22. Juni 2022

[Geschichte] Große Sterne hinter kleinen Gittern

 

Es ist ein ungewöhnliche Geschichte. Es ist eine seltene Geschichte. Und es ist eine schöne Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der den größten Teil seines (täglichen) Lebens freiwillig hinter Gitter geht, ganz nach unten - im doppelten Sinn. Um dort etwas zu tun, was seine Kollegen ausschließlich am anderen Ende der Gesellschaft vollbringen, ganz oben. Warum tut er das? "Ich wollte etwas ganz Neues ausprobieren und was lernen, und dabei möglichst was Sinnvolles tun", sagt der Mann wie nebenher, ohne aufzuschauen. Das hat geklappt. Größer als der Nutzen für ihn ist der Nutzen für die unfreiwillige Gemeinschaft vor Ort. Dafür ist er dort seit Jahren Held und gefeiertes Vorbild. Es dürfte weltweit keinen Menschen geben, der so viele echte Freunde unten den harten Jungs hat. Den richtig harten.

"Nadrizdov Kompleks" heißt die ausgedehnte Justizvollzugsanstalt nördlich von Preßburg. Sie ist regulär für 970 männliche Häftlinge ausgelegt, und überwiegend ist sie ausgelastet. Deutlich kleiner angelegt im Jahr 1844 für den gleichen Zweck, zu Zeiten der Donaumonarchie: damals für 400 Personen. Nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit lang von Zigeunern als Unterkunft genutzt, ab 1930 Hilfskaserne für slowakisches Militär. Nach 1945 wieder Gefängnis, vorübergehend vollgestopft mit weit über 1000 überwiegend deutschen Männern und Frauen: die meisten kurz danach vertrieben. Einige arme Teufel blieben noch jahrzehntelang hinter den düsteren Mauern. Ab 1958 Militärgefängnis als auch reguläre JVA der Tschechoslowakei, mit großen Erweiterungsbauten endlich ab 1970. Der alte, aus Backsteinen gebaute und großteils verklinkerte Zellentrakt von 1844 steht allerdings ebenso noch wie die Verwaltungsgebäude aus Feldsteinen. Beides wurde in den späten Neunzigern saniert und wird in unseren Tagen noch immer genutzt. Die Küche, im Keller des neueren Langhauses gelegen, etwa 5 mal 15 Meter groß, ist ein lang gezogenes Rechteck: grau gekachelt bis zur Decke, fünf kleine Fensterluken auf einer Seite, vergittert wie hier alles. Vier Großwaschbecken, zwei lange Arbeitsplatten mit gewaltigen Holzbrettern als Unterlage, drei Herde, der größte achtflammig, und sechs gußeiserne Backöfen, die neben- und übereinander in die Wand eingelassen sind. Knapp unter der niedrigen Decke hängen im 2-Meter-Abstand üppige, schwarze Schalenlampen mit großen 150-Watt-Glühbirnen. Sie erinnern an die alten Reichsbahnlampen auf Bahnsteigen, und wahrscheinlich sind es auch genau solche. So sieht das bescheidene Reich von Sternekoch Jano Menkart aus, den sie hier alle "Šeffe" nennen  zu deutsch schlicht "Chefchen", aber anerkennend. Zuletzt hat er 12 Jahre in einem der besten Wiener Hotel-Restaurants gearbeitet – wo genau, soll ich nicht sagen, darum bat er mich als leitender Chefkoch. Seine Sterne-Ausbildung bekam er noch in der alten Heimat, an der halbstaatlichen slowakischen "Akademie für Küchen- und Hotelwesen" in Žilina (früher Sillein), und in der Slowakei hat er auch seine ersten Sporen verdient und Spitzensuppen gekocht, in einer Szenekneipe im Herzen Bratislavas. Sogar auf See ist er eine kurze Weile gewesen – ziemlich ungewöhnlich für einen Binnenstaatler: Unmittelbar nach seiner Lehrzeit eher ziellos für einen befreundeten Kollegen aus Travemünde einspringend, fand er sich unverhofft in Taiwan wieder, auf einem kleineren Frachter als Smutje.

Jetzt bläst keine warme, salzige Meeresbrise durch ein geöffnetes Bullauge mit blauem Himmel dahinter, und die große, weite Welt ist genauso fern wie das Duftflair der feinen Wiener Gesellschaft. Knoblauchige Kohldünste wabern durch den Keller, und durch die angekippte Glausbaustein-Luke dringt eine dünne Geruchsschwade mit Teer und verbranntem Tabak. Šeffe, der Küchenchef, hat keine 3 Hilfsköche und 4 "Schmorschurln" (gemeint sind „Bratenwender“ oder allgemein Küchengesellen) unter sich, dirigiert keine herein- und herausstolzierenden Kellner in Livree mit weißen Handschuhen. Ihm zur Seite stehen zwei halbtags angestellte, weibliche Küchen-Fachkräfte und ein Lehrling in spinatgrünen Küchenkittel sowie üblicherweise 6 Häftlinge im Anstaltsgrau mit Schürze; einer von ihnen hat schon mal als Koch gearbeitet, und ein anderer hat sich als "Kellner mit Küchenerfahrung" in diese gefragte Stellung … nun, sagen wir: selbst empfohlen. Der Rest hat irgendwas gelernt – oder gar nichts. Aber alle sind mit Feuereifer und höchster Disziplin, mittlerweile auch schon längst mit einigem Können, bei der Sache. Keiner der Männer käme auf den Gedanken, schlampig zu arbeiten oder gar seinen Küchendienst zu quittieren, bevor er entlassen wird. Und Milan, der lebenslängliche, wird für immer hier bleiben. Nicht nur, weil sie hier an der Quelle sitzen, am Fleischtrog und am Kuchenblech. Sondern weil er und die anderen hier viel lernen, weil sie Sinnvolles tun, weil manche von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Nützliches für die anderen, die Gemeinschaft, tun. Es ist auch wegen mancher kleiner Vorteile, klar. Man kann mal tauschen (etwas Backpulver zu Reinigungszwecken oder schwarzen Tee, den manche zum Rauchen nutzen). Aber in erster Linie, weil sie deswegen ungeheuer geachtet sind bei den anderen Männern da draußen. Oder vielmehr: da drinnen, aber draußen um die Küche. Die Küche mit dem Star.

Und Achtung, ja Achtung bedeutet viel im Knast. Vielleicht das meiste. In der allgemeinen Gesellschaft, wo jeder Einzelne bei aller empfundenen Gängelei und Einschnürung zumindest noch soviel Freiheit hat, daß er ungeliebten, womöglich gehaßten Mitmenschen aus dem Weg gehen kann, wenigstens zeitweise, ist Achtung eine Frage des Komforts. Eine Frage des gehätschelten Egos. Eine Frage des bequemer oder schwerer an-eine-gute Stelle-kommens oder von mehr oder weniger Trinkgeld; eine Frage des öfter oder seltener angelächelt oder bewundert werdens. Im Chládok, im Loch, wie sie es hier nennen, kann Achtung eine Frage des Überlebens sein. Nicht des seelischen Überlebens, sondern des körperlichen.

Doch der "Šeffe" wird nicht allein geachtet. Er wird hoch geschätzt, vereehrt, ja, bejubelt. Die Männer lieben ihn alle. Seit er hier ist, seit 2014, ist nicht nur das Essen um Klassen, um Längengrade, um Horizonte besser. Ach was, Essen! Feinste Speisen tischt er ihnen ja auf, allen, edle Gerichte, und bisweilen die ausgesuchtesten Köstlichkeiten an Wochenenden, wenn es die Lieferungen zulassen. Es wird mittlerweile geradezu geschlemmt in den Zellen, beinahe täglich! Früher gab es hier jahrzehntelang die übliche, magere Massenabspeisung, in der Nachkriegszeit war es schlicht Fraß. Schweinefraß. Später über Jahre Kantinenessen aus Krautsuppen, allenfalls zähem Hammelfleisch und angekeimten Kartoffeln. Vorgekochten Erbseneintopf aus Riesenbüchsen. Schlackwurst mit Senf und hartem, nicht selten angeschimmeltem Graubrot. Kohleintopf mit Schweinebauch, eine seltsam lila Fleischgrütze namens "tote Oma" (wie wohl in allen Knästen der Welt), versalzene Haluschki mit Magerquark statt Rahm (der alte Österreicher nennt es Bimsennockerln), zweimal im Jahr gesäuerten Hering und vereinzelt eine Mehlpampe, die Palatschinken hieß. Jetzt gibt es „in Butter und Schalotten geschwenkte Fettucine mit Kräutergirlande am Knusperrippchen“ oder „mild angeräucherten und zweimal gebratenen Fenchel mit Korianderkruste im eigenen Fond“ – und die Gerichte hören sich nicht nur appetitlich an, sondern sie sehen auch genau so aus und schmecken so. Natürlich, die Namen denken sich die Rühr- und Schneidhäftlinge zusammen mit dem Maitre-Boß aus, je nachdem, was Vorratskammer und Kochkünste gerade hergeben. Meist geben sie viel her. Nicht nur, daß ein so beschlagener Spitzenkoch wie Menkart „vieles aus allem zu zaubern“ vermag. „Das ja gerade macht das Kochen aus“, sagt der Meister ziemlich bodenständig, während er 52 Eier mit der linken Hand aufschlägt und trennt, in etwa anderthalb Minuten. (Natürlich, das ist für mich eine kleine Schauvorführung in praktischer Küchenkompetenz, die er allerdings bereits im zweiten Lehrjahr gelernt hat; mit der Arbeit eines Spitzenkochs hat es üblicherweise so viel zu tun wie rudern-können beim Käpitän eines Luxus-Liners.) Nicht nur, daß er den Anspruch hat, so viel wie möglich selbst und so viel wie möglich frisch zuzubereiten, und so oft wie möglich Neues, Ungekanntes und dennoch überaus Schmackhaftes zu kreieren. Nicht nur, daß er den Anspruch vor allem an sich selbst hat, sogar so große Mengen, wie sie hier nötig sind, liebevoll und immer wieder raffiniert und abwechslungsreich zu fertigen: zu pochieren, zu braten und garen und kochen und schmoren, zu dämpfen und dünsten, zu säuern und süßen, anzuflammen und abzuschwenken, anzuschwitzen und aufzuköcheln, zu flambieren und zu umrahmen, zu salzen, zu pfeffern, zu karamellisieren und aufzuschäumen. Sondern auch, daß er es mit seiner Kunst und vor allem seiner Liebe zur Arbeit geschafft hat, auch die mürrischsten und knorzigsten Schließer, Wärter und Anstaltsdirektoren (er dient nun schon beim dritten) zu überzeugen und für sich zu gewinnen. Längst bestellen sie nicht mehr von außerhalb ihre Käseschnitzel und Pizzen oder essen zu Hause. Längst bestellen sie in ihrer eigenen Anstaltsküche und erkundigen sich auch gerne schon mal vorher, was es morgen geben wird? Längst haben sie alle kapiert, daß es ihnen allen hier, Wärtern wie Knastis, in jeder Hinsicht besser geht, seit der Mann dort unten so gutes Essen kocht. Daß alle mit allen besser auskommen - man könnte schon fast sagen: harmonisch. Daß es kaum noch ernsten Streit gibt, geschweige denn handfeste Randale. Deswegen öffnen sie ihm Türen für das, was er braucht, versuchen ranzuholen, was seine Jungs in der Küche gerne hätten, finden Mittel und Wege, bisweilen sogar mal frischen Koriander oder Forellen herbeizuschaffen. Nicht bundweise oder in Pfund gemessen, sondern in (Frischhalte-)Säcken oder halb tonnenweise.

„In Wien hatte ich gedacht, ich wäre bereits ganz oben angekommen, mit 35 Jahren“, sagt Menkart und schmunzelt kopfschüttelnd, kopfschüttelnd wohl über sich selbst. „Rein äußerlich, vom Lebensstil her betrachtet, hatte ich es 20mal besser als hier. Ich habe sechs Tage die Woche gearbeitet, hatte dann jeweils 5 Tage frei, und habe gut siebenmal soviel verdient.“ Er wohnte im westlichen Zentrum der Altstadt, im Ersten Bezirk, beinahe dem vornehmsten Quartier der Habsburgermetropole. Hatte gute Freunde in der feinen Gesellschaft, der sogenannten "hautevolee", und wurde schon mal zu Empfängen bei Ministerialdirektoren eingeladen und kochte einmal exklusiv für das Königshaus Ibn Sauds, zusammen mit zwei weiteren Grand-Cuisineurs. Jetzt ist er an 25 Tagen des Monats hier im Keller, täglich von Zehn bis Acht oder Neun abends, und wohnt dann nur knapp 400 Meter außerhalb von der hohen Betonmauer, die oben doppelt stacheldrahtbekrönt ist. (Nein, nicht bekrönt, sondern bekränzt das klingt schon eher nach der beabsichtigten "Begrenzung".) Der Dauerschein der grünlichen Quecksilber-Dampflampen an der Lichtgasse vor den Betonwänden leuchtet nachts bis in seine Zweieinhalb-Zimmer-Bude. Ziemlich bescheiden, möchte man meinen. Zumal für jemanden, der sich ein schickes Chalet in den Walliser Alpen leisten könnte, einen Leuchtturm auf Sylt oder zumindest eine Villa in Kühlungsborn. Ein schlimmer Abstieg, würden die meisten sagen. „Heute ist mir klar, eigentlich war ich damals ganz unten.“ Wie bitte? „Viel Show, viel Fassaden, und nicht wenige genauso arme Würstchen wie hier. Mit einem Unterschied: Die armen Würstchen hier freuen sich riesig auf ihr Essen, sie genießen es wirklich“. Spricht´s, dreht sich mit wehender Hüftschürze um zum Rezeptblock, kritzelt einige Einfälle darauf und eilt in die Kühlkammer.

Offensichtlich ist es was anderes, was den Mann hier hält. Nicht in erster Linie die Möglichkeit, ziemlich selbstbestimmt – im Rahmen der Möglichkeiten – zu kochen, zu rühren, echte Freude mit seiner Hände Arbeit zu schaffen und sich ein bißchen als Künstler und Kauz feiern zu lassen. Vielleicht eher das: Das Wissen, daß die Kumpels, die er hier in den letzten Jahren gewonnen hat, völlig ohne großspurige Versprechungen, feine Stöffchen oder üppiges Trinkgeld, ihm eigenhändig Kohlen aus brennendem Feuer holten, wenn er sie darum bäte. Bis zu seinem Lebensende. Und, viel besser noch, daß er aus einem Ort, der für viele die Hölle auf Erden darstellt, ein Stückchen Himmel zu machen imstande ist. Oder wenigstens etliche leuchtende Sterne dranhängen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14. Juni 2022

[Gedicht] Blondes Maid

 

 

 

Aufrechtes Bekenntnis im Liegen

 

 

Rückwärts schmust mich blondes Fräulein,

vorn kraul ich die schwarze Katz;

ehrlich sag ich´s Dir, mein Schatz:

Schwerlich fand ich nie das Treusein!

 

(An diesem oder jenem Platz.)

27. April 2022

26. April 2022

[Reportage] 180 Meter unter dem Kyffhäuser!

 

Vom Geist Barbarossas und Kaiser Wilhelms Glanzstücken, vom tiefsten Burgbrunnen der Welt und dessen ungelüftetem Geheimnis. Eine Reportage aus dem ungeheuren Schlund des Kyffhäusers.

Das eherne Nationalheiligtum in der Mitte Deutschlands: Der markante und wuchtige Bau des Kyffhäuserdenkmals reckt sich 81 Meter in den Himmel, weithin ist er sichtbar. Hunderttausende standen im Lauf der letzten hundert Jahre schon oben unter der fürstlichen Krone und blickten auf die Goldene Aue hinab, fern zum Brocken hin, zur markanten Abraumhalde Hohe Linde hinüber bei Sangerhausen; auf Finne und Schmücke, zum Fernsehturm auf dem benachbarten Kulpenberg. Geradezu unsichtbar dagegen ist der sagenhafte Wasserschacht direkt nebenan auf dem Felsenplateau, der immerhin mehr als doppelt so tief ist: 180 Meter! Der tiefste Burgbrunnen der Welt. Wer traut sich da hinunter, wie wenige waren es insgesamt? Vielleicht zwei Handvoll im Laufe eines ganzen Jahrtausends? Und 180 Höhen- oder Tiefenmeter, wie stellt man sich das am besten im Vergleich vor? Das ist beispielsweise so hoch wie heute die höchsten deutschen Windräder an der Spitze ihrer Propellerblätter, oder auch fast so hoch wie die Besucherplattform des Berliner Fernsehturms! (Nur ist der unten 42 Meter breit, und der Turmschaft selbst oben immerhin noch an die 9 Meter im Durchmesser; dieser Höllenhals hier dagegen unten nur gute zwei Meter – und oben genauso. Geradezu eine Nadel!

Die eigentliche „Befahrung“ – wie der Bergmann sagt – dauert für mich nur etwa eine dreiviertel Stunde. Von der Idee dazu bis zur Tat dagegen vergingen etwa vier Jahre. Dazwischen lagen langer Atem, etliche Telefonanrufe, eine einwöchige Industrieklettererausbildung, der papierreiche Abschluß einer speziellen Berufsgenossenschaftsversicherung, eine umfängliche Haftungsfreistellungs-Erklärung und nicht zuletzt zwei alles in allem ziemlich dürre Corona-Jahre. Und wie eigentlich immer: Das alles wäre nicht nötig gewesen. Es genügt nämlich in der Praxis eines: Mut! 

Den habe ich offenbar – oder jedenfalls keine Angst. Würden Sie Angst haben, auf eine knapp einen Quadratmeter kleine, schaukelnde Aluminiumplattform mit Geländer zu steigen, die über den Brunnenrand bugsiert wird, dann an einem endlos langen Stahlseil knapp 180 Meter über der Tiefe baumelt, und dann rund 15 Minuten hinabgondelt in die geräuschtote, doch hallige Finsternis? Während oben einer am Brunnenrand mit der Fernbedienung den Kran professionell steuert (hoffentlich!), und der zweite Mann im Korb immer mal wieder mit seinen Händen das Metallgehäuse von der Wandung wegdrückt oder etwas eindreht? Während es einerseits stiller und stiller wird, weil die Außenwelt nach oben verschwindet, der Berg einen nach und nach verschluckt wie ein Riese, der sich einen guten Happen genüßlich in den Schlund gleiten läßt – und es andererseits immer mal wieder tüchtig rumpelt und poltert, wenn das schaukelnde Kabinchen oder der darunter angehängte Steinekorb an den Felsen donnernd anschlägt? Während das bißchen Tageslicht, welches überhaupt an der Brunnenhaube vorbei hineindringt, hoch droben verschwindet, und das anfangs saftiggrüne Moos rundum kärglicher wird, und bald nur noch der nackte, tote Sandsteinfelsen mit seinen roten Klüften von allen Seiten hineingafft, und unten die Tiefe gähnt?

Ach was, alles übertrieben! Die Handwerkstüftler der Erfurter Spezialfima Bennert machen das seit über 20 Jahren durchschnittlich zweimal im Jahr, alles Routine. Autokran anfahren und 18 Meter neben dem Brunnen aufstellen, Schutzgitter über dem Brunnen abschrauben und beiseite legen, eine Klappe in der Brunnenhaube entfernen, Seil durchfädeln, Plattform anhängen. Einsteigen – los geht’s! So ungefähr, so theoretisch. In Wirklichkeit kommen eine Menge Nebenhandgriffe dazu, dann das Ausbessern an manchem Schalter und manchem Draht, des Reparieren schadhafter Holzstellen, Prüfen von Leitungen, Abschleifen einiger Metallteile und mehr. Doch das alles ist ja nicht der eigentliche Zweck! Nein, es geht um etwas viel Grundlegenderes, im wahrsten Wortsinne: All die Steinchen, welche Besucher im Laufe der Saison in den Brunnen werfen, wieder hinaufzuholen! Damit der ungeheuerliche Bergrachen, der erst in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder freigelegt wurde, nicht  allmählich wieder zukieselt. Und das Ganze hat wahrhaft gründliches deutsches System: Die normierten Sandsteinmurmeln kauft der erlebnishungrige Amateurbrunnenforscher und Tourist am Automat neben dem Mundloch für einen Euro, und läßt ihn durch ein eigens dafür angebrachtes Rohr zielgenau in die Tiefe des Schachts fallen.   
 
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … etliche Sekunden vergehen, bis unten der winzige, helle Fleck verschwindet, weil die Wellen des aufschlagenden Felsbällchens die Lichtstrahlen des starken Scheinwerfers am oberen Rand brechen und in alle Richtungen verteilen. Unterdessen hat der schwindlige Hineinschauer aber das Zählen vielleicht schon vergessen, weil der hiesige Brunnengeist mit tiefer, schauriger Stimme aus der Tiefe herauf drohend poltert: „Was bewirfst Du mich, Elender? Gleich komme ich hinauf und ziehe Dir die Ohren so lang, daß Du sie als Hosenträger nutzen kannst!“. Ja, er hat schon Witz, der sprachgewaltige Wassertroll, und donnert einem auch jedesmal was anderes um die Ohren. Vieltausend Steinchen purzeln so hinab, und ebenso viele müssen dann wieder an die Oberfläche bugsiert werden. Unten haben die Bennert-Männer nämlich rundum ein Fanggitter angebracht, welches alles Hereinfallende listigerweise zur Mitte in einen unter der Wasserlinie hängenden Stahlkorb eintrichtert. Und den hängt  Frank Sieglitz, der jedesmal furchtlos in die Tiefe fahren darf (oder muß!), an seine schaukelnde Plattform. Dann geht’s wieder hoch, und der Kübel wird mühsam seitlich gekippt und ausgeschaufelt. Und nun eitel Freude auch bei den anderen beiden Beteiligten!

Auch Kranfahrer Roland Schmidt und Organisator Ralf Schwenkenbecher freuen sich jedesmal ein bißchen (freilich ohne es offen zuzugeben), denn zwischen den vielen Schmodderkieseln finden sich noch allemal etliche Handvoll kleine und mittlere Münzlein, die zu finden und zu begutachten deutlich mehr Entdeckerfreude macht, als den nebenstehenden Steinchen-Selbstverkäufer mit dem schnöden Mammon zu leeren – auch wenn Letzteres deutlicher ergiebiger ist. Und obwohl das Schwarzgeld, zumindest hier, wirklich stinkt! Nach Schlamm und Faulgasen. 
 
Aber ist vielleicht doch ein ungewöhnliches Kupferstück dabei oder ein seltener Silberling? Nein, diesmal nicht, aber dafür ein blinkender Ring. Und ein geheimnisvoll irisierender Glaskiesel. Die Aberdutzenden Centstücke, einige Groschen, Fünfziger und negriden Euros sind dagegen ziemlich unansehnlich. 

Macht nichts, die werden dann zu Hause, im Firmengelände bei Erfurt, eh noch geduscht. Oder vielmehr mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt, ebenso wie vor allem die Steinchen. Denn die guten kommen ins Töpfchen, zur Wiederverwertung und Weiternutzung. Die schlechten werden durch neue ersetzt. Immerhin sind sie tatsächlich aus echtem, roten Kyffhäusergestein.

Als der Brunnen vor 900 Jahren gegraben wurde, ging´s zweifellos beschwerlicher und vor allem langsamer zu. Waren es Profikumpel, die sich auf der Reichsburg zu Zeiten des Stauferkaisers Barbarossas händisch in die Tiefe buddelten, über 40 Jahre lang, von 1140 bis 1180? Ein ganzes Hauerleben lang also? Oder waren es vielleicht eher Zuchthäusler, die hier schuften mußten, im Schein von rußigen Kienspänen und „Fröschen“, uralten einfachen Talglämpchen, womöglich tage- oder wochenlang unten am Grund, jeden Tag ein kleines Stückchen tiefer, und die nur selten das Tageslicht wiedersahen, oder nimmermehr? Es fällt der Einbildungskraft leicht, sich üble und beängstigende Geschichten auszumalen: Auf Holzgerüsten und wackligen Leiterfahrten absteigen, 10 Stunden lang im Düstern am Grund auf Knien pickern oder schwere Steinsäcke auf dem Rücken hochbuckeln, irgendwann dazwischen einen Kanten Brot und eine Kruke Wasser. Im besten Fall dann erschöpft und müde hochkraxeln, mit je noch einer zentnerschweren Holzkiepe voller Sandsteinklamotten auf dem Rücken hinauf zum Schichtende; im schlechteren Fall unten bei Feuchte und Kühle im Dunklen übernachten müssen auf einer Handvoll Lumpen, womöglich nach Belieben und Tagesform der Schildwache? Wie viele mögen abgestürzt sein oder ihr Leben eingebüßt haben durch herabfallende Felsbrocken?

Und wie war das 1934, als der Brunnen nach jahrhundertelanger Verschüttung innert dreier Jahre mühselig erneut ausgebuddelt wurde, von den Männern beim Reichsarbeitsdienst? Knufften sie freiwillig für ein paar harte Reichsmark und vielleicht mit einer gewissen Wiederentdeckerfreude – denn immerhin kann man ja schon einiges erwarten in all dem Schutt, der in Hunderten von Burgjahren so in einem Brunnen verschwindet – oder plagten sie sich auch eher zwangsweise bei schmalem Taler und dünner Suppe? Immerhin, elektrisches Geleucht gab es da längst, und die robusten und hellen Stirnlampen der weltberühmten Zwickauer Firma „Fricke und Wolf“ leuchteten schon an etlichen Hauerhelmen – längst geradezu Sinnbild des Bergmanns, neben Schlegel und Eisen.

Trotzdem liegt hier vieles in der dunklen Tiefe der (Ge-)Schichten. Eines aber steht fest, ebenso fest wie das monumentale Bauwerk zum Ruhme des zweiten deutschen Reiches nebenan: Der Brunnen birgt heute noch, oder wieder, ein solides Geheimnis. Das Geheimnis eines Schatzes nämlich! Nein, geheim ist eigentlich weder die Sache noch der Schatz selbst: Es existiert ja sogar eine genaue Aufstellung jener Effekten, die hier zum Kriegsende „in einem zugeschnürten Stoffbeutel“ versenkt wurden aus Furcht vor plündernden Siegersoldaten. Dazu sollen unter anderem drei kostbare Jagdflinten und ebenso viele, immerhin mit Brillanten besetzte Schwerter gehören, die das seinerzeitige Staatsoberhaupt, Kaiser Wilhelm, von ausländischen Diplomaten geschenkt bekommen haben soll. Ferner tatsächlich Geschmeide und Schmuck aus purem Gold. Diese Dinge lagerten hier damals wohl bereits seit einiger Zeit, wahlweise versteckt oder auch teilweise museal ausgestellt, als „der Russe vor der Tür stand“ (mal wieder, ja, ja) – wie man so munkelt … 

Gemunkel her oder hin, versenkt wurden die Sachen, und gesucht wurde auch danach. Vor 7 Jahren erst, 2015, viele Tage lang. Großer Kran, Spezialpumpen, Wasser rauf, Männer runter, kubikmeterweise Schutt und Schlamm wieder rauf. „Wir konnten anhand der gefundenen Münzen zeitlich klar die Schlamm- und Zeitschichten einteilen“, erinnert sich Frank Sieglitz, der am Grund schaufelte und schuftete, in Wathose und Gummistiefeln. „Schließlich waren wir gerade fast in der Kriegsszeit angekommen, da wurde die Aktion gestoppt. Ich bin ziemlich sicher, nur wenig später hätten wir den Schatz gefunden!“   

Und warum wurde, beim Klabauterbergmann!, die Findungsaktion dann abgebrochen? Lag es an dem Fund einer Panzergranate, wie Sieglitz vermutet, der den finsteren Brunnen bei der Gelegenheit gute vier Meter tiefer ausgeschaufelt hat? Oder lag es daran, das den beteiligten Firmen Geld und Geduld ausgingen? Oder lag es an Unstimmigkeiten zwischen den Spezialisten für die Tiefe des Berges und einem Initiator der Schatzsuche, dem Spezialisten für die Tiefe des Ozeans: dem Meeresbiologen Professor Hans Fricke? Oder daran, daß man bereits etwas gefunden hatte – und sich damit zufrieden gab? Ein zugeschnürter Beutel wurde nämlich tatsächlich gefunden, mit einigen schmucken Dingen wie einem kleinen (Dorf-) Prinzessinnenkrönchen darin, und manch geschichtlichem Tand, der heute im Denkmalmuseum nebenan ausgestellt ist. Tand? Nun, der Beutel war dummerweise eindeutig aus Dederon, also aus robuster DDR-Synthesefaser, und die Dinge schon deswegen wasserklar nicht die eigentlich Gesuchten aus des Regenten Epoche. (Wenn, ja wenn es denn bei allen Beteiligten zu allen Zeiten mit rechten Dingen zuging. Aber wer würde dafür seine Hand schon ins Feuer legen, oder seine Füße in den kalten Brunnensumpf stellen?)

Der schwere und starke Magnet, den ich mit hinabgenommen habe, um irgend etwas herauszufischen aus möglichst alten Jahrhunderten, zieht leider auch nichts ans Licht der Taschenlampe. Herabgelassen an einer dünnen Schnur, nur wenige Meter über dem Wasserspiegel hängend, dringt er nicht durch das Edelmetallgitter und den unten vertäuten Fangkorb. Natürlich nicht. Da müßte man schon mal eine neue, wahrlich gründlichere Suche starten mit Ausbau dieser ganzen Neuzeit-Technik. Doch wer investiert dafür und für die alten, nassen Büchsen noch mal sein trockenes Pulver? Immerhin, einen anderen Schatz, der auf lange Sicht wahrscheinlich viel nützlicher ist, konnte ich dann doch mit heraufziehen. Eine gute Wasserprobe, zunächst ebenfalls an der Schnur in einer Bügelverschlußflasche weit unten eingefüllt. Ganz hervorragend ist das Tiefenwasser, wenngleich nach all dem Korb-Auf-und-Abgewühle  momentan von leicht erdigem Geschmack. Sauberes, glasklares Bergquell- oder Brunnenwasser notfalls reichlich vorrätig zu haben – ist das denn nicht gut zu wissen, für künftige Durststrecken gleich welcher Art? Oder als etwaiges Mitbringsel aus dem tiefsten Burgbrunnen der Welt, für Touristen aus aller Welt? Zweifellos mit dem guten Geist Kaiser Barbarossas wird es wohl durchtränkt sein, der doch irgendwo dort drunten im Bauch des Berges noch immer harrt auf bessere Zeiten in deutschen Landen …