächsten wurden sie in Stücke
geschnitten und am darauf folgenden Tag erfolgten dann Kochen und Saftpressen.
Einen Tag später wurde dann der Saft eingedickt. Leider setzte sich an unserem
Kupferkessel [in der Waschküche] eine ganz harte Zuckerkohleschicht an, die
wir mühselig in 8 Stunden Schrupparbeit wieder entfernten. Aber der Sirup ist
herrlich geworden.
Übrigens ist
die Bauschule geschlossen worden, hoffentlich nur vorübergehend. [Eintrag vom
29.1.49: Wieder eröffnet!] Angeblich läge keine schriftliche Genehmigung des
Ortskommandanten vor. Die sowjetische Militäradministration in Weimar hat aber
genehmigt. Und dann ist die politische Zusammensetzung der Studenten- und
Dozentenschaft nicht erwünscht. Nur 35% SED, und das, nachdem eine groß
angelegte Werbeaktion, d.h. ein sanfter Druck, statt gefunden hat. Auf einer
Konferenz am 14.12. erklärte der Leiter, Baurat Dipl.-Architekt Ortner (SED),
dass wir alle in die SED eintreten müssten, auch wenn wir jetzt anderen
Parteien angehören würden. Ich fragte darauf, ob das hieße, dass es nur die
Wahl gäbe zwischen Eintritt in die SED und Entlassung. Er darauf: „Ja, das ist
etwa so zu verstehen“. Überschrift: Freie Demokratie!
Vor 14 Tagen
kam von Familie Stock ein Pfundpäckchen Bohnenkaffee, was Tilde natürlich hoch
beglückte. Jetzt ist Päckchensperre, es darf nichts mehr herüber und hinüber
geschickt werden, gerade zu Weihnachten. Ein Glück, dass die Buben ihre Schuhe
und Lederhosen noch rechtzeitig bekommen haben.
Im Herbst
sammelten wir eifrig Bucheckern, Tilde mit den Kindern und auch mit Schülern.
Oma war auch meist dabei, und ich ging auch 2-mal mit. Jetzt bäckt Tilde eifrig
davon Plätzchen. Mit dem Ölpressen wird
es nichts, weil man da amtlicherseits zu viel beschissen wird. (Man braucht
noch nachträglich einen Sammelschein, den man aber nur nach Abgabe von einem
Pfund Bucheckern bekommt.)
26.2.1949
Ich habe
seit gestern Ferien, die natürlich restlos mit Arbeit ausgefüllt werden. Dann
kommt auch noch ein 14-tägiger politischer Zwangsschulungskurs der SED.
Außerdem wurden wir auch noch gezwungen, bei der Volkshochschule einen
gesellschaftswissenschaftlichen Kurs mit zu machen. [Dies war der hochtrabende
Ausdruck für ideologische Indoktrination]
15.5.1949
Tilde hatte
nach 5-wöchigem Laufen endlich einen Interzonenpass bekommen und war am 13.4.
mit Margrit nach Offenbach abgereist. Sie waren gut in Offenbach gelandet nach
6½ Stunden Warten an der russischen Seite der Grenze. Leider mußte sie wegen
des Schulanfangs schon nach knapp zwei Wochen wieder da sein. Dienstag den
24.4. war sie mit Margrit und zwei riesigen Koffern wohlbehalten wieder in
Gotha. Sie baute einen Gabentisch auf, dreimal so reichlich wie an Weihnachten.
Und was für köstliche Dinge: Schokolade, Kondensmilch, Datteln, Apfelsinen,
Butter, Pralinè, Schuhe, Strümpfe, Seife.
17.6.1949
Unerfreulich war die
Gesinnungsschnüffelei durch eine Kommission aus
Weimar. Über eine Stunde haben sie
mich ausgequetscht. Zuerst leichtes Geplauder über alles Mögliche, ein paar
Fachfragen, um einen auf den Leim zu führen. Dann ging’s ins Politische. „Ist
das nicht eine große Ungerechtigkeit, dass die Friedensfertigung von CZ
abgebaut, demontiert wurde?“ Ich: „Wahrscheinlich
haben wir in Rußland so viel zerstört, dass der Russe ein Recht hat, sich
schadlos zu halten.“ „Warum sind sie
in die LDP eingetreten?“ Ich: „Ich
bin nun mal in die bürgerliche Schicht hineingeboren, da liegt es doch nahe, in
eine bürgerliche Partei zu gehen.“ „Da wollen sie sich also von den Arbeitern
distanzieren?“ „Das habe ich nicht
gesagt. Aber ich weiß doch von Dutzenden Veranstaltungen, dass der Arbeiter
sich gar nicht wohl neben dem Direktor fühlt und viel lieber mit seinem Kumpel einen
Schoppen trinkt.“ „Das sind doch
alles äußere Gründe. Sie müssen doch auch aus einer Überzeugung diese
Partei gewählt haben. Warum nicht SED?“ „Ich stimme vielleicht in 90% der Ziele mit
der SED überein [eineTarnbehauptung], bloß der Weg gefällt mir manchmal nicht.“
„Uns oft auch nicht. Der Weg wäre auch 1930 oder 32 ein anderer gewesen,
wo wir eine intakte Wirtschaft hatten.“
„Und dann habe ich Angst, wenn man nicht zu jeder Versammlung, zu jedem
Schulungsabend geht, dass man gemaßregelt wird, Disziplinarverfahren. Das tut
die LDP nicht, die ist tolerant. Schon 3 Monate bin ich bei keiner
Veranstaltung gewesen (wegen kolossaler Überarbeitung durch das Ausscheiden
eines Kollegen), da kräht kein Hahn danach.“
„Bei uns ist das auch nicht so, da wird doch niemandem eine Meinung
aufgezwungen.“ [Das genaue Gegenteil war der Fall, bis zum Ende der DDR.]
Aber ich lese es ja dauernd in der Zeitung, wie Genossen gemaßregelt werden!“ „Ja, die stellen sich auch bewusst gegen
unsere Anschauungen, böswillig. - Im
Rias und Hamburger Sender habe ich jetzt gehört, dass drüben Demontagen
stattfinden. Ich glaube, die übertreiben mächtig.“ „Doch, das stimmt. Schon vor längerer Zeit
haben mir meine Verwandten aus dem Westen geschrieben, dass in ihrer Stadt eine
Seifenfabrik demontiert wird. Außerdem habe ich gehört, dass die Index-Werke
jetzt komplett in England stehen.“ (Übrigens wurde sehr viel von dem, was ich
sagte, durch eine Dame mit stenografiert!!) Meine Lederhosen gefielen den
Herren auch sehr und sie meinten, das sei auch eine Errungenschaft der Zeit,
dass das heute für einen Dozenten möglich wäre. „Wir wollen sie gar nicht in
die SED hinein zwingen, aber wir sind sicher, in 2 bis 3 Jahren stehen sie auch in unseren
Reihen, haben sie sich zu unseren Anschauungen durchgerungen, denn sie sind ja
dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen.“ „Es gibt verschieden veranlagte Menschen, das
Interesse der einen liegt beim Sport, bei der Musik, beim Film, in der Politik,
bei der Technik. Ich bin nun leidenschaftlicher Techniker und bemühe mich, dort
das Beste zu leisten. Habe auch keine Zeit, mich politisch zu betätigen. „Das
ist gerade der Fehler der Vergangenheit, daß sich die Ingenieure mit
Scheuklappen auf ihre Arbeit gestürzt hatten.“ Ich möchte fachlich das Beste leisten. „Das
wollen wir gar nicht (!), den jungen Menschen muß auch politisch etwas gegeben
werden. Was haben wir für eine Verantwortung gegenüber den
Studierenden.“ „Jeder soll dort was
leisten, wo seine Interessen liegen. Ich kenne keinen Politiker von Format, der
ein bedeutender Ingenieur ist, umgekehrt werden Sie nie einen hervorragenden
Ingenieur finden, der auch Politiker wäre.“ „Oh, doch, z.B. Kunze (…?), das
ist auch ein ganz bedeutender Ingenieur“ und der andere: „Da haben Sie sich
ja glänzend herausgeredet.“ Zum Schluß noch einige freundschaftliche
pädagogische Ratschläge: Den Schülern nicht so viel Hausaufgaben, ab und zu
(!) Schüler an die Tafel, damit die Klasse sieht, daß sich der Schüler
noch öfters verschreibt oder Fehler macht als der Lehrer, und offen zugeben,
wenn man was nicht weiß. Eigentlich hätte ich sagen sollen, daß ich deswegen
in die LDP bin, weil ich überzeugt bin, daß sie, wenn sie die Macht hätte, ein
derartiges Verhör nicht durchführen lassen würde. [Vater ist übrigens auch
später nicht in die SED eingetreten, was einen ewigen Makel bedeutete.]
12.9.1949
Dieses Jahr
waren die Kinder schon viel krank. Meist Erkältungen und Ohrengeschichten.
Eigentlich ist es verwunderlich, wo jetzt die Ernährung doch so viel besser
geworden ist. D.h. markenmäßig nicht, aber wir kaufen jetzt eben wo es nur geht
Butter, Speck und Öl, sodaß man jetzt nie mehr zu den Mahlzeiten den Heißhunger
hat wie noch vor einem Jahr, wo sie sich in Offenbach nicht genug wunderten,
was ich für Riesenportionen vertilgte. [Eigenartigerweise fehlt in der Chronik
der Besuch in Offenbach, der doch ein außerordentliches Ereignis gewesen sein
muß und nach meiner Erinnerung auch nur durch einen illegalen Grenzübertritt
möglich geworden war. - Die eben
erwähnte Möglichkeit des Zukaufs von Lebensmitteln über das Markenkontingent
hinaus war durch die Einrichtung der HO-Läden gegeben, in denen diese Waren
markenfrei zu wesentlich höheren Preisen als bei den Kontingentprodukten
verkauft wurden.]
Nachwort
[des Sohns Dr. Gerd Mendrim]
Von nun an
war die schlimmste materielle Not behoben, die sich als Folge des Krieges
eingestellt hatte, weshalb ich an dieser Stelle die Chronologie beende.
Schrittweise wurde die Versorgung mit Konsumgütern besser, wenn auch keine Ware
davor gefeit war, zeitweilig knapp zu sein und die Wirtschaft bis zum Ende der
DDR eine Mangelwirtschaft blieb. Das Warensortiment war schmal, und selbst die
in der DDR produzierten Industriegüter gab es nicht in der gewünschten Menge.
Aber hungern brauchte niemand mehr. Was sich aber weiterhin verschlechterte war
der politische Druck, d.h. die geistige Vergewaltigung, die darin bestand,
dass man jede politische Maßnahme, auch wenn sie noch so sehr den eigenen
Anschauungen oder Interessen zuwider lief, nicht nur zähneknirschend dulden
musste, sondern bei Versammlungen, Konferenzen, Diskussionen, Schulungen,
Wahleinsätzen auch ausdrücklich begrüßen sollte. Lehrer und staatliche Leiter
hatten darüber hinaus die Aufgabe, die vom Politbüro der SED vorgegebene „Parteilinie“
zu propagieren, d.h. so zu erläutern, dass sie auch von den Schülern /Studenten
bzw. Angestellten verstanden und mitgetragen wurde, sei es nun ehrlich oder,
wie in den meisten Fällen, geheuchelt.
Und noch
eine abschließende Bemerkung: Unsere Kindheit bestand zum Glück nicht nur aus
Fliegeralarm, Hunger und Ährenlesen. Die durch das Thema bedingte Auswahl der
zitierten Chronik-Passagen könnte diesen Eindruck entstehen lassen. Aber die
meiste Zeit haben wir genauso unbeschwert gespielt wie heutzutage die Kinder.
Von den existentiellen Sorgen unserer Eltern haben wir ja nicht viel gemerkt.
Dank ihrer unermüdlichen Jagd nach Essbarem und hilfreichen Westpaketen waren
wir nicht unterernährt, auch wenn wir uns jahrelang nicht richtig satt essen
konnten. Dank ihres Fleißes und Organisationstalentes haben wir Fahrräder,
Dreirad, Roller, Ski, Schlittschuhe und viel selbst gebasteltes Spielzeug
gehabt, sogar ein ungewöhnlich großes Kasperletheater und eine noch aus der
Vorkriegszeit stammende elektrische Eisenbahn. Wir konnten Musikinstrumente
lernen und haben herrliche Ausflüge gemacht.
SCHLUSS
Im Text vorkommende Abkürzungen
CZ Fa. Carl Zeiss Jena
FDGB Freier Deutscher
Gewerkschaftsbund (der DDR)
Flak Fliegerabwehrkanone
GPU Sowjetischer Geheimdienst
HJ Hitlerjugend.
NS-Jugendverband
LS Luftschutz
LDP Liberal Demokratische
Partei
M Mark, bis zur
Währungsreform Reichsmark
NS Nationalsozialismus
NSDAP Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei
Pg Parteigenosse (der
NSDAP)
Pf. Pfennig,
Hundertstel der Mark
Pfd. Pfund = 0.5 kg
SA Sturmabteilung,
Gliederung der NSDAP
SS Schutzstaffel der
NSDAP
SED Sozialistische
Einheitspartei Deutschlands
Ztr. Zentner = 100 Pfd.
RB Deutsche Reichsbahn