7. Januar 2024

[Novelle] Ein Liebestraum der Wirklichkeit


OB ES AM RAND eines Sommerballs war? Oder einer Faschingsgala? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht auch beim Ausklingen eines Parkfestes, womöglich nach einem Schauspiel, am ehesten nach einer Sommertheateraufführung, ja. Fest steht, es war schon spät in der Nacht. Draußen feierten noch einige Leute oder standen einfach rum: die Nachteulen, die nicht nach Hause-gehen-Wollenden, die Mondgenießer. Musikfetzen durchwaberten die milde Luft, vereinzelt Stimmen und Lachen; mal anstoßende Gläser oder eine umfallende Flasche. Solche Sachen. Hier drinnen hörte man von all dem sehr wenig, es kamen nur sehr gedämpft Geräusche an.

Hier drinnen? Wo ist „hier drinnen“? Es ist ein dunkler Nebensaal von irgendetwas. Ein abgetrennter Bereich, unbewirtschafteter Bereich einer Gaststätte, neben dem Tanzsaal, oder ein zweiter, sehr großer Raum in einem Parkschlößchen, das vielleicht doch ein Landheim oder eine Jugendherberge ist … 

Nein, jetzt sehe ich es klarer. Es ist die Bühne eines Theaters. Oder besser die große Nebenbühne, hinter dem Vorhang. Aber wie kann ich es sehen, wo es doch vollkommen dunkel hier ist? Ja, es ist vollkommen dunkel! Und genau deswegen bin ich ja hierhergegangen. Sehr leise hergegangen. Ich wollte mich etwas von den anderen absondern, mit denen ich eben noch zusammen ausgelassen plauderte, scherzte, tanzte, rauchte und trank. Es war wunderbar beschwingt, und ja, es muß überhaupt eine milde Augustsommernacht gewesen sein. Warm war es, angenehm warm, gerade so, daß man sich selbst zu so später Stunde noch leicht bekleidet völlig wohl fühlte und auch um diese Zeit überhaupt nicht an Nachtkühle – oder überhaupt nur an irgendeine Temperatur – dachte. Denn es war genau richtig, es war, wie es sein soll, wenn alles perfekt ist.

Das Stück (denn ich bin mittlerweile sicher, es war nach einem Sommertheaterstück!) war gewiß anmutig und leichtfüßig gewesen. Doch jetzt wollte ich die heitere Aufgeräumtheit noch ein bißchen ganz für mich allein genießen. Deswegen war ich nach nebenan gegangen. Und vielleicht nicht nur deswegen. Ich hatte mich komplett ausgezogen, war völlig nackt, jetzt hier im Dunklen. Warum auch nicht? Es konnte mich ja keiner sehen, es fühlte sich so genau richtig an, und womöglich hatte ich noch irgendetwas im Sinn. Vielleicht etwas Erotisches? Vielleicht wollte ich mich auch einfach nur hinlegen. Ich war wohl nicht der einzige in dem Saal, dem Gewisper und meinem Gefühl nach suchten noch einige weitere Leute hier Stille, Dunkel- und Abgeschiedenheit. Sicherlich da und dort auch ein oder zwei Paare, sich eng umschlingend oder still küssend an eine Säule gelehnt oder auf den Kissen und Decken sitzend, die allerenden rumlagen. Irgendwo in den seitlichen Abteilungen gewiß auch ein paar Schlafende, die ausruhten oder ganz hier nächtigen wollten.

Was hatte ich mit der kleinen, markanten, dunkelgrauen Kunststofflasche voller Deodorant vor, die ich in der Hand hielt? Nun, das Naheliegende: Ich schraubte den Deckel ab und rieb mich am Oberkörper damit ein, zur Erfrischung. Rieb die nackte Haut an Schultern und Brustgürtel ein, verteilte es in den Achselhöhlen. Es tat gut, es kühlte angenehm, es duftete anregend. Ein schlichter, herber, kühlfrischer Geruch, männlich, unaufdringlich – nicht außergewöhnlich, aber deutlich. Es war ein Duft, der nichts Besonderes sein wollte. Ohne Mätzchen oder ausgefeilte Nuancen, die dieses oder jenes verheißen, die individuell sein wollen oder Extravaganz erheischen. Keine auffällige Spitzennote, kein apartes Herzbukett, nicht Ungewöhnliches im Abgang. Auch nicht unmittelbar aphrodisierend oder besondere Geheimnisse verheißend. Ein Duft, wie ihn vielleicht tausende Männer am Hemd tragen, nach dem Sport, wenn sie eben diese simple Flasche – mit dem immerhin sehr ungewöhnlichen Kopf und Auftragsspender – in die Hand bekamen.

