19. Dezember 2023

[Romanauszug] Wahr, nicht wahr? II

 

Verführerisches Blutgericht

 

Martina betrachtet das rote Miniatur-Rinnsal. Es kriecht ihre Schulter hinab. Einen halben Finger vor ihrer Nasenspitze sickert ganz langsam aus drei winzigen, mit den Augen kaum mehr sichtbaren, nadelfeinen Pünktchen nah beieinander das Blut. Sie hatte sich törichterweise einen Leberfleck aufgekratzt. Das kleine rote Sträßchen ist bereits eine Hand lang, windet sich in Mäandern über hellgebräunte Haut über winzige, unsichtbare Krater und Querrinnen. Sie bewegt die Zunge an das untere Ende und leckt den roten Pfad erneut weg.

 

Der Geschmack erinnert sie an eine Frau, die sie geliebt hat. Vor allem körperlich … In der Dampfsauna. Ihr schwarzes, wallendes Haar roch blumig, die Haut schwitzte ihren künstlichen, leicht sauren Tagesduft aus; doch am hinteren Hals, am oberen Rücken, bei den ersten deutlich hervortretenden und festen Wirbeln roch und schmeckte sie nach Blut! Sie hatte noch nie fremdes Blut gerochen. Nur ihr eigenes. Genau danach, oder zumindest sehr ähnlich, roch und schmeckte diese Frau dort. Es hatte einen kleinen Moment gedauert, bis sie die Gedankenverbindung hergestellt hatte - es war zu ungewöhnlich!

 

Sex in der Sauna: Hitze von außen, Hitze von innen. Tröpfchen von kleinem Zeh bis Schläfe, winzige Wasser- und Schweißströmchen reine Haut hinabperlend, Feuchte an allen glatten, an allen rauhen Stellen; Feuchtigkeit an allen offen und verdeckten Stellen. Feuchtigkeit überall. Dampfwolken und Waben, dicke heiße Tropfen von der Decke herniederfallend. Jenseits der beschlagenen Tür, am Ende des Nebels, leise Musik, vereinzelt Stimmen und Tritte, sich bewegende Schemen. Tropfende Scham. Quietschendes Herumrutschen auf den Sitzen aus wasserfester Plastik, knarzen. Aufeinanderklatschende Haut. Schneller werdendes Atmen, Ächzen vor hitziger Wallung, kehliges Stöhnen, gepreßt, unterdrückt, gedämpft. „Gedämpft“ – wie passend hier ... Gesichter aneinander reibend und abrutschend, Hände gleitend und mit zärtlichen Armen doch zupackend und an sich ziehend; hier küssen, dort lecken, da saugen. Milder salziger Geschmack. Beißen und gebissen werden. Mit Wange und Nasen abrutschen von überall, kaum etwas riechend. 

 

Doch! Blut. An jener Stelle, am Nacken, nur da. Eine Frau, die nach Blut riecht. Das hatte sie noch nie erlebt. Es paßte ja doch nicht zu ihr, jener jugendhaften Frau mit dem fröhlichen Lachen und dem leichten Schritt, dem Unbeschwerten und dem Leichten, der Lebensfrische und der Ausgelassenheit, dem heiteren Humor und weichen Art. Dem schlanken Körper. / Und was paßte?

 

Eines paßt, scheint mir, und ich muß darüber schmunzeln; doch meine Martina [die ich mir eben ausgedacht habe] weiß es noch nicht: Die Frau, die ihr just so süß nach Blut riecht, ist Staatsanwältin.

 

 

17. Dezember 2023

[Betrachtung] Was will ein ägyptischer Sonnenkönig im kühldiesigen Hamburg?

 Deutschlandpremiere in Hamburg. Große Tutanchamun-Ausstellung! Neu, einmalig, toll, und vor allem immersiv. Immersiv. Immersiv. So die Eigenwerbung. Immersiv heißt soviel wie eintauchen. Doch wer will schon in lauwarmes, abgestandenes Abwasser mit viel Schaum eintauchen?

                                                              Statt goldener König zu sein, bleibt der Autor
                                                              lieber weiterhin Beobachter ...


DAS PRESSEBÜRO DES VERANSTALTERS muß schon so eine Vorahnung gehabt haben, oder schlechtes Gewissen. Sie wollten mir partout keine Pressekarte geben. Besser so - für sie. Ich bin trotzdem hingegangen und habe die 22 Euro gelöhnt. Strammer Preis für so was wie eine Ausstellung. Reicht schon ans Theater. Immerhin prangt überall in der Hansestadt die stolze Werbung in Übergröße. Und? Hat es sich gelohnt? Laut der Netzseite sollte man rechtzeitig buchen, wegen praller Nachfrage, und durchaus ein bis anderthalb Stunden einplanen. Ich war nach knapp 35 Minuten wieder draußen, freiwillig übrigens. Denn was erwartet einen in den 4 Räumen: zwei kleinen, einem mittleren und einem Saal? Tiefe Stimmen, laute Streicherarrangements, bunte und bewegte Bilder, vor allem in Gelb und Gold. Ein paar Nachbau-Artefakte, die man auch im Basar von Marrakesch bekäme oder auf dem Polen-Antikmarkt. Ein paar übergroße Tafeln mit Texten, die inhaltlich gefühlt dem Wikipedia zur Sache entsprechen, nur in „leichter Sprache“. (Klar, barrierefrei ist das Ganze auch, fein.) Eine Fotobox, wo man sich, als Gimmick, als Tutanchamun abbilden lassen kann. Sogar kostenlos, das ist im Preis inkludiert. Fetzt! Uuuund, jahah, eine virtuelle Welt, dank VR-Brille und Kopfhörer, in der man mitsamt dem Pharao auf seine Reise nach dem Tod geht. Dessen Ewigkeitserfahrung dauert hier ungefähr 4 Minuten. Ja, die kommen einem schon wie eine kleine Ewigkeit vor ... Dabei wäre es doch ein sagenhaftes Thema, um Welt und Spiritualität zu verbinden – zumal am Wechsel vom zweiten zum dritten Jahrtausend! Welch eine Gelegenheit, endlich die Moral hinter der Märchengeschichte zu entdecken, statt angebliche, vertrocknete Überreste steinalter Wüstentoter anzubeten! Ägypten, das Land der Zweiheit, das Land des Materialismus, aus dem man ausziehen muß ins gelobte Land …

Nein, ich will nicht nur spotten, und schon gar nicht moralisch missionieren. Wer noch nie im 3D-Kino war oder noch nie eine VR-Brille auf der Nase hatte, den mag es beeindrucken. Einige Minuten bestimmt. Technisch gesehen wird einem schon was geboten – ungefähr das, was moderne 3D-Kinos um 2005 auch schon hatten. Virtuell beim ersten Mal grandios. Doch ohne Inhalt ermüdend nach kurzer Frist. Wenn Technikbegeisterte und Informatiker eine Show machen … [show, hebräisch: "falsch"] wenn solche Leute versuchen, mit ihrer gewiß tollen Technik eine Show zu machen, sollte man zu Hause bleiben und besser ein Buch lesen. Was soll schon dabei herauskommen? Ja, genau das, was diese Leute (und Sie wie ich) schon vor Jahren im Hollywood-Kino gesehen haben. Ergänzt durch das, was seit Neuestem bei Wikipedia steht. Nur leider steht dort eben oft ein Haufen Mist. 

BEISPIEL GEFÄLLIG? Sinngemäß aus einem Frage-Antwort-Spiel aus der Ausstellung unter dem Motto: Hätten Sie´s gewußt? Zum Beispiel, „daß Ägypter die Zahnpasta erfanden.“ (Ja, kein Fragezeichen, sondern ein Punkt. Sie hatten also nicht nur ideenlose Texter, sondern konnten sich noch nicht mal ein vernünftiges Grammatik-Korrekturprogramm leisten.) „Viele Dinge, die uns in unserem westlichen Alltag ganz selbstverständlich umgeben, stammen ursprünglich aus östlichen Kulturen. Beispielsweise  die Zahnpasta: eine ägyptische Erfindung!“ (Oha, ich war ja nach der Vorrede jetzt auf Sachsen gefaßt.) „Die Rezeptur hat sich freilich in den Jahrhunderten ein wenig verändert, denn ursprünglich bestand Zahnpasta aus Asche, Myrte, Eierschalen und Bimsstein.“ Meine lieben Freunde, sich Asche und Küchenreste plus erstbestes Kräutlein in den Mund zu schmieren, um nach dem letzten Besäufnis oder Gelage auf anderen Geschmack zu kommen: Auf den Einfall ist auch schon der homo bilzinglebensis gekommen, nur 371 000 Jahre vorher. Ich gehe jede Wette ein. Zumal der den Kaugummi in Form von Birkenpech schon vom Neandertaler übernommen hat. Beide lebten übrigens dort, wo heute Mitteldeutschland ist. Die Zahnpasta der modernen Zeit, aus Tuben, mit zahnweißen, entsäuernden und aufhellenden Effekten, stammt übrigens tatsächlich aus Sachsen. Und die Zahnbürste aus Thüringen. Hätten Sie´s gewußt?

EIN BISSCHEN GESCHICHTSWISSEN wird immerhin auch vermittelt. Da gibt es diesen vielleicht durchgeknallten, größenwahnsinnigen Führer aus dem Ägypten der alten Tage, der sich über Monate einbalsamieren und dann mit einer über 12 Kilogramm schweren Totenmaske hatte seinen Göttern übereignen lassen, statt sich beispielsweise einfach nur vorzeitig zu erschießen und anschließend schnöde mit Benzin vom Erstbesten nebenan verbrennen zu lassen … Nein, Entschuldigung, ich habe hier wohl unbotmäßig was durcheinandergebracht: Das war ja ein gottgleicher König! Dieser Tutanchamun, meine ich. Und dann dieser Howard Carter, der eben diese grandiose Monumentalstein-Krypta wiederentdeckt hat (und bei der Gelegenheit ein paar Grab-Beigaben geklaut hat, „wie damals üblich“, laut Ausstellung), ja, das war schon ein famoser Bursche. Demnach. Oder vielleicht auch nur ein egozentrischer, eitler Selbstdarsteller wie die meisten, die in typisch britischer Gentlemen-Manier anderen Völkern einiges vor der Nase wegdiplomatisiert haben? Wer weiß? Ich weiß es nicht, zugegeben, ich war damals auch nicht dabei - so wie alle anderen heute Lebenden. Aber den Bildern und seinen Aussprüchen nach, die hier angeblich teilweise sogar im Original in der Ausstellung zu hören sein sollen, wirkt er wie ein typischer Ton-Angeber der angelsächsischen Welt – der von eben dieser spricht, aber zunächst sich selbst meint. Hatte er übrigens 1923 schon ein „Magnetophon“ im ägyptischen Tal der Könige dabei? Unwahrscheinlich, das wurde erst 1935 in Berlin von AEG erstmals vorgestellt. Immerhin auch noch ein großer Koffer. Mit Netzanschluß.

Lang und gut zum Thema der Ausstellung: Bombastkitsch herrlichster Ausprägung für Plebejer. Blendwerk zum Geldverdienen. Nachwuchsbespaßung zur Unterhaltung für Unten-Haltende. RTL für Freitagabend-Fernsehverschmäher, die lieber zum Bildungsbürgertum gehören wollen. Hollywoodschmachtkino ohne Film, dafür teurer. Was also will ein ägyptischer Konig von anno Dunnemals im kühldiesigen Hamburg zum Ende der Zweitausender? Weiters Ruhm, Geld und Gold scheffeln, sogar als Toter.

 

[Collage] inTIM€~tunnel


 

12. Dezember 2023

[Romanauszug] Wahr, nicht wahr?

Über dieses (seltsame) Buch - Anmerkungen des Herausgebers

Es geschah auf einer Reise. Im Nachtzug von Berlin nach Wien. Im „EuroNight 229“ entdeckte ich die ersten Papiere. Ich war gegen halb zwölf in „Jena Paradies“ zugestiegen, als der einzige. Ich lief durch den halben Zug, und entdeckte schließlich ein einziges dunkles Abteil, in dem sich nur eine Person befand. Sie schlief. Sie schlief auf den ausgezogenen Sitzen; alle Sitze waren ausgezogen zu Liegen; sie lag auf den mittleren. Leise öffnete ich die Tür, um die Schlafende nicht zu stören. Aber sie hob gleich den Kopf und sagte ganz leise etwas, wahrscheinlich „Hallo“ oder „´Abend“ – ich verstand es nicht ganz. Ich grüßte leise zurück, und hob meinen Rucksack auf das Gepäckgitter. Dann kletterte ich vorsichtig über die Schlafende, um auf der Fensterseite zu liegen. Das Mädchen hob abermals den Kopf, und fragte mich, wo wir gerade wären, und wie spät es sei ...

 

Nach einer halben Stunde saßen wir beide, halb liegend, oder besser: lagen wir beide, halb sitzend, auf den Polstern und unterhielten uns angeregt. Die junge Dame war in Berlin zugestiegen und stammte aus der Ukraine. Sie hatte ein paar Tage eine Freundin besucht, und fuhr nun zurück zu ihrer Arbeit als Kindermädchen in der österreichischen Hauptstadt. Den Namen hatte ich lange nicht verstanden …  Lesyia, so hieß sie. Wir unterhielten uns angeregt, sie sprach ausgezeichnet deutsch, mit einem hübschen Akzent; in Nürnberg stiegen andere Reisende zu. Einige Stationen ruhten wir dann zu fünft im Abteil, dann verließen uns die Zugestiegenen wieder unter dem Hinweis, ein freies Abteil entdeckt zu haben: Unsere Unterhaltung setzte sich fort. Ich weiß nicht, warum wir die Zeit zwischendurch still gewesen waren, und nun erst wieder ins Gespräch kamen. Vielleicht war die Unterhaltung zu intim gewesen; vielleicht war aber auch einfach Müdigkeit durch die kühlen Fensterscheiben aus der Nacht hereingekrochen, und hatte sich das gleichförmige leise Geratter der Schwellenstöße zu Hilfe genommen; als die Fremden das Abteil verlassen hatten, war kurz das Licht angeschaltet worden: mag das der Grund gewesen sein für das wiederaufflammende Gespräch ... War es denn nur ein Gespräch gewesen?

 

Als das Mädchen in Wien-Hüttelsdorf ausstieg, entdeckte ich einen Moment nach der Abfahrt des Zuges die Papiere. Ich hielt sie für Unterlagen von ihr. Fast hätte ich ihr noch hinterherzurufen versucht, was natürlich völlig aussichtslos war. Sie war doch längst in der Menge verschwunden auf dem großen Bahnhof. Dann dachte ich mir: ´Das einzig Vernünftige ist, zu lesen, was drin steht – dann gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die Papiere zurückzugeben. Auch wenn es vielleicht einen Tabubruch bedeutet: Besser, jemand Anständiges wie ich liest es und tut das Richtige, als daß die Sachen jemandem anderen in die Hände fallen!´

 

Warum diese Umstände? Den zahlreichen zusammengefalteten Papierseiten, überwiegend im Viertelformat, war auf den ersten Blick anzusehen, daß sie Tagebuchaufzeichnungen darstellten. Und so war es. Aber sie stammten, wie sich später beim Lesen herausstellte, offenbar nicht von dem Mädchen. Jedenfalls dürfte das meiste nicht von ihr geschrieben worden sein. Vielleicht stammen die Aufzeichnungen, zum größeren Teil anscheinend Fragmente eines Manuskriptes, aber auch von den anderen Reisenden, die zwischendurch zugestiegen waren und uns später wieder verlassen hatten (auch diese konnte ich später nicht mehr entdecken im Zug oder an der Endhaltestelle), oder von jemand ganz anderem viel früher?

 

Seltsamerweise hatte ich fast genau eine Woche vorher, beim Radfahren längs der Leine, eine Vision gehabt, die das Ereignis fast vorwegnahm: Mir kam der Gedanke, irgendwo ein Notebook zu finden, ohne die Chance, es zurückzugeben. Was würde man tun? Wahrscheinlich mit ein wenig Schamgefühl und viel Neugier anfangen, einige der Dateien zu lesen, die darauf gespeichert sind – in der redlichen Hoffnung und Absicht, Hinweise auf den Eigentümer zu finden. Ich überlegte: Wie viele der Hunderten von Dateien auf meinem Rechner geben verwertbare Hinweise auf mich? Im richtigen, nämlich dienstlichen Ordner, beinahe jedes Dokument – per Briefkopf. Aber bei etlichen anderen Ordnern würde die Sache für mich selbst ziemlich peinlich sein können. Gedichte, Überlegungen, Tagebucheintragungen, eine ganzer Ordner namens „Künstlerischer Kram“, vergleichsweise private Briefe, seitenweise nächtliche Plaudereien mit Internetbekanntschaften, etliche Dutzend frivole Bilder aus dem Netz und nicht wenige, recht delikate von Freundinnen ... Sicherlich für einen Fremden im Ganzen eher mäßig spannend, vielleicht erheiternd bis langweilig, zum Teil unverständlich. (Und, natürlich, in vielem auch überaus anregend.) Trotzdem: Auch wenn mich derjenige weder kennen noch jemals auffinden würde – was wiederum einen üblen Verlust meiner persönlichsten Aufzeichnungen darstellte, vom Wert des Geräts abgesehen – wäre mir das äußerst unangenehm! Manches ist eben nicht für fremde Augen bestimmt! Und manches würde, mit uneingeweihten oder tagesnüchternen Augen betrachtet, völlig abstrus erscheinen; manches als naive Spinnerei, manches als politische Aberwitzgrille, nicht weniges auf völlige Abwege führen bezüglich Vermutungen über den Autor. Dabei habe ich im Allgemeinen ein durchaus ein gutes Selbstbild von mir ... Wie gesagt: Manches ist eben nicht für fremde Augen bestimmt. Für niemandes Augen.

 

Und tatsächlich! Ziemlich genau so war es. Genau so fand ich diese Aufzeichnungen. Fast genau so. Wild, verrückt, originell, geistreich. Hier überaus privat, dort völlig unverfänglich und geradezu für Dritte geschrieben. Bisweilen wie von einem Irren hingekritzelt. Dann wieder philosophisch, hochphilosophisch sogar; zum Teil abgehoben und poetisch; zum Teil Erstaunliches enthüllend, wie im ersten Kapitel [1]; manchmal einfach Gedanken runtergeschrieben wie aus dem Moment heraus, manchmal kleine Erzählungen oder Anfänge von Geschichten oder Romanen gar. Oft interessant, erstaunlich sinnig, vereinzelt politisch verfänglich. Manchmal seltsam und völlig unverständlich, und manchmal, ich muß es zugeben, verteufelt erotisch. Ganz ehrlich: Nachdem ich es gelesen hatte, hätte ich mir nicht mehr getraut, demjenigen oder derjenigen seine beziehungsweise ihre Fragmente von Angesicht zu Angesicht zurückzugeben. Ich wüßte quasi viel zu viel Privates über ihn – und ich wüßte, daß er weiß, daß ich es weiß. Peinlich. Sehr peinlich! 

 

Warum eigentlich? Ist es schlimm, durchsichtig zu sein, erkannt zu werden in seinem Innersten, sozusagen „geoffenbart“? Hm. Ich kann die Frage nicht sicher beantworten. Ich weiß, oder besser: Ich ahne nur deutlich, es wäre peinlich. Für alle Beteiligten. Gewiß, es würde mich sehr interessieren, wer derjenige ist, wie er aussieht, was er tut, und wie um aller Welt es zu dieser skurrilen Ansammlung von Ideen und Geschichten gekommen ist? Mann oder Frau, Alter, Beruf? Wo kommt er, sie her, wie lebt die Person? Ach, läppische Fragen!

Ich muß in Sachen des Inhalts auch zugeben, daß ich manches, was mich anfangs gruselte und teilsweise abstieß, im Nachhinein verstanden zu haben glaube.

 

Es gab aber noch etwas anderes, was außerordentlich merkwürdig war - gelinde gesagt! Als ich etwa die Hälfte der Dokumente durchgelesen hatte, stieß ich auf etwas, das zu dem Rest überhaupt nicht paßte. Einige Seiten stellten einen ungereimten Zeugenbericht über irgendwelche Verbergungsvorgänge dar, die offenbar im Krieg stattgefunden hatten. Der Bericht war seitens der Fakten eher dürftig, leider nicht vollständig und hatte weder einen Anfang noch ein Ende. Spannend war indes, daß er zum einen einigermaßen geheimnisvoll klang, und obendrein authentisch schien. Schon beim ersten Lesen schwante mir zudem dunkel, daß es mit diesem Textabschnitt etwas Packendes auf sich haben würde – ohne daß ich gewußt hätte, aus welchem Grund. Später nahm es mir beinah die Luft, als ich den Text zum zweiten Mal überflog, und mir plötzlich ein Wort auffiel, welches ich beim ersten Lesen völlig übersehen hatte, obwohl es gleich am Anfang stand. Und dieses einzige Wort erhellte mir sofort den Sinn des ganzen Textes, stellte ihn in einen beredten Zusammenhang, und erregte mich aufs Äußerste. Hastig fraß ich den Text erneut in mich hinein, und hätte am liebsten gleich die Taschenlampe gegriffen, eine Spitzhacke geschultert und wäre ins Westerzgebirge gefahren. Es war indes Samstag Nacht halb eins ...  Das Wort war ein Name: „Wyst“. Diesen Namen hatte ich selbst schon viele Male gehört und vereinzelt geschrieben, allerdings vor vielen, vielen Jahren. Mit dem ganzen Stoff hatte ich mich während und nach meinem Studium lange Zeit intensiv beschäftigt. Einem Stoff, der keineswegs alltäglich ist und allein für sich schon hinreichend geheimnisvoll und aufregend: Das Bernsteinzimmer und die (angeblich) verzweifelte Suche danach seit mehr einem halben Jahrhundert. Alle Spuren hatten immer wieder ins Westerzgebirge geführt, und selbst eine völlig neu ansetzende Theorie, welche alle Indizien noch mal neu untersuchte und aneinanderreihte, vieles als Unsinn entlarvte und Neues hinzufügte, etwa den Zusammenhang mit dem deutschen Hochadel, kam zu dem gleichen Schluß: Das Bernsteinzimmer wurde im Westerzgebirge versteckt, und zwar im Poppenwald bei Niederschlema.

 

Am Montag darauf rief ich zuerst bei einem der Bersteinzimmerforscher und danach bei meinem Verleger an – mit dem ich seinerzeit schon zu dem Thema eine Veröffentlichung geplant hatte (und in dessen Verlag bereits Bücher zum Thema erschienen waren). Wir wurden uns schließlich einig, daß wir die augenscheinlich neuen Erkenntnisse vorerst nicht gesondert veröffentlichen würden, mangels Substanz [2]. Es gab lediglich eine kurze Pressenotiz. Ab diesem Moment aber, wo ich die Verbindung mit dem Bernsteinzimmer schlagartig begriff, hatte ich den Eindruck, die ganzen Papiere wären exakt für mich bestimmt gewesen. Ein ebenso faszinierender wie überaus beunruhigender Eindruck! Ich bin überhaupt nicht ängstlich, ganz im Gegenteil. Auch nicht abergläubisch. Aber in dem Moment, als mich diese Erkenntnis wie eine heiße Welle augenblicklich von Kopf bis Fuß durchflutete – ja, es war in erster Linie ein Gefühl! – wurde mir schwindlig und ganz kurz dunkel vor dem Auge. Oder besser, im Auge. Seither weiß ich auch, woher der Begriff der „weichen Knie“ kommt. Es sind eigentlich mehr zitternde Knie. Es ist genau so, wie wenn man aus Übermut auf einem breiten Baumstamm über einen Fluß balancieren will, statt 15 Meter weiter oben ein Brückchen zu nehmen. Es ist eigentlich ganz leicht, der Stamm ist ja trocken und fest und breit genug, um mit beiden Füßen nebeneinander darauf stehen und laufen zu können. Die ersten fünf, sechs sicheren Schritte liegen hinter einem, man ist fast genau auf der Hälfte, und auf einem Mal kommt einem der (nun auch leicht schwankende) Stamm sehr, sehr schmal vor! Und das bös rauschende Wasser unter einem sehr weit weg! Man beobachtet sich selbst dabei, den Mund aufzureißen und einen langen, langsamen und sehr tiefen Atemzug zu machen, und dann ebenso vorsichtig und langgedehnt durch die Zähne wieder auszuatmen. Zwischen Bauch und Brust entsteht ein Vakuum, als ob jemand den inneren Raum dort zu einem großen, schwarzen Loch aufziehen würde. Wild widerstreitende Gedanken hasten um die Wette, doch einer kommt mühelos an die Spitze. Und der schreit spöttisch ins ganze Stadionrund: „Wie konnte ich eigentlich so wahnsinnig bescheuert sein, das hier zu machen?! Das ist das Dümmste, was ich je getan habe. Freiwillig, völlig ohne Not. Und deswegen, vor allem deswegen werden alle höhnisch lachen, wenn ich jämmerlich stürze. Sicher werde ich stürzen, und PLATSCH, alles naß, versaut und blutig!“ Und die Böswilligen werden mit häßlicher Fratze schreien: „Siehst Du! Ich hab´s Dir doch gesagt! Was machst Du auch für dumme Sachen, warum hörst Du nicht auf uns? Jetzt sieh selbst zu, wie Du aus dem Schlamassel wieder rauskommst!“ Natürlich, das sind bei nüchterner Betrachtung lächerliche, verzerrte Spiegelungen von Kindheitserfahrungen aus Zeiten, als pädagogisch luftgebildete Eltern über den Erfahrungshunger des Kindes spotteten. Doch der kühle Verstand fehlt in solchen Momenten, und der ganze Erinnerungsmatsch wird aufgespült in einem einzigen Moment. Eine zweite Stimme befiehlt unterdessen: „Ruhigbleiben! Es ist alles wie vorher. Du kannst zurückgehen. Oder weitergehen. Es wird nichts Schlimmes geschehen!“ Dann lacht eine dritte Stimme: „Ja, geh nur zurück. Mach Dich lächerlich. Außerdem weißt Du genau, daß es jetzt ein wirkliches Problem gibt, von dem wackligen Stämmchen und dem Wind abgesehen: Deine zitternden Knie! Sie werden dazu führen, daß Du stürzt. Stürzt! Stürzt!“


Nun, ich hatte irgendwo durch einen großen Zufall Papiere von irgend jemandem entdeckt, der sich zumindest in weiten Teilen mit genau denselben ungewöhnlichen Dingen beschäftigt zu haben schien, wie ich selbst einige Jahre zuvor! Ich stürzte in dem Moment beinahe wirklich. Es war ein dunkelvioletter Schwindel.

 

Zurück zum Text, ganz wörtlich, und der gesamten Sache: Da ich den Schreiber der Texte (es ist höchstwahrscheinlich wohl überwiegend ein Mann gewesen, trotz mehrerer, verschiedener Schriftarten; oder jemand, der sich als Mann ausgab?) oder denjenigen, der die Papiere liegengelassen hat, nicht ausfindig machen konnte, entschloß ich mich, sie als Ganzes zu veröffentlichen. Ja, ich gebe es zu, das ist ziemlich genau das Gegenteil von diskretem Umgang mit einer Sache! Aber ich habe lange darüber nachgedacht. Ein halbes Jahr lang, welches die Papiere bei der ÖBB-Fundstelle in Wien lagerten – wo ich sie zunächst ganz korrekt und meiner Neugier zuwiderlaufend abgegeben hatte, bis ich sie schließlich wiederbekam wegen Nichtabholung.

 

Erstens scheinen es mir die sonderbaren Papiere eine Veröffentlichung zu lohnen – ich meine, daß das Geschriebene vielleicht mehrere Menschen interessant finden könnten, zumal unter den vorgefundenen Umständen, und weil einige meiner Freunde beim auszugsweisen Vorlesen genauso reagierten wie ich; zweitens besteht vielleicht die geringe Möglichkeit, daß der Schreiber auf diese Weise seine zweifellos für ihn wertvollen Aufzeichnungen zurückbekommt, und sei es durch den Tip von anderen Lesern. Drittens scheint mir manches ohnehin für eine Veröffentlichung vorgesehen worden zu sein, und viertens und als wichtigstes Argument für mich habe ich mich mit meiner Freundin darüber besprochen, die das Vorhaben letztlich auch befürwortete. Und auf ihr scharfsinniges und gerechtes Urteil konnte ich mich bis jetzt immer verlassen.

 

***

 

Editorische Notiz:

 

Noch einige Hinweise zu der Anordnung der Dokumente: Das meiste war auf losen Blättern handschriftlich notiert. Manches hatte keinen Zusammenhang mit anderem. Ich habe, soweit es möglich war, die Sachen so sortiert, daß entweder ein vernünftiger Sinn entsteht, oder daß das Lesen einfach anregend ist. Die Kapitelüberschriften stammen von mir, in Absprache mit dem Verlag. Nur wenige unleserliche oder keinen Sinn ergebende Satzteile sind getilgt worden; Rechtschreibfehler wurden korrigiert, gemäß bewährter Rechtschreibung; das Dokument war größtenteils nach eben dieser geschrieben. Die Namen sind unverändert übernommen worden, weil mangels feststehendem Urheber ohnehin keine Verletzung von Persönlichkeitsrechten gegeben sein kann. Sollte jemand Hinweise auf Personen aus der Geschichte oder deren Urheber geben können, so wende er sich bitte diskret an den Verlag.

 



[1] Ich habe mich daraufhin erkundigt: An der klassischen Geschichtsschreibung bezüglich "Uta und Eckehardt" bestehen tatsächlich Zweifel. Nach einigen Recherchen stieß ich auf einen Fernsehbeitrag, der belegt, daß ein Forscher aus Belgien für Aufsehen im Zusammenhang mit den Stifterfiguren und anderen Kunstwerken sorgt. Auch die angesprochenen Irrtümer über das Bernsteinzimmer im romanhaften Teil scheinen auf wahren Grundlagen zu ruhen; ein Buch von Dietmar B. Reimann bestätigt diese Ansichten („Bernsteinzimmerkomplott – Enttarnung eines Mythos“). Bei anderen angesprochenen Dingen ließ sich nichts Näheres herausfinden.

[2] Sie sind nun doch hier, im Zusammenhang mit dem ganzen Text, zum ersten Mal vorgestellt.

10. Dezember 2023

[Enthüllung]

 

 Welterfolg mit Thüringer Plagiat

Kupfert Ex-Deep-Purple bei Medfux ab?


 

--> Hier das Medfux-Original zum Lauschen!

 

„Under a violet moon“ heißt einer der größten Hits der englischen Mittelalter-Band „Blackmore´s Night“. Die Combo von Ex-Deep-Purple Richie Blackmore füllt damit weltweit große Hallen, nicht zuletzt in Deutschland. Manche ihrer Titel tragen sogar noch deutsche Namen. Wiederentdeckte Tonaufnahmen beweisen: Alles nur geklaut. Und zwar von dem Chansonprojekt „Goldfux“ der Thüringer Agentur Medfux. Deren Werk heißt „Unter´m blauen Mond“ und war noch unveröffentlicht. „Es gab für unser Arrangement nur einige Probeaufnahmen, für die ich vor Jahren die großartige Katja d´le Thurt  gewinnen konnte“, so deren Sprecher Tobias Mindner. „Den männlichen Part sollte später Achim Reichel übernehmen. Unsere Klangskizze geriet allerdings in Vergessenheit wegen der Kompo-sition einer neuen deutschen Nationalhymne und weitere Vorhaben“. Wie Blackmore indes an das Material für sein nahezu identisches Stück kam, ist ungewiß. „Ich kann mich nicht erinnern, von den Kollegen um eine Coverversion angefragt worden zu sein.“ Rechtliche Schritte will Mindner jedoch nicht beschreiten, ihn freue der Erfolg des melodiösen Stücks: „Ich finde die englische Interpretation durch Candice Night durchaus gelungen“. Zudem sei es Medfux gewohnt, regelmäßig kopiert zu werden – nicht zuletzt von Inselmusikern. Auch ein südenglischer Liedermacher nutze etwa seit Jahrzehnten regelmäßig Klangschnipsel aus Medfux-Filmen und Videocollagen für seine Werke. „Das Management dieses Herrn Oldfield, wie er sich nennt, wollte davon angeblich nichts wissen. Sei´s drum, meine Stücke sind für alle da“, gibt sich der gebürtige Weimarer gelassen.