Vorsichtig setzte ich Fuß um Fuß in der völligen Dunkelheit, leise und behutsam auftretend. Vielleicht sollte ich mich irgendwo hinsetzen? Oder doch noch ein paar einsame Schritte allein tun, und die Abgeschiedenheit genießen nach dem vorherigen Trubel?

PLÖTZLICH! AUF EINMAL! Völlig unerwartet und mit einem Schlag stoße ich mit einem anderen nackten Körper zusammen! Auf ganzer Länge! Ohne jede Vorwarnung, ohne jedes Geräusch. Rumpf an Rumpf, Gliedmaßen an Gliedmaßen, von den Beinen bis zum Hals und Kopf, fast Wange an Wange. Etwas seitlich. Geradezu ein elektrischer Schlag durchzuckt mich! Ein elektrischer Schlag vom Scheitel bis zur Sohle, der beide Körper vor dem inneren Auge wie in einem weißen Licht aufflammen läßt. Meinen Körper und jenen weiblichen, der jetzt seitlich neben, fast vor mir steht. Völlig nackt. Genauso erschrocken, genauso im Augenblick erstarrt. Wir berühren uns fast nicht, nicht mehr –  denn instinktiv sind wir beide um einen Hundertstel Millimeter zurückgewichen nach dem ersten Aufeinanderstoßen. Nur der hundertstel Millimeter trennt uns; nein, er verbindet uns. Die winzigen Härchen auf der Hautoberfläche berühren einander an den Spitzen noch, die beiden Auren  greifen noch weit ineinander. Wie zwei aufs winzigste Maß aneinander angepaßte Modellpuppen stehen wir beieinander, fast mit totalem Körperkontakt, einzig getrennt wie durch eine hauchzarte Folienmembran, einen winzigen Spalt zwischen den Gliedmaßen und dem Rumpf. Bewegungslos und starr, jeder für sich. Wade an Wade, Schenkel an Schenkel, Hüfte an Hüfte, Taille an Taille, Bauch an Bauch und Haupt an Brust. Fast wie ein anatomisches Wunder. Durch den mikroskopischen Spalt, der die Körper noch trennt, wogen gleichsam elektrische Ladungen, ich kann sie mit bloßem Auge in der Dunkelheit sehen: es sind viele dunkelblaue Spannungsblasen mit violetten Rändern, irisierend, mit winzigen gelblichweißen Blitzen auf ihrer Oberfläche. Unwirklich und magisch.

Ich weiß vom Augenblick des Zusammenstoßes an, daß der andere Körper exakt die gleichen Empfindungen hat wie ich. Den gleichen Schreck und den gleichen inneren Blitzschlag erlebt, die gleichen Gefühle für mich hegt, die blauen Ladungen zwischen uns staunend betrachtet. Daß dieser Körper für mich gemacht ist, so wie ich für ihn gemacht bin.

Ich spüre den Körper intensiv, seine unglaubliche Nähe und Angepaßtheit an meinen Körper. Ich habe keinerlei Bild vor dem inneren Auge. Kein Bild von irgendeiner Frau. Es ist bloß ein Körper, der Körper. Der absolute weibliche Körper. Warum weiblich – woher weiß ich das vom ersten Augenblick an? Ich hatte keine Brust gespürt, auch keine Weichteile touchiert. Weder den milden Duft der weiblichen Haut wahrgenommen noch einen herben Geruch des Schoßes oder der Scham. Weder auffällige Rundungen, die man allein der Weiblichkeit zurechnen konnte. Es gab keine weiche Haut, die es vielleicht hätte beim ersten Zusammenstoß verraten können. Doch es paßte alles rasierklingenscharf.

Wir stehen. Wir stehen. Wir stehen, still und bewegungslos. Wie zwei entsetzlich Erschrockene im Wald vor einem plötzlich aufgetauchten Panther, der einen starr anfunkelt aus grünen Kristallaugen. Wie zwei orgiastisch Liebende, die Angst haben, etwas am absoluten, ultimativen Moment des heftigsten inneren Erlebens, der totalen Stille-Ekstase, zu ändern, weil jede Änderung nur Abmilderung, Verschlechterung bedeutet.

Dann umschlingen die Arme verstehend den gegenseitigen Körper. Behutsam, doch gleichzeitig - wie einstudiert. Legen sich auf eine Stelle am anderen Rumpf. Ich fühle feste, kühle und trockene Haut: Handbalsam und Seelenschmeichler. Kein Atmen. Stille. Der schiere Genuß der Sinne. Ich spüre einen festen, weiblichen Körper an mir, der mir maßgeschneidert angepaßt ist. Ich sehe vor dem inneren Auge zwei weiße Gestalten: lichtdurchflutet, in der Finsternis stehend, von innen heraus leuchtend. Wie ein Schattenriß zweier Liebender, innig umschlungen, im Negativbild. Ich weiß, SIE sieht es genauso.

Wer ist SIE?

Sie ist eine Frau, die ich nicht kenne. Niemand kennt sie, und alle kennen sie. Sie hat keinen Namen. Denn sie ist anonym und ohne Persönlichkeit. Sie hat keinen konkreten Kopf, die Persönlichkeit  interessiert mich nicht. Kein Antlitz. Nicht mal Haare spüre ich oder verwende auch nur einen Gedanken daran, ob sie etwa blond sein könnte oder dunkel. Es spielt keine Rolle. Sie ist nur Körper, und zwar idealer Körper. Mein perfektes Gegenstück. 

Ich nenne sie im Geist Eva. Urbild der Frau. Urbild meiner Frau. Weiße, makellos weiße Haut glaube ich zu sehen, obwohl ich nichts sehe. Sie sieht mich auch nicht. Es ist ja absolut dunkel. Und sie hat keinen Kopf.

Doch, sie hat eine Haarfarbe. Vielleicht dunkelblond, sanft brünett; aber es spielt keine Rolle. Aber etwas anderes spielt eine große Rolle: Ich bin heilfroh, daß ich eben erst kräftig Deodorant aufgetragen habe. Es ist mein einziger Schutz, meine einzige Maske noch. Alles andere ist zu perfekt, sitzt zu perfekt. Läßt sich nicht leugnen. Die einzige Chance für mich, jemals bei Licht diese Begegnung im Dunklen zu leugnen, besteht in dem Allerweltsduft, der nicht der meine ist. Mein körpereigener Geruch, meine unmittelbare, feinste Körperaura, ist das einzige, was mir bleibt an unerkanntem Selbst. Natürlich weiß ich, wie sinnlos es wäre, diese Nachtbegegnung zu leugnen, begegnete ich dieser Frau jemals im Hellen, mit Gesicht, mit Kleidern, mit Maske und Persönlichkeit. Sie hat es ja auch gespürt, wie perfekt alles gepaßt hat, wie ein eng über die Haut gezogener Neoprenanzug, ja, geradezu makellos angeformt wie ein Kondom über dem Glied. Sie würde es sofort an meinem Blick sehen, den sie vorher nicht gesehen hat. Sie würde es spüren, sie wüßte es im gleichen Augenblick. Trotzdem! Ich brauche einen Rest an Hoffnung, eine wenigstens hauchdünne Tarnhaut, die wenigstens den uns beiden völlig unglaubwürdigen Versuch übrigläßt, dieses Treffen in Frage zu stellen. Wir wüßten selbstverständlich beide im Augenblick, daß es ein schwacher Versuch ist, eine Lüge, und würden sie doch beide respektieren. Man braucht einen Rest an individueller Freiheit. Warum? Weil man sonst nichts mehr ist, weil man sonst im anderen vollkommen aufgeht. Nichts übrigbliebe, nichts an Selbst. Das ist es.

Die Frau steht vor mir. Jetzt bewegt sie sich leicht, will sich von der Halbseite, an der wir uns so gut wie berühren, so drehen, daß wir unmittelbar voreinander zu stehen kommen. Frontal. Bauch zu Bauch. Doch da ist etwas im Wege. Sie spürt es sofort, schon bevor es ihr den Weg versperrt. Sie hält einem Moment inne, steht wieder völlig still. Still. Ja, und es ist auch um uns längst vollkommen still. Nicht das kleinste Geräusch mehr. Ob noch von irgendwoher Musik- und Gesprächsfasern herüberdringen: ich weiß es nicht. Mag sein, mag nicht sein. Dann spüre ich zwei Fingerspitzen an meinem Körper, an der besagten Stelle. Oder sind es drei, oder vier Fingerspitzen? Ganz zart, gefühlvoll, und doch nachdrücklich schieben sie die Barriere zur Seite. Dann steht sie ganz vor mir, und auf wundersame Weise ist auch keine Barriere mehr da. Alles sitzt wieder perfekt aneinander, schmiegt sich, liegt an, paßt millimetergenau. Fester Rumpf, ich kann jede einzelne Rippe unter der Haut spüren. Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich, ihr Haupt schmiegt sich perfekt in meine Halsmulde.

ES IST DIE SCHÖNSTE DUNKELHEIT, die intensivste und hellste Finsternis, die ich je erlebt habe. Die ohrenbetäubendste Stille, die je an meine Ohren drang. Und ich sehe die Frau plötzlich doch konkreter. Jetzt liegt sie vor mir ausgestreckt auf einer Chaiselongue, einem Diwan. Immer noch völlig nackt, auf ihrem Rücken, die Arme lang nach hinten hoch über den Kopf ausgestreckt, den ganzen Körper gereckt. Den Kopf weit nach hinten in den Nacken gelegt. Ich schaue auf eine makellose Kinnpartie, ahne die Nase nur, sehe keine Augen. Das Gesicht ist kaum zu erkennen aus dieser Position. Trotzdem weiß ich jetzt, wer sie ist. Sie hat einen Namen. Einen schönen weiblichen Namen, M und N kommen darin vor. Die Brüste liegen auf ihrem Torso wie kreisrunde Hügel in der Landschaft, weich, mit symmetrisch angeordneten kleinen Klippsteinen darin oder Felskuppen. Weiße, straffe Haut. Diesmal liegt sie hingeschmiegt auf das Sofa wie ein weiches Gelkissen. Ergeben – sich ergebend. Die pure Hingebung, die schiere Lust. Die schiere Lust am Frausein, die völlige Weiblichkeit.  

Ich gleite … ich gleite … ich gleite hinüber in die Wachheit. In die sogenannte Wirklichkeit. Ist es die Wirklichkeit? Ist es die Wachheit? War es doch ein Traum? Oder hat es dieses Erlebnis so gegeben, so, oder so ähnlich? Ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Ich glaube, es hat tatsächlich stattgefunden, vor geraumer Zeit, und ich habe nur Teile vergessen oder unscharf zusammengesetzt vor meinem inneren Auge. Ja, Teile entgleiten mir nach und nach, und die Ansichten davon beginnen sich sacht aufzulösen, wie Nebelschleier des feuchten Wiesengrundes am Morgen in der aufsteigenden Sonne. Zeit vergeht. Neue Bilder kommen, auch andere Frauen. Frauen mit Gesicht. Frauen mit konkretem Körper. Schöne, derbe, rundliche und schlanke, große und kleine. Blonde und Dunkle. Wie es eben kommt.

Doch ich weiß, der Nebel wird zurückkommen, die schwüle Nacht wird wiederkommen, und SIE liegt wieder an meinem Körper. Eva. Meine namenlose Eva. Vielleicht auch die schöne, blonde Frau mit dem M und dem N im Namen. Wieder und wieder. Bis in alle Unendlichkeit. Lieben werden wir uns. Lieben. Nur lieben. 


(Auszug aus "Wahr, nicht wahr? - Romaneske Erzählungen" [bevorstehend